Willkommen im Auenland“

Markus Thielemann erzählt in „Von Norden rollt ein Donner” auf spannende Weise über die Ambivalenz eines vermeintlichen Idylls

Un­ten drän­gen sich die Tie­re an­ein­an­der. He­ra und Kasch, die bei­den Hüte­hun­de, um­krei­sen den Pulk. Jan­nes blickt hin­un­ter, die Be­we­gun­gen er­in­nern ihn an Bil­der aus ei­ner Do­ku­men­ta­ti­on über den Welt­raum. Wie Mon­de oder Pla­ne­ten krei­sen sie um die Her­de, das Zen­trum des Alls. Und dann schweift er ab: er hat sei­nen ei­ge­nen dunk­len Wan­de­rer, ei­nen Ge­dan­ken, der seit Ta­gen kommt und geht auf el­lip­ti­scher Bahn, des­sen Gra­vi­ta­ti­on drückt und lähmt, bis ihn die Flieh­kraft ein­mal mehr zu­rück in die Nacht schleu­dert: Pa­pa geht zum Arzt.“

Die Welt, in der Jan­nes kreist, ist ei­ne be­grenz­te. Es ist die Hei­de süd­lich von Lü­ne­burg, in der er mit den Schnu­cken des Fa­mi­li­en­be­triebs um­her­zieht. Fa­mi­lie und Tra­di­ti­on ma­chen ihn zum Schä­fer in die­ser ver­meint­lich idyl­li­schen Land­schaft. Ei­ne Su­che nach der ei­ge­nen Iden­ti­tät, wie sie sei­ne Al­ters­ge­nos­sen un­ter­neh­men, ist un­ter die­sen Um­stän­den nicht nur nicht nö­tig, son­dern un­mög­lich. Das Le­ben scheint vor­ge­zeich­net für den 19-jäh­ri­gen Prot­ago­nis­ten in „Von Nor­den rollt ein Don­ner“, dem zwei­ten und für den dies­jäh­ri­gen Deut­schen Buch­preis no­mi­nier­ten Ro­man des jun­gen Au­tors Mar­kus Thie­le­mann.

Auch wenn der Ti­tel, wie die ört­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten und der Ver­lauf der Ge­schich­te zei­gen, in dop­pel­ter Wei­se deut­bar ist, er­zeugt er zu­nächst ei­nen star­ken Be­zug zur Na­tur. Die Na­tur be­stimmt den Be­ruf des Schä­fers, in­dem sie mit Wet­ter und Jah­res­zei­ten den Rhyth­mus dik­tiert. Jan­nes und sei­ne Her­de sind ab­hän­gig von der Flo­ra, dem Ge­dei­hen der Fut­ter­pflan­zen, wie von der Fau­na, die sich im Wohl der Schnu­cken und im Ge­schick der Hüte­hun­de of­fen­bart und mit dem Wolf de­ren Ha­bi­tat be­droht. Jan­nes ist ihm schon bei­na­he be­geg­net. „Der Bo­den in der Sen­ke ist feucht und von Klau­en­spu­ren ver­tre­ten. Er be­trach­tet das Ge­wirr im Sand zu lan­ge und ent­deckt et­was, das ihn be­un­ru­higt: Ab­drü­cke, die nicht von den Klau­en der Schnu­cken stam­men, son­dern von Pfoten.“

Nicht nur dies be­rei­tet dem Fa­mi­li­en­be­trieb Un­bill, der vom knap­pen Ver­dienst ei­nen teu­ren Zaun ge­gen das Raub­tier er­rich­ten muss. Jan­nes‘ Ad­op­tiv-Va­ter be­lau­ert all­nächt­lich das Tier, nicht drau­ßen, son­dern in den Fo­ren, die Sich­tun­gen und Spu­ren mel­den. Sein Ver­hal­ten lei­det dar­un­ter. „Wie sein Va­ter ver­gisst, dass er die Tie­re ge­zählt hat, wie er es im­mer wie­der tut, wie er Zah­len aus­lässt, wie er wahn­sin­nig wird, weil es nie auf­geht, wie in sei­nem In­ne­ren der Ge­dan­ke gärt, dass ein Tier fehlt. Was dann pas­siert, hat Jan­nes erst zwei­mal mit­er­lebt. Sein Va­ter ver­wan­delt sich zu ei­nem an­de­ren Mann. Er wird her­risch, mit wild auf­ge­ris­se­nen Au­gen und zu lau­ter Stim­me. Als wür­de sein Kör­per je­de Angst so­fort in Wut um­wan­deln.“ Oder hat dies doch neu­ro­lo­gi­sche Grün­de? Dar­über spricht man nicht in die­ser vier­köp­fi­gen Fa­mi­lie, die mit Groß­va­ter und Mut­ter auch sämt­li­che Be­triebs­mit­ar­bei­ter um­fasst. Die Groß­mutter lebt seit Jah­ren de­ment im Heim, Jan­nes‘ Schwes­ter ihr ei­ge­nes Le­ben in der Ferne.

