In „Bestseller“ untersucht Jörg Magenau die meist verkauften Titel in Deutschland und versucht eine Soziologie ihrer Leser
„Die Bestsellerliste aber sagt nichts aus über die Qualität der Bücher, dafür umso mehr über die vorherrschenden Vorlieben im Land. Und manchmal ist sie eine Art Fieberthermometer, an dem sich öffentliche Überreizungen ablesen lassen.“
Was treibt einen Literaturexperten dazu, ein Buch über Bestseller vorzulegen? Bestseller, das sind doch die Dinger, die in Buchhandelsfilialen bunt aufgetürmt Aufmerksamkeit suchen und Literatur bestenfalls als Randerscheinung dulden?
Doch wie gelangen diese Titel auf die wöchentlichen Listen in Spiegel, Focus und anderswo? Was ist ein Bestseller? Welche Rolle spielen seine Leser? Welche das Marketing? Dies sind die Wechselwirkungen zwischen Leserbedürfnissen und Buchmarkt, denen Jörg Magenau in seinem „Bestseller“ auf den Grund geht.
Aufschlussreich und amüsant analysiert er, daß ein Bestseller nicht nur das ist, was alle kaufen, und meistens auch lesen, sondern, daß die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen diesen Prozess entscheidend beeinflussen. Einen Überblick darüber, was sich am häufigsten in den Regalen der deutschen Leser seit ’45 findet, verzeichnet er in einer Liste am Ende des Buchs. Es macht Spaß diese noch vor der Lektüre durchzugehen. Was hat man gelesen, was fand man gut, was fürchterlich, was stand in der Bibliothek der Eltern, was kennt man nur vom Hörensagen? Wenn ich mich nach Bayards Kriterien richte, so sind mir nur wenige der knapp 120 Titel völlig fremd. Dies zeigt, Bestseller sind und waren omnipräsent.
Magenau durchdringt das Phänomen Bestseller mit Hilfe verschiedener Ansätze. Er blickt zum Beispiel auf den Ersten Satz. Besitzt dieser die Kraft, den Leser in das Buch zu ziehen, mag es zum Erfolg führen. Manchmal liegt dieser auch ganz einfach am Erscheinungsdatum. In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik war es bereits hilfreich ein Buch in den Wochen vor Weihnachten zu publizieren. An die Zeit und den jeweiligen Geschmack gebunden waren auch die Themen der Bestseller. So suchten die Leser nach Kriegsende andere Stoffe als in späteren Jahren. Sie lasen Romane, die von den zurückliegenden Erfahrungen erzählten, oder tauchten in ferne Welten abseits ihrer Erinnerungen.
Diese Erkenntnisse veranschaulichen die von Magenau gewählten Titel. Wissenswertes und nicht minder Unterhaltsames bindet er in seine Untersuchung ein, die dadurch nie zur trockenen Lektüre gerät, sondern manche Anekdote bereithält. Dazu zählt die ungeheuerliche Entstehungsgeschichte des Longsellers „Götter, Gräber und Gelehrte“, der die Neugier auf Archäologie entfacht, Wissen vermittelt und gleichzeitig den Wunsch nach Eskapismus bedient. Sein Verfasser, Kurt W. Marek, Verlagsmitarbeiter und Lektor bei Rowohlt, würfelte seinen Namen zum amerikanisch klingenden Pseudonym, lektorierte den eigenen Text und schloss einen fairen Vertrag mit sich selbst. Vom Erfolg, den sein Sachbuch bis in die ferne Zukunft haben wird, ahnte er nichts.
Auch die Frage nach dem psychologischen Potential von Bestsellern stellt Magenau. Handelt es sich bei den meist verkauften Büchern um Kunst, so bewirken sie Veränderungen sobald man sich auf sie einlässt. Wie Magenau von einem Verschmelzen des Lesers mit der Welt des Autors zu sprechen, geht vielleicht etwas zu weit. Aber jeder Leser hat Anteil an der kreativen Phantasie des Schriftstellers, zumindest auf Zeit.
Dies, so Magenau, gilt jedoch nicht für alle „von Wanderhuren und Muschelsuchern durchschrittenen Seichtgebiete“. Dennoch zeigen diese Wirkung. Sie schenken das Gemeinschaftserlebnis der geteilten Lektüreerfahrung und bieten Gesprächsstoff im privaten Kreis, im Netz, in Feuilleton und Fernsehen. Selbst in Sendungen, wie dem Schweizer Literaturclub, dem neuen Literarischen Quartett oder der SWR-Kritikerrunde, diskutieren die Kritiker bisweilen abseits der hohen Literatur. So fand der Erzählzyklus Elena Ferrantes sowohl im Literaturclub wie auch im Quartett Beachtung. Im Letztgenannten allerdings unter negativen Vorzeichen, da Maxim Biller das Buch vorschlug, weil er den Hype um die Freundinnen-Saga hasste. Hype ist bei diesem Beispiel wohlgewählt. Selten habe ich einen Roman erlebt, der derart beworben wurde. Weit vor seinem Erscheinen drohten mir zahlreiche Botschaften das Ferrante-Fieber an. Das Beispiel zeigt, wie Bestseller mit Hilfe einer gut funktionierenden Marketing-Maschine gemacht werden. Selbst nachdem alle Bände der genialen Ferrante erschienen waren, drängen weitere ähnliche Titel auf den Markt.
Solche Trittbrett-Titel hat auch Magenau im Visier. Literarische Moden werden von Autoren als Schreibanregung gerne aufgegriffen, ebenso wie gesellschaftliche Stimmungen. Am Beispiel Sarrazins zeigt Magenau diese Wirkmechanismen. Hier wie bei allen seinen Thesen dient ihm ein besonderer Titel als Exempel, das er kenntnisreich und mit bisweilen erfrischend ironischem Unterton präsentiert. Er greift dabei auf Untersuchungen anderer zurück, die ein Literaturverzeichnis im Anhang aufführt. Magenau legt mit „Bestseller“ einen fundierten wie unterhaltsamen Abriss dieser Buchgattung vor, den er durch neue Aspekte anreichert.