Literaturkreis 9/2010 — Plädoyer für Toleranz

Rassismus als Reaktion in „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee

Die­ses Buch in sei­nem ver­blass­ten blau­en Ein­band steht schon seit Jahr­zehn­ten im Buch­re­gal mei­ner El­tern. Über die Zeit sind sei­ne Sei­ten fle­ckig ge­wor­den, sein In­halt, der für Frei­heit, To­le­ranz und Ge­rech­tig­keit steht, scheint je­doch an­ge­sichts ak­tu­el­ler po­pu­lis­ti­scher Pa­ro­len le­sens­wer­ter denn je.

Die Ge­schich­te of­fen­bart zu­nächst ei­ne be­zau­bern­de Er­in­ne­rung an ein Kind­heits­idyll in May­comb, ei­nem klei­nen Ort in Ala­ba­ma. Dort le­ben zu Be­ginn der 30er Jah­re die Er­zäh­le­rin, die neun­jäh­ri­ge Scout, und ihr äl­te­rer Bru­der Jem. Mut­ter­los wer­den sie von ih­rem be­nei­dens­wert lie­be­vol­len und to­le­ran­ten Va­ter, dem Rechts­an­walt At­ti­cus Fink (im Ori­gi­nal Finch), zu Mit­mensch­lich­keit und Auf­ge­schlos­sen­heit er­zo­gen. Sie spie­len um­sorgt von der schwar­zen Haus­häl­te­rin und der Nach­bar­schaft mit ih­rem Freund Dill, be­su­chen die Schu­le, ver­üben Strei­che und ha­ben Kin­der­ge­heim­nis­se. Da­zu zählt auch die be­son­de­re, ver­bor­ge­ne Be­zie­hung zu dem zu­rück­ge­zo­gen le­ben­den Boo Rad­ley, über den die Dorf­ge­mein­schaft je­de Men­ge Klatsch- und Schau­er­ge­schich­ten zu ver­brei­ten weiß. Scouts Va­ter er­mahnt sei­ne Kin­der, die An­ders­ar­tig­keit des nie ge­se­he­nen Son­der­lings zu respektieren.

An­ders denkt auch Finch, der die Schwar­zen, die so­zi­al und räum­lich ent­fernt vom Ort woh­nen, nicht nur wie sei­ne wei­ßen Mit­bür­ger, die Far­mer und die Da­men des Mis­si­ons­krei­ses, als Ar­beits­kräf­te son­dern als Mit­men­schen sieht. Zwi­schen die­sen bei­den Sied­lun­gen des Or­tes, ne­ben der Müll­kip­pe, fris­tet ei­ne so­zi­al aus­ge­grenz­te wei­ße Fa­mi­lie ihr Le­ben. Ih­re arm­se­li­ge Be­hau­sung ist haut­far­ben­be­dingt nicht so weit von der Wohl­an­stän­dig­keit des Or­tes ent­fernt, wo­hin­ge­gen die Häu­ser der schwar­zen Ar­beits­kräf­te noch im­mer auf ei­nem an­de­ren Kon­ti­nent zu lie­gen schei­nen. Ras­sis­mus war ge­sell­schafts­fä­hig, auch im Ame­ri­ka der drei­ßi­ger Jah­re. So er­staunt es kaum, daß kein Zwei­fel er­wacht als der Schwar­ze Tom Ro­bin­son be­schul­digt wird, ei­ne Wei­ße ver­ge­wal­tigt zu ha­ben, auch wenn das mut­maß­li­che Op­fer, die Toch­ter des Müll­no­ma­den Bob Ewell, kaum glaub­wür­dig erscheint.

Es kommt zu ei­ner Ge­richts­ver­hand­lung, das Ur­teil steht beim Groß­teil der Be­völ­ke­rung wie bei den Rich­tern be­reits fest. Sün­den­bö­cke er­hal­ten, so zeigt die His­to­rie lei­der oft, sel­ten ein or­dent­li­ches Ver­fah­ren. Dass es den­noch da­zu kommt, da­für sorgt der als Pflicht­ver­tei­di­ger be­ru­fe­ne Rechts­an­walt At­ti­cus Finch, des­sen Ethik und Rechts­sinn je­doch das Un­ab­wend­ba­re nicht zu ver­hin­dern ver­mö­gen. Trotz­dem en­det der Ro­man mit ei­nem Er­eig­nis, wel­ches we­nigs­tens mit ei­nem Vor­ur­teil aufräumt.

Die­se Kind­heits­ge­schich­te spie­gelt den Ras­sis­mus der Ge­sell­schaft in den Süd­staa­ten, mehr als drei­ßig Jah­re vor der Ver­ab­schie­dung des Ci­vil Rights Act, des An­ti­dis­kri­mi­nie­rung­ge­set­zes. Sie er­scheint aber in An­be­tracht so man­ches ak­tu­el­len Best­sel­lers, der die Angst vor dem Frem­den mit po­pu­lis­ti­schen The­sen schürt, ge­ra­de heu­te wie­der not­wen­dig. Ein Plä­doy­er für To­le­ranz, dem man nicht ge­nug Le­ser wün­schen kann.

