Psychische Landvermessung

In Hanns-Josef Ortheils „Das Kind, das nicht fragte“ sucht ein Scheuer sich selbst und wird nicht nur vom Fruchtkörper Siziliens beglückt

-(…) mein Wis­sen ist ganz und gar intuitiv.
-In­tui­tiv?! Aber das ist ja unglaublich.
-Manch­mal weiß ich be­stimm­te Din­ge durch In­tui­ti­on. Im Deut­schen gab es in frü­he­ren Jahr­hun­der­ten da­für ein­mal das schö­ne Wort ‚Ahn­dung‘.
-‚Ahn-dunk‘? Spre­che ich es rich­tig aus?
-Per­fekt.
-‚Ahn-dunk‘, ‑das ist ein ge­hei­mes Wis­sen, das die an­de­ren nicht ha­ben? Wis­sen, an das man durch Über­le­gung nicht herankommt?
-Ja, es ist Wis­sen, das aus dem Dun­keln kommt, Dunkelwissen.“

Sel­ten hat mich ein Ro­man so zwie­ge­spal­ten zu­rück­ge­las­sen! Es han­del­te sich um mei­nen zwei­ten An­lauf, denn ich hat­te „Das Kind, das nicht frag­te“ von Hanns-Jo­sef Ort­heil schon ein­mal bei­sei­te ge­legt. Zu stark er­in­ner­ten mich die An­fangs­sze­nen und Ei­gen­hei­ten der Haupt­fi­gur an den 2011 er­schie­nen Ro­man „Lie­bes­nä­he“. Da­zu zähl­ten das Mö­bel­rü­cken in der frem­den Un­ter­kunft, das Ein­rich­ten des Schreib­plat­zes mit Stif­ten, Pa­pier und ei­nem zu Zweck und Ta­ges­zeit pas­sen­dem Ge­tränk. Ge­wohn­hei­ten, zu de­nen sich Ort­heil selbst in In­ter­views bekennt.

Ei­ne Rei­se in den Süd­os­ten Si­zi­li­ens, der Hand­lungs­re­gi­on des Ro­mans, hat mich al­ler­dings er­neut zur Lek­tü­re be­wo­gen. Um es vor­ab zu sa­gen, ich ha­be es nicht be­reut, mich aber oft gewundert.

Das Kind, das nicht frag­te“ ist ein Ro­man vol­ler Ge­gen­sät­ze, was sei­ne Hand­lung, die Art der Dar­stel­lung und die Ent­wick­lung der Haupt­fi­gur an­ge­hen. Die Ei­tel­keit des Prot­ago­nis­ten, die um­so mehr stört, als sei­ne Selbst­ein­schät­zung und sein Ver­hal­ten aus­ein­an­der­klaf­fen, steht psy­cho­lo­gisch nach­voll­zieh­ba­ren, em­pa­thi­schen Schil­de­run­gen ge­gen­über. Die­se Dis­kre­panz lös­te bei mir ne­ben Be­wun­de­rung lei­der auch hoch­ge­zo­ge­ne Au­gen­brau­en, ent­nerv­tes Stöh­nen und un­gläu­bi­ges Ge­läch­ter aus.

Wie­so wirkt der Ro­man so ei­gen­ar­tig? Liegt es dar­an, daß die Tren­nung zwi­schen Schrift­stel­ler und Fi­gur schwer­fällt? Bio­gra­phi­sche Par­al­le­len sind die Kenn­zei­chen der Ro­ma­ne Hanns-Jo­sef Ort­heils. Sei­ner per­sön­li­chen und fa­mi­liä­ren Ge­schich­te wid­me­te er sich be­reits in frü­hen Wer­ken, z.B. in „He­cke“, dem er­folg­rei­chen „Die Er­fin­dung des Le­bens“, wie in den Rei­se­bü­chern „Die Mo­sel­rei­se“, „Die Ber­lin­rei­se“, „Die Mit­tel­meer­rei­se. Auch in sei­nen fik­tio­na­len Ro­ma­nen tre­ten Haupt­fi­gu­ren auf, die den Ort­heil­le­ser ins Di­lem­ma trei­ben. Ins­be­son­de­re, wenn kurz nach dem vor­lie­gen­den in Si­zi­li­en spie­len­den Ro­man der Rei­se­be­richt „Die In­sel der Dol­ci“ er­scheint. Dar­in fin­det sich na­tür­lich kein Ein­trag zu Man­dli­ca, dem er­fun­de­nen Ort des Ro­mans, aber na­tür­lich zu des­sen Vor­bild Modica.

