Tausendundeine birmanische Erbaulichkeit serviert von Jan-Philipp Sendker — Literaturkreis 2/2011
Ich dachte ja schon alles hinter mir zu haben seit den einst im Französischunterricht zwangsweise verordneten Weisheiten eines gewissen kleinen Prinzen und den Naivitäten eines bezopften Bestselleresoterikers. Aber, so würden mir die Adepten dieser Verkünder zurufen, die Prüfungen hören niemals auf! Folglich erwartete mich im aktuellen Buch unseres Literaturkreises eine neue Herausforderung. „Das Herzenhören“, dieser Titel klang in meinen Ohren bereits verdächtig rührselig, auch das hellblau apricotfarbene, eine gewisse Süßlichkeit ausstrahlende Cover und der aliterarische Goldmann-Verlag trugen nicht gerade erheblich zur Zuversicht bei.
Der Klappentext kündigt eine Geschichte voller Wunder und Weisheiten an, die Suche nach der Vergangenheit des Vaters und dem Geheimnis der ewigen Liebe. Dieses Geheimnis trägt als Spannungsbogen die gesamte Handlung.
Ein älterer Mann birmanischer Herkunft verschwindet aus seiner gesicherten amerikanischen Existenz als Rechtsanwalt. Die verlassene Ehefrau und die beiden Kinder bleiben voller Fragen zurück und erwägen erst gar nicht die Möglichkeit, daß der Vermisste vielleicht in seine Heimat zurückgekehrt sein könnte. Ein mögliches Motiv war sehr wohl bekannt. Seine Ehefrau hatte bereits kurz nach der Hochzeit seine Liebesbriefe an eine Frau aus dem Dorf ihres Mannes entdeckt. Auf den Gedanken dieser Spur nach zu gehen, kommt die erwachsene Tochter jedoch erst etliche Jahre später. Sie reist nach Birma und trifft an ihrem Ziel auf einen alten Mann, der sie zu kennen scheint und ihr häppchenweise die Lösung des Rätsels präsentiert. Auf dem Weg dahin erfährt auch die wenig ergriffene Leserin von den zahlreichen Lebensdramen des Helden.
Unter einem unguten Stern geboren, verliert er als Kind seine Sehkraft und wird schließlich von einer traumatisierten, depressiven Mutter auf einem Baumstamm sitzen gelassen. Dort harrt der arme Bub bis sich schließlich eine weitere Ausgestoßene seiner annimmt. Diese sorgt für seine Ausbildung in einer Klosterschule, die von einem nicht minder gebeutelten Mönch geleitet wird. Jener hatte sich in seiner Jugend unstandesgemäß in eine Hausangestellte verliebt, woraufhin sein Vater das schwangere Mädchen und dessen Mutter, die Hausköchin, in einem Dienstverhältnis in Bangkok unterbrachte. Der Mönch in spe machte sich auf eine lange Suche, die letztlich zum Tod der Angebeteten führte. Erst Jahre später erfährt er, daß er sich damals im Hafen von Bangkok nicht getäuscht hatte, als er meinte seinen Namen zu hören, und daß ihn auch seine Beobachtung einer Ertrinkenden nicht trog. Eine tragische Geschichte, die vielleicht die Moral beinhaltet, daß es nichts bringt, selbst die Initiative zu ergreifen und sich gar gegen sein Schicksal aufzulehnen.
Nach dieser Maxime handelt unser Held als er von seiner großen Liebe durch die Willkür des reichen Onkels getrennt wird. Die Frau seines Lebens fand er in seinem Dorf, durch eine Missbildung der Füße unfähig zu gehen, ergänzten die Beiden sich gemäß dem alten Topos des Blinden und des Lahmen. Als der junge Mann durch die astrologisch verordnete Onkelwohltätigkeit operativ seine Augenlicht wieder erhält, eine gute Schulausbildung erfährt und sogar zum Studium in den Westen geschickt wird, ergibt er sich in die Trennung von seiner Liebe. Diese besteht jedoch allen Widrigkeiten zum Trotz weiterhin.
