In „Man kann auch in die Höhe fallen“ erzählt Joachim Meyerhoff von der magischen Macht seiner Mutter
„Was für ein Spektakel, dachte ich, Milch, Blut, Regen, Donner, Plazenta und Blitze, Mutterglück, neues Leben und ein nasser Mann Mitte fünfzig.“
Dieser Satz, der gegen Ende von Joachim Meyerhoffs neuem Roman fällt, komprimiert den Inhalt auf wunderbare Weise. Als Protagonisten tauchen ein Mann Mitte fünfzig und seine Mutter ebenso auf wie das Theater, dessen Spektakel Meyerhoff als Anekdoten voll Blitz und Donner inszeniert, um mit Milch, Blut und Plazenta, eine besondere lebenslange Verbindung zu feiern. Sie gilt in „Man kann auch in die Höhe fallen“, dem sechsten Teil der Familienroman-Reihe „Alle Toten fliegen hoch“ in besonderem Maße Meyerhoffs Mutter wie seiner eigenen Rolle als Sohn und als Vater.
Mit seinen Berufen, vielleicht sollte man besser von Berufungen sprechen, hadert er allerdings ebenso wie mit der deutschen Hauptstadt, die nach den Jahren in Wien zum neuen Wohnort wurde. Er möchte weg von Berlin und von seinem Business. Seine Schauspielerei stellt er ebenso in Frage wie das Schreiben, das ihm mit seinen autobiographischen Romanen bislang stets Erfolge beschert hat. Alles zerrt an ihm. Er fühlt sich gleichzeitig gestresst und gelähmt.
„Ohne wirklich zu begreifen, wie es dazu gekommen war, war ich zu einem Nervenbündel geworden, dessen Unausgeglichenheit für die mir nahestehenden Menschen mehr und mehr zur Zumutung wurde. (…) Angst und Langeweile vertrugen sich ganz ausgezeichnet. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass man wochenlang auf der faulen Haut liegen und derart entspannt vor sich hin implodieren konnte. Die auf dem Sofa verbrachten Stunden nahmen bizarre Formen an, und oft wusste ich nicht mehr, wo ich aufhörte und die Couch begann. Wie ein geschmolzener Käse war ich in jede Ritze des Sofas hineingeflossen, hatte das Sitzmöbel mit mir selbst überbacken. Und doch wollte ich meine Verstimmtheit nicht Depression nennen oder gar Midlifecrisis, denn es waren ja handfeste Probleme, die ich hatte. Seit Wochen hatte ich nichts geschrieben, und das, obwohl sich in meinem Kopf die Geschichten tummelten. Berlin allerdings entpuppte sich als Säurebad, das tagtäglich meine Inspiration zerfraß.“
Vielleicht vermag eine Flucht den Knoten lösen? Der Erzähler entscheidet sich für nichts Geringeres als die Weltflucht, die ihn aus der hektischen Großstadt in einen Frau-Holle-Garten führt. Inmitten von Apfelbäumen unweit der Ostsee lebt seine Mutter in diesem Reetdach-Idyll. Als alte, aber agile Herrin gebietet sie über ihr Reich der Pflanzen, Äpfel und Rasenmäher. Betritt man ihre Sphäre, akzeptiert man ihre Macht. Ein Einfluss, von dem der Sohn Heilung erhofft, Hilfe bei dem Weg zu sich selbst. Dazu verordnet er sich die folgende „Kur“, „jeden Tag vier Stunden schreiben, von neun bis eins, Mittagspause und dann drei Stunden Gartenarbeit auf dem riesigen Grundstück, anschließend eine Stunde laufen oder schwimmen, totaler Handyentzug, Whisky trinken und lesen.“
Er beginnt zu schreiben und findet allmählich wieder zu seiner Form. Literarisch ist dies die Anekdote, in der Meyerhoff gekonnt seine Erinnerungen und Emotionen verpackt, und die seine Leser schätzen. „Müde und ausgelaugt vom Besteigen literarischer Achttausender kann man sich hier erfrischen.“ Kapitelweise strukturieren die Anekdoten den Aufbau des Romans und benennen die Themen. Neben den Mutter-Geschichten, wie „Mutter isst“, „Mutter mäht“ oder „Mutter taucht“, finden sich solche über das Theater oder über die Familie. Sie führen von Berliner Katastrophen zum Zusammensein mit der Mutter, um von dort in Erinnerungen abzutauchen.
Die höchste Anzahl haben die Mutterkapitel. Meyerhoff charakterisiert die eigensinnige Frau als von „nie erlöschender Emsigkeit“, die sich um alles und jeden kümmert. Sie schätzt die reinigende Kraft des Feuers, singt gegen Schädlinge an und „kann sich blitzartig verwandeln“. Wenn der Sohn eindrücklich schildert, wie sie im farbenfrohen Flauschmantel auf dem Rasenmäher zum Teich fährt, denkt die Leserin unweigerlich an eine Zauberin, die auf ihrem Besen dahinfliegt. Da wundert es kaum, daß sie zwar nicht über Wasser, aber über Matsch schweben kann, furchtlos die raue See durchschwimmt, auf Bäume und Dächer klettert. Der Sohn liebt die magische Macht seiner Mutter. Ins Pathetische versinkt er dabei nie.
Davor bewahren ihn die Anekdoten aus dem Theater, die zugleich ein Mittel der Selbstvergewisserung sind. Es findet sich historisch Interessantes über die Sauna des Gorki-Theaters aus vergangenen DDR-Zeiten und Amüsantes über fürchterliche Bühnen-Versprecher oder eine fast fatale Fahrstuhl-Panne. Wir lesen von den Mühen eines alternden Luftgeistes und lachen über die klamaukigen Leiden eines Barbier-Besuchers.
Ernster und tiefer sind seine Erinnerungen an die Vergangenheit, die weit zurückliegenden der eigenen Kindheit und die jüngsten aus Berlin. In ihnen scheint sich der Kern zu verbergen, nach dem der Erzähler und der ihm biographisch nahe Autor suchen. Es sind die Spuren seiner Erinnerung, die tief in die Familiengeschichte und damit auch zu ihm führen.
Manchmal erklärt der Autor allerdings zu viel und unterschätzt seine Leser, die wissen, worauf der Titel „Scham und Bühne“ anspielt und die auch ohne lange Erklärung verstehen, was die Kunst des kindlichen Steinespringens mit den Methoden seines Schreibens verbindet.
In ihrer Originalität allerdings bestechen die Geschichten Meyerhoffs ebenso wie seine Sprache, in der „Tunnelbewohner sopranisiert“ und Pfannkuchen „aus zig gespitzen Teigmündern pfeifen“ und mit der er Bilder erschafft, deren skurriler Aberwitz laut lachen lässt. „Der schwarzlila dräuende Himmel, spannungsgeladen und bereit zu platzen, wölbte sich wie ein entzündeter Bauch der Erde entgegen.“ Wie überhaupt so vieles in diesem äußerst vergnüglichen Buch.