Die Erfindung des Lebens von Hanns-Josef Ortheil
In Die Erfindung des Lebens erzählt Ortheil die Entwicklungsgeschichte eines Künstlers, vom wortlos aufgewachsenen Kind über das Werden eines Pianisten bis hin zu seinen schriftstellerischen Anfängen. In diesen Handlungsstrang fügen sich Passagen ein, die das Leben des gealterten Erzählers in Rom und seine Arbeit an diesem Buch schildern.
Trotz des hohen Anteils von Selbsterlebtem wird die Romanhaftigkeit dieses Buches nicht nur durch seine Genrebezeichnung, sondern vor allem durch den Titel suggeriert. Auf Lesungen, ich hatte das Vergnügen seine Buchvorstellung auf der letztjährigen Karlsruher Bücherschau mit zu erleben, und in Interviews offenbart Ortheil jedoch die hohe Authentizität des Dargestellten.
Von den Stationen seiner Biographie, die der Leser chronologisch miterlebt, beeindruckten mich die ersten Kapitel am stärksten. Zu Beginn steht die Mutter-Kind-Symbiose zwischen der durch ein Trauma verstummten Mutter und dem Jungen. Dieser übernimmt das Verhalten der Mutter und gerät durch die ausschließlich nonverbalen Möglichkeiten der Kommunikation in ein Anderssein, welches ihn von seiner Umwelt und seinen Mitmenschen vollkommen isoliert. Auch der Vater bemerkt dieses Defizit, trotz seines liebevollen Umgangs mit Frau und Sohn, zu spät. Ortheil stellt sehr präzise und nachvollziehbar die beschränkte Erlebniswelt des weitgehend in seiner Rolle als Beobachter und Lauscher gefangenen kleinen Jungen dar. Sein Verhalten wirkt fast autistisch, was durch das frühe Erwachen einer musikalischen Begabung verstärkt wird. Erst als die durch die Sprachlosigkeit hervorgerufene soziale Störung mit Eintritt in die Schule nicht mehr zu übersehen ist, entschließt sich der Vater zur Tat. Er verreist mit dem Kind für mehrere Monate in seinen Heimatort im Westerwald. Fern von Köln und der Mutter, umgeben von unbekannten, ihm aber wohl gesonnenen Verwandten, verlässt der Junge langsam und vorsichtig sein Schneckenhaus. Dies fördern besonders die langen Wanderungen mit dem Vater, der dem Sohn über die Natur die Sprachkultur erschließt. Über die Bilder kommt er zu den Worten, legt zahlreiche „Wörterbücher“ an und findet schließlich auch seine Sprache. Gleichzeitig erwacht sein kindliches Selbstbewusstsein, er wird freier und ungehemmter im Umgang mit anderen. Ein erster notwendiger Ablösungsprozess scheint geglückt.
Wenige Jahre später nach dem Abitur folgt der zweite. Eine Reise nach Rom wird sich ungeplant zu einem langen Aufenthalt in dieser Stadt ausdehnen, in die er sich wie einst Goethe und nach diesem viele andere verliebt. Und wie sein ungenannter Vorgänger verliebt er sich nicht nur in die, sondern auch in der Stadt. Diese erste Liebe zu einer Frau trägt wie sein aufgenommenes Klavierstudium zur Entwicklung seiner Identität bei und lässt ihn erwachsen werden.
Schließlich sieht sich der junge Künstler gezwungen, seine Karriere als Pianist zu beenden. Über diese weitere schmerzhafte Ablösung in seinem Leben verliert er seine Liebe und fast gleichzeitig sich selbst. Nach der Rückkehr zu den Eltern, nach zeitweiser Selbstaufgabe und Regression, wächst in ihm wieder die Entscheidungskraft für einen neuen Weg, den des Schriftstellers.
Bislang habe ich Ortheils Romane sehr gerne gelesen, aber mit diesem Buch bin ich nicht vollkommen glücklich. Nach dem ersten Teil, der seine stumme frühe Kindheit in Köln und die Symbiose mit der Mutter schildert, und den ich für den stärksten Teil des Buches halte, lässt der Roman für meinen Geschmack etwas nach. Sehr erbaulich wird die väterliche Erziehung zur Heilung geschildert. Sicherlich hat man Respekt vor der Überwindung dieses Traumas, vor der musikalischen Begabung und vor seinem schriftstellerischen Erfolg, wenn nicht so oft ein immenses Eigenlob aufscheinen würde.
Im ortheilschen Rom begegnet der Leser dem Erzähler, der sich während eines erneuten Besuchs in der Stadt an die Ereignisse erinnernd diese zu Papier bringt und gleichzeitig von seinen jetzigen Erlebnissen berichtet. Er erscheint als starker Gegensatz zu seiner Jugendfigur, ein Tausendsassa, der alles kann und sich in seiner Stadt perfekt italienisch zu verhalten weiß. Wenn man auch hier starke autobiographische Orientierung voraussetzt, so muten diese fantastischen Fertigkeiten, die sich auf Sprache, Koch- und Klavierkünste, auf Frauen- und Kinderverstehen erstrecken, doch als etwas zu perfekt an. Zunehmend störte mich, daß die „römische Atmosphäre” klischeehaft über Speisen und Getränke erzeugt wird und der Erzähler dem Leser beflissentlich mit auf den Weg gibt, zu welcher Tageszeit man einen Campari trinken darf. Ein ähnliches Muster begegnete mir übrigens kürzlich in Ortheils kleinem Büchlein Rom-Eine Ekstase. Diese Eindrücke widersprechen völlig meinem Erlebnis auf der Karlsruher Lesung. Dort wirkte Hanns-Josef Ortheil entspannt und angenehm bescheiden und entwickelte während der Antworten eine spürbare Betroffenheit.
Trotzdem las ich ihn sehr gerne, den Romanbericht über den jungen Künstler.