Jan­nes bleibt. Es gibt Mo­men­te, in de­nen er die Ar­beit mit den Scha­fen, das Drau­ßen­sein, die Na­tur, die Stil­le schätzt. Aber oft ge­nug, wenn er, nach ei­nem lan­gen Tag mit der Her­de selbst wie ei­nes die­ser Tie­re riecht, fühlt er sich wie „der an­ge­bun­de­ne Bock, der hier am Ran­de sei­ner Wei­de steht und nicht wei­ter­kann“. Der Ver­lust sei­ner Ju­gend, dem der sei­ner Freun­de zu fol­gen droht, bricht sich auf ei­ner Dorf-Par­ty Bahn. Jan­nes fällt in ei­nen psy­chi­schen Aus­nah­me­zu­stand, ver­ur­sacht durch Al­ko­hol und mehr noch durch Druck. Die­se An­fäl­le, in de­nen sein Be­wusst­sein von Vi­sio­nen über­la­gert wird, häu­fen sich. Sie kon­fron­tie­ren ihn mit Ge­scheh­nis­sen, die schließ­lich zu der Na­zi-Ver­gan­gen­heit sei­ner Groß­el­tern füh­ren. Die­se ist ver­knüpft mit der Ge­schich­te der Lü­ne­bur­ger Hei­de, zum Idyll ver­klärt von Her­mann Löns und in­stru­men­ta­li­siert durch die Na­zis. Die­se lie­ßen nicht nur durch Groß­grund­be­sit­zer die­se ver­meint­lich „ur­deut­sche“ Land­schaft öko­no­misch ge­winn­brin­gend prä­gen. Sie er­rich­te­ten mit­ten in ih­rem Idyll Ver­nich­tungs­la­ger wie Ber­gen-Bel­sen. Ei­ne Am­bi­va­lenz, die der Ro­man auch in den ak­tu­el­len Ge­ge­ben­hei­ten spie­gelt. Wan­de­rer su­chen na­tur­ver­bun­de­ne Hei­de-Ro­man­tik, wäh­rend von den nah­ge­le­ge­nen Trup­pen­übungs­plät­zen der Ge­fechts­don­ner grollt. Und seit neu­es­ten macht sich nicht nur der Wolf in die­ser dünn be­sie­del­ten Ge­gend breit, son­dern auch Neo­na­zis und Reichsbürger.

Thie­le­mann dringt im Lau­fe sei­nes Ro­mans von der Ge­gen­wart in die Ver­gan­gen­heit vor und deckt auf die­se Wei­se Hin­ter­grün­de auf, die sich oft als Ge­gen­sät­ze ent­pup­pen. Er nutzt da­bei das Mit­tel der wir­ren Er­in­ne­run­gen, die in den Re­den der de­men­ten Groß­mutter eben­so zu Ta­ge tre­ten wie in den Vi­sio­nen ih­res En­kels. Mit dem Fort­schrei­ten der Ge­schich­te ge­win­nen sie je­doch zu­neh­mend an Klar­heit. So grün­det der ehr­wür­di­ge Fa­mi­li­en­be­trieb auf der Un­tat des Groß­va­ters, das deut­sche Hei­de-Idyll auf der Ver­klä­rung des völ­kisch-na­tio­na­lis­ti­schen Dich­ters Löns. Die Fa­mi­li­en­tra­di­ti­on kon­ter­ka­riert die Zu­kunft der Haupt­fi­gur, die in den Ar­beits­la­gern pro­du­zier­te Welt­kriegs-Mu­ni­ti­on die der heu­te dort statt­fin­den­den Trup­pen­übun­gen. Der Wolf hin­ge­gen bricht eben­so wie sein mensch­li­ches Pen­dant, der Neo­na­zi-Nach­bar, als mah­nen­des Grau­en in das Ge­sche­hen. „Ho­mo ho­mi­ni lu­pus est“ zeigt sich in den Schuld- und Ver­drän­gungs­mo­ti­ven die­ses Ro­mans wie­der ein­mal zu Recht.

Thie­le­mann ge­lingt es die­se schwe­ren The­men mit ei­ner sen­si­blen Sen­so­rik zu er­zäh­len. Die­se macht sich nicht nur in de­tail- wie stim­mungs­rei­chen Na­tur­be­schrei­bun­gen be­merk­bar, son­dern auch in der Art, wie er mit Mit­teln der Spra­che Tö­ne, Ge­rü­che, Ge­schmä­cker und Emp­fin­dun­gen zum Le­ben er­weckt. „Wäh­rend er sich vom Stall ent­fernt, ver­schwin­det der Ma­schi­nen­duft von Rost und Schwer­öl aus sei­ner Na­se, weicht dem her­ben Ge­ruch des Jauchetanks und des Mist­hau­fens, auf dem sich fei­ne Dampf­fä­den kräu­seln, bis hin­ter Jan­nes die Stall­be­leuch­tung wie­der aus­geht. Wei­ter Rich­tung Wohn­haus hängt ein Hauch Zwie­bel im Hof, ver­mischt mit ge­düns­te­ter But­ter. Das Es­sen sei­ner Mut­ter, denkt er.“

Wäh­rend dies ganz klar zum Aus­druck kommt, bleibt an­de­res be­wusst im Un­ge­fäh­ren. Aus Angst und fal­scher Rück­sicht­nah­me spricht in die­ser Fa­mi­lie kei­ner über die Krank­heit des Va­ters, über die Ver­gan­gen­heit, über die wirt­schaft­li­che Not des Be­triebs, letzt­lich über ih­rer al­ler Zu­kunft. Die­se Un­ein­deu­tig­keit und ih­re Über­tra­gung auf den Wolf als äu­ße­res Un­heil, das sie ver­eint, ver­leiht dem Ro­man ei­ne ste­te Grund­span­nung, die Thie­le­mann durch die mys­te­riö­sen Zu­stän­de der Haupt­fi­gur zu ver­stär­ken weiß. Jan­nes‘ An­fäl­le ho­len die Ver­gan­gen­heit in die Ge­gen­wart und klä­ren die Ver­hält­nis­se auf.
„Er hat sich nie be­wußt ge­macht, wie bruch­stück­haft er sei­ne Groß­el­tern kennt.“

Markus Thielemann, Von Norden rollt ein Donner, C. H. Beck Verlag 2024

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