Das vor fünf­zig Jah­ren er­schie­ne­ne und 1961 mit dem Pu­lit­zer Preis aus­ge­zeich­ne­te Buch der Schrift­stel­le­rin Nel­le Har­per Lee ist als vor­bild­li­che Schul­lek­tü­re prä­de­sti­niert. Wenn man je­doch die meist ne­ga­ti­ve Wir­kung von lehr­plan­ver­ord­ne­ten Le­se­stof­fen auf pu­ber­tie­ren­de We­sen be­rück­sich­tigt, ist es viel­leicht ganz gut, daß das Buch noch bis 1998 in Tei­len der USA als Un­ter­richts­stoff um­strit­ten war. Welt­wei­te Po­pu­la­ri­tät, die sich in ho­hen Auf­la­gen und zahl­rei­chen Über­set­zun­gen zeigt, er­reich­te das Buch trotz­dem. Nicht zu­letzt durch die Hol­ly­wood-Ver­fil­mung mit Gre­go­ry Peck, der für sei­ne Rol­le als At­ti­cus Finch 1962 den Os­car er­hielt. Ge­le­sen wird der mo­der­ne Klas­si­ker im­mer noch, wie Chi­ca­go im Jahr 2001 mit der Ak­ti­on „Ei­ne Stadt liest ein Buch“ und nicht zu­letzt der Östrin­ger Li­te­ra­tur­kreis un­ter Be­weis stellen.

Mon­ro­e­ville, das May­comb des Ro­mans, ist durch die jähr­li­che Thea­ter­auf­füh­rung der Mo­cking­bird Play­ers ein Ziel der Li­te­ra­tur­tou­ris­ten und im­mer noch der Wohn­ort der Au­torin. Man wird sie je­doch we­der auf Le­sun­gen noch zu Si­gnier­stun­den an­tref­fen. Der Grund für den Rück­zug Har­per Lees scheint in ih­rer be­son­de­ren Be­zie­hung zu Tru­man Ca­po­te zu lie­gen. Sie wa­ren in ih­rer Kind­heit Spiel- und Schreib­ge­fähr­ten und ver­fass­ten Selbst­aus­ge­dach­tes auf ei­ner al­ten Schreib­ma­schi­ne. Als „Wer die Nach­ti­gall stört“ er­schien, gab Tru­man in ei­nem Brief den Hin­weis, daß er dar­in als Dill auf­tau­che. Ein Jahr spä­ter ge­wann Har­per Lee den Pu­lit­zer-Preis. Es ent­stan­den Ge­rüch­te, daß Tei­le des Bu­ches von Ca­po­te stam­men wür­den, wo­zu die­ser je­doch nie ein­deu­tig Stel­lung be­zog. Die Schrift­stel­ler­freund­schaft war durch­aus durch Zu­sam­men­ar­beit ge­prägt. Lee un­ter­stütz­te Ca­po­te 1959 bei den Re­cher­chen und In­ter­views zu des­sen 1965 er­schie­ne­nen Ro­man „Kalt­blü­tig“. Die la­ko­ni­sche Wid­mung in die­sem Buch führ­te an­geb­lich, da sie Lees An­teil an der Ar­beit nicht ge­nü­gend wür­dig­te, zum Bruch in der Beziehung.

Lee schrieb zwar ei­ni­ge Kurz­ge­schich­ten, aber kein wei­te­res Buch und gibt bis heu­te kei­ne In­ter­views. Sie lebt zu­rück­ge­zo­gen wie Boo Rad­ley in ih­rem El­tern­haus in Alabama.

Kurzgeschichten:

Love-In Other Words (1961)

Christ­mas To Me (1961)

When Child­ren Dis­co­ver Ame­ri­ca (1965)

Ro­mance and High Ad­ven­ture (1985)

Bio­gra­phi­sches:

Charles J. Shields, Mockingbird

Alex­an­dra La­vi­z­za­ri, Glanz und Schat­ten. Tru­man Ca­po­te und Har­per Lee — ei­ne Freundschaft

Zeitungsartikel:

Wie Tru­man Ca­po­te nei­disch wur­de auf Har­per Lee, Die Welt,10.7.10

Es war ein­mal in Ala­ba­ma von To­bi­as Rüt­her, FAZ, 11.7.10

Wer die Nach­ti­gall stört von Bea­tri­ce Uer­lings, NZZ-Ar­ti­kel 10.9.10

2 Gedanken zu „Literaturkreis 9/2010 — Plädoyer für Toleranz“

  1. Ach, mir kom­men gleich die Trä­nen, wenn ich an die­ses wun­der­vol­le Buch den­ke. Es steht auch bei mir im Bü­cher­re­gal und ich lie­be es. Lei­der be­sit­ze ich nur ei­ne Ta­schen­buch­aus­ga­be, die im wahrs­ten Sin­ne aus dem Leim fällt, lang, lang ist’s her. Wie­vie­le Ma­le ich den Film ge­se­hen ha­be, weiss ich nicht. Es ist heu­te noch et­was vom Bes­ten, was in Hol­ly­wood je pro­du­ziert wur­de. Die Li­te­ra­tur­ver­fil­mung ist hier mehr als gelungen.

    Die­ses Buch ha­be ich zur glei­chen Zeit im Le­se­zir­kel vor­ge­schla­gen wie „Hun­de­herz”, was wahr­schein­lich ein Feh­ler war. Es bie­tet nach wie vor viel Diskussionsstoff.

    Viel­leicht ist es gut, dass Har­per Lee nur die­sen ei­nen Ro­man ver­öf­fent­licht hat, so ist und bleibt er ihr bester 😉

    Vie­len Dank auch für die Links. Die Ar­ti­kel wer­de ich mir noch an­schau­en. Ich ken­ne die Ge­schich­te der Be­zie­hung von Lee/Capote, trotz­dem bin ich auch heu­te noch be­gie­rig auf Le­se­stoff von und über die bei­den gross­ar­ti­gen Autoren.

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