Nach Man­dli­ca hin­ge­gen, der fik­ti­ven Ba­rock­stadt mit be­son­de­rer Scho­ko­la­den­tra­di­ti­on, reist Ben­ja­min Merz, im wei­te­ren Ver­lauf von an­de­ren wie von sich selbst auch ger­ne Be­nia­mi­no ge­nannt. Der Un­ver­hei­ra­te­te kommt aus Köln, wo er „gleich­sam noch un­ter Auf­sicht und Kon­trol­le“ sei­ner äl­te­ren Brü­der und der ver­stor­be­nen „lie­ben El­tern“ lebt.

Trotz sei­nes mitt­le­ren Al­ters wirkt er we­sent­lich jün­ger, wie ein Kind, das sich im­mer noch nicht zu fra­gen traut. Aus­ge­rech­net die­ser Scheue ist Eth­no­lo­ge, forscht in ei­nem Ge­biet, des­sen Grund­la­ge der of­fe­ne Um­gang mit An­de­ren sein soll­te. Ge­treu dem Mot­to „Den In­dern ein In­der sein“ des Mis­sio­nars Fer­di­nand Kit­tel tut Merz al­les da­für „den  Ita­lie­nern ein Ita­lie­ner zu sein“, selbst wenn dies be­deu­tet, bei der Au­to­ver­mie­tung auf ein ita­lie­ni­sches Mo­dell zu be­stehen. Stolz lässt Ort­heil sei­nen Prot­ago­nis­ten be­mer­ken, daß er sich da­durch von den nor­ma­len Tou­ris­ten, mit de­nen er nicht ge­mein wer­den möch­te, ab­hebt. Sein Wis­sen, wie man’s macht und sein per­fek­tes Ita­lie­nisch tra­gen da­zu bei. Es stellt sich je­doch zu­gleich die Fra­ge, wie­so die­ser Sa­pu­tel­lo so an sich zwei­felt. Noch im Flug­zeug spe­ku­liert er, wo und mit wem die Flug­be­glei­te­rin­nen ih­re Nacht ver­brin­gen wer­den, und klebt als Aus­wir­kung die­ser Fan­ta­sie an der über­reich­ten Ab­schieds-Frucht fest. Da­bei hät­te der Si­zi­li­en­ken­ner ah­nen kön­nen, daß die­se Oran­ge aus Mar­zi­pan ist.

In Man­dli­ca rich­tet er sich in der Pen­si­on ei­ner Deut­schen ein, in de­ren Kü­che sich die schö­ne, scheue Schwes­ter mit ih­rem Ge­heim­nis ver­birgt. Dies ahnt der Eth­no­lo­ge, der zu­nächst die Stadt und die Ge­wohn­hei­ten ih­rer Be­woh­ner er­kun­det. Er sucht Or­te und Men­schen, um sein Pro­jekt „Die Stadt der Dol­ci“  vor­an zu brin­gen. In sei­ner Rol­le als Wis­sen­schaft­ler kann er sei­ne Scheu über­win­den. Als Eth­no­lo­ge be­herrscht er die kunst­fer­ti­ge Art des Fra­gens, um den frem­den An­de­ren ins Ge­spräch zu zie­hen. Be­hilf­lich ist ihm da­bei sei­ne In­tui­ti­on, die „Ahn­dung“. So wer­den aus den Frem­den Freun­de und aus der Frem­de ein Ort, den er nicht mehr ver­las­sen möch­te. Schließ­lich stellt sich auch das ein, was noch fehlt, um das Glück per­fekt zu ma­chen, die Liebe.

We­ni­ger per­fekt ist al­ler­dings das Le­se­glück. Die Selbst­dar­stel­lung der Fi­gur als ein „von Ahn­dun­gen durch­zuck­ter“ Men­schen­flüs­te­rer wirkt über­zo­gen und un­glaub­wür­dig. Spä­tes­tens hier droh­te der Zeit­punkt, die­ses Buch ein wei­te­res, letz­tes Mal zur Sei­te zu le­gen, hät­te Be­nia­mi­no nicht auch von Ben­ja­min er­zählt, dem Kind, dem die Mut­ter mit ei­ner Me­tho­de aus Schrei­ben und Er­zäh­len half, sein scheu­es Schwei­gen zu über­win­den. Ben­ja­min, den spä­ter auch der Va­ter zum Spre­chen über sich selbst er­mu­tig­te. Ben­ja­min, der im Beicht­stuhl ei­ne Art the­ra­peu­ti­sches Selbst­in­ter­view er­lern­te. Al­les Tech­ni­ken, die ihn präg­ten und ihm heu­te noch hel­fen. Hier er­scheint die Fi­gur au­then­tisch. In die­sen Sze­nen weckt Ort­heil In­ter­es­se und Em­pa­thie für sei­nen Prot­ago­nis­ten. Die Sym­pa­thie schwin­det je­doch, wenn Be­nia­mi­no aus­führt, was er gut und meist bes­ser kann als an­de­re. Der „Fach­mann für Dia­lo­ge“ ist ein „er­fah­re­ner Kos­ter ra­rer Ge­trän­ke“ und „ein­fühl­sa­mer Fra­ger und Zu­hö­rer“. Er weiß „Tee ge­hört zum Le­sen, kein Kaf­fee!“ und „Kaf­fee ge­hört zum Schrei­ben, kein Tee!“. Zu­dem ist er, der „plötz­lich (…) so­gar recht gut Fran­zö­sisch spricht“, im Be­sitz ei­ner „voll­kom­me­nen Hand­schrift“.