Unterbrochen von Befindlichkeitsmeldungen der jungen Amerikanerin bilden diese Erzählungen des weisen Alten den Kern des Romans. Der Leser taucht in die bunte Botanik Birmas ein, voller Gerüche, die mal süßlich, mal schwer, aber auf jeden Fall exotisch sind. Schließlich befinden wir uns in Burma, Birma, Myanmar, wo, wie jeder weiß, die Fliegen zu Tausenden auf den Keksen sitzen (S. 9) und Rühreier nur verbrannt serviert werden (S. 51), selbst den Einheimischen bekommt die hygieneferne Zubereitung dieser Kost nicht immer (S.149). Trotzdem ist alles schön und wunderbar in dem Naturidyll des kleinen Bergdorfes Kalew. Da nimmt man schon mal Unglücksfälle und schwere Geburten demütig hin. Im Zweifel steht das Können eines Astrologen zur Verfügung, doch der macht die Sache meist nicht besser. So begegnen uns auf den rund 300 Seiten des Buches vier tote Kinder, drei früh verstorbene Ehefrauen und eben so viele Männerleichen, zwei Kinder werden verlassen und drei Liebespaare brutal auseinandergerissen. Das unbarmherzige Schicksal wartet an jeder Ecke und besonders darauf vom südostasiatischen Menschen gleichmütig angenommen zu werden.
Da uns Westlern dies nie gelingt, darum lesen wir dieses Buch. Auf daß wir nicht mehr abwesend aneinander vorbei laufen (S. 17) und bequem unseren niederen Instinkten frönen (S. 23), sondern zu einer ungeahnten Herzenstiefe finden. Auf daß, selbst wenn wir schon seit Jahrzehnten von unserem Liebsten getrennt sein sollten, dank des Bewusstseins der unzerstörbaren Liebe unsere innere Schönheit derart auf die äußere abfärben möge, daß Verehrer „sterben wollten in der Hoffnung, im nächsten Leben als Schwein, Huhn oder Hund auf die Welt zu kommen und eines (unserer) Haustiere zu werden“ (S. 259). Das ist für mich, die ich dieses Ziel wahrlich nie erreichen werde, der beste Satz in dieser Geschichte.
Einer Geschichte, die altbekannte Pseudoweisheiten von inneren Werten und äußerem Schein, von asiatischer Gelassenheit und westlicher Hektik, von Glauben und Wundern, mit alten Parabeln und Märchenmotiven zu einem klebrig süßen Brei rührt, auf dem in Birma tausendundeine Fliege sitzen würde. Oder auch irgendwo anderes, denn selbst die Kulisse der birmanischen Landschaft wird nicht so gezeichnet, wie man es von dem weitgereisten Südostasienkorrespondenten Sendker erwarten könnte, alles bleibt im Klischee. Diese erbauliche Mär von der Macht der Liebe hätte genauso gut im Mittelalter oder auf dem Mars, in der Sahara oder am Ufer des Rio Piedra spielen können.
Der Blinde und der Lahme
Von ungefähr muß einen Blinden
Ein Lahmer auf der Straße finden,
Und jener hofft schon freudenvoll,
Daß ihn der andre leiten soll.
Dir, spricht der Lahme, beizustehn?
Ich armer Mann kann selbst nicht gehn;
Doch scheints, daß du zu einer Last
Noch sehr gesunde Schultern hast.
Entschließe dich, mich fortzutragen:
So will ich dir die Stege sagen:
So wird dein starker Fuß mein Bein,
Mein helles Auges deines sein.
Der Lahme hängt mit seiner Krücken
Sich auf des Blinden breiten Rücken.
Vereint wirkt also dieses Paar,
Was einzeln keinem möglich war.
Du hast das nicht, was andre haben,
Und andern mangeln deine Gaben;
Aus dieser Unvollkommenheit
Entspringet die Geselligkeit.
Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,
Die die die Natur für mich erwählte:
So würd er nur für sich allein,
Und nicht für mich, bekümmert sein.
Beschwer die Götter nicht mit Klagen!
Der Vorteil, den sie dir versagen
Und jenem schenken, wird gemein,
Wir dürfen nur gesellig sein.
-Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769)-