Da ver­wun­dert es schon sehr, wenn ne­ben die­sen un­er­träg­li­chen Selbst­be­weih­räu­che­run­gen  star­ke Pas­sa­gen ste­hen, in de­nen Ort­heil sei­ne Fi­gur Si­tua­tio­nen aus­setzt, die in ihr Kind­heits­mo­men­te wach­wer­den las­sen. Die­se Dar­stel­lun­gen von Emp­fin­dun­gen ge­lin­gen ganz un­ei­tel, er­in­nern fast an Proust. Mit die­sem be­rühm­ten, im Ro­man nicht ge­nann­ten Kol­le­gen ver­bin­det die Ortheil‘sche Fi­gur ei­ne star­ke Mut­ter­bin­dung. Ein an­de­rer Schrift­stel­ler, der No­bel­preis­trä­ger Sal­va­to­re Qua­si­mo­do, spielt hin­ge­gen in Ort­heils Ro­man ei­ne Rol­le. Sein Ge­burts­haus, das in Mo­di­ca be­sucht wer­den kann, ist Hand­lungs­ort wich­ti­ger Sze­nen. Zu­dem stellt Ort­heil Zei­len aus Qua­si­mo­dos Ge­dich­ten sei­nen drei Roman­tei­len voran.

Ort­heil ver­eint in sei­nem fik­ti­ven Ro­man vie­le Fa­cet­ten. Die Re­ve­ren­zen an Qua­si­mo­do oder auch an Tho­reau be­wei­sen sei­ne Lie­be zur Li­te­ra­tur, sei­ne de­tail­lier­ten Schil­de­run­gen der Or­te wer­den zu Rei­se­be­schrei­bun­gen, Spei­sen und Ge­trän­ke ver­wan­delt er in Gau­men­ge­lüs­te, so­gar Schreib­tipps gibt der Do­zent für Krea­ti­ves Schrei­ben und über al­lem liegt der bio­gra­phi­sche Be­zug. Und wie in den an­de­ren Lie­bes­ro­ma­nen des Au­tors wird auch in die­sem ei­ne idea­le Lie­be im Idyll zelebriert.

Um so mehr ver­wun­dern mich ne­ben der be­reits an­ge­spro­che­nen Un­stim­mig­keit in der Fi­gu­ren­zeich­nung, wei­te­re Un­ge­reimt­hei­ten. Wie­so ser­viert Lu­cio in sei­nem Re­stau­rant zu­nächst zwei gro­ße Fla­schen, aber spä­ter ei­ne Ka­raf­fe mit Was­ser? War­um be­herrscht Ben­ja­min die Ge­be­te noch in ih­rer ita­lie­ni­schen Fas­sung? Sprach man sie in den Köl­ner Kir­chen der fünf­zi­ger Jah­re nicht eher auf La­tein? Und gab es dort und da­mals tat­säch­lich an Os­tern den Brauch ro­he Ei­er zu ver­ste­cken? Schief bis skur­ril wirkt auch man­che Me­ta­pher, ein „Impf­stoff, der mich in wa­che Auf­merk­sam­keit ver­setzt“, „ich be­grü­ße den Frucht­kör­per Si­zi­li­ens“ oder „Das Re­den fließt nur so aus ihr her­aus, wie ein sanf­ter Strom leicht ab­ge­führ­ten und nicht all­zu kon­zen­trier­ten Urins“. Auch die Alt­her­re­nero­tik macht nicht Halt vor die­sem Ro­man. So in­ter­es­sie­ren Be­nia­mi­no nicht nur die Fei­er­abend­ge­heim­nis­se der Flug­be­glei­te­rin­nen, son­dern auch „Man­dli­ca-Des­sous (…), wie sie die jun­ge Buch­händ­le­rin viel­leicht un­ter ih­ren bun­ten und mo­tiv­rei­chen Man­dli­ca-Rö­cken trägt“.

Scha­de, daß in dem Ro­man über die Wand­lung ei­nes scheu­en Men­schen zum kom­mu­ni­ka­ti­ven „Ge­dan­ken­le­ser“ die ge­lun­ge­nen Pas­sa­gen nicht überwiegen.

Hanns-Jo­sef Ort­heil, Das Kind, das nicht frag­te, Luch­ter­hand 2012

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