Muttimania

Frühe Störung — Hans-Ulrich Treichels ironische Analyse einer ambivalenten Beziehung

frühe störungIch hät­te mich in un­end­li­che Ge­dan­ken­spie­le ver­stri­cken kön­nen, muss­te aber ir­gend­wann ein­se­hen, dass das Kern­pro­blem die­ses gan­zen in­ne­ren Hin und Her mei­ne Mut­ter war. Die Fer­ne, nach der ich mich sehn­te, war vor al­lem die Mut­ter­fer­ne. Und die Fer­ne, vor der ich mich fürch­te­te, war die­sel­be Mutterferne.“

Die Mut­ter­bin­dung ist bei Neu­ge­bo­re­nen es­sen­ti­ell, sie ga­ran­tiert das Über­le­ben. Der Mensch, von Na­tur aus kein Nest­flücht­ling, löst sich erst all­mäh­lich dar­aus um mit be­gin­nen­der Ado­les­zenz ein selbst­be­stimm­tes Le­ben zu führen.

Doch Be­zie­hun­gen sind stör­an­fäl­lig, be­son­ders die zwi­schen Mut­ter und Sohn. Sie lei­den nicht sel­ten an zu viel In­nig­keit und zu we­nig Distanz.

Ob Mam­mo­ne oder Mut­ter­söhn­chen, je­der kennt sol­che Fäl­le. In sei­nem neu­en Ro­man „Frü­he Stö­rung er­teilt Hans-Ul­rich Trei­chel ei­nem sol­chen das Wort. Franz Wal­ter, Aka­de­mi­ker mit dem pre­kä­ren Be­ruf des Rei­se­schrift­stel­lers, wohnt längst nicht mehr bei sei­ner Mut­ter. Den­noch kommt er nicht von ihr los. Um ih­re All­ge­gen­wart in sei­nem Kopf los­zu­wer­den be­gibt er sich in ei­ne Psy­cho­ana­ly­se. Die­se ist be­en­det, die Mut­ter nach mehr­fa­cher Ope­ra­ti­on dem Krebs er­le­gen, und doch ist sie im­mer noch da. „Mut­ter, Mut­ter, Mut­ter“ oder schlicht „Franz“ tönt es im Hirn des Zu­rück­ge­blie­be­nen und er­in­nert ihn an die Mut­ter und an den ver­geb­li­chen Ver­such Di­stanz zu erlangen.

Sei­ne Er­in­ne­rung führt in die Pra­xis des Ana­ly­ti­kers, dort liegt Franz ganz klas­sisch auf der Couch, wäh­rend der The­ra­peut dem stän­di­gen Mut­ter­ge­re­de aus­ge­setzt ist, jah­re­lang, die Ver­län­ge­run­gen be­wil­lig­te die Kas­se stets oh­ne Murren.

Die Mut­ter, ein­zi­ge Be­zugs­per­son in sei­ner Kind­heit, ga­ran­tiert ihm auch jetzt noch sein Aus­kom­men. Als Aka­de­mi­ker oh­ne fes­te An­stel­lung lebt er vom Er­be. Zu sei­nem früh­ver­sto­be­nen Va­ter hat­te Franz ei­ne eher lo­se Be­zie­hung, zur Mut­ter ei­ne di­stanz­lo­se. Bei sei­nen Spie­len im Win­ter­gar­ten war er stets in Sicht- und Schrei­wei­te, die al­ler­größ­te Be­drän­gung aber schuf die ge­mein­sa­me Mit­tags­ru­he in der en­gen Mutterwärme.

Wie die Kind­heit ging auch der ge­mein­sa­me Mit­tags­schlaf zu En­de, doch selbst die ei­ge­ne Woh­nung ver­hilft Franz nicht zur Frei­heit. Er war „zu­min­dest im land­läu­fi­gen Sinn, im­mer ein gu­ter Sohn ge­we­sen. Man brauch­te ihn nur zu ru­fen, den gu­ten Sohn, und schon kam er an­ge­rannt. Das war auch spä­ter noch so, als ich er­wach­sen war. Mei­ne Mut­ter rief und ich kam an­ge­rannt.“ Frus­triert er­kennt er die Aus­weg­lo­sig­keit. Den Wunsch sich zu ent­zie­hen, er­füllt er sich mit kur­zen Rei­sen, die er aus­ge­rech­net dann an­tritt, wenn die krebs­kran­ke Mut­ter ihn drin­gend be­nö­ti­gen würde.

Der Sohn aber er­kun­det Rom, wo nicht nur die Pie­tà und die säu­gen­de Wöl­fin, son­dern zahl­rei­che schö­ne Müt­ter, die un­ter den Bäu­men der Vil­la Borg­he­se ih­ren Säug­lin­gen die Brust rei­chen,  sein Ge­wis­sen quälen.

Wäh­rend ei­nes er­neu­ten Kran­ken­haus­auf­ent­halts sei­ner Mut­ter reist er so­gar nach Kal­kut­ta. Seit­dem er ei­nen Bild­band im War­te­zim­mer des Ana­ly­ti­kers ent­deckt hat­te, träumt er von die­sem Ziel. Ein bei­lie­gen­des Re­zept schien es ihm gleich­sam zu ver­ord­nen. Doch die Ver­drän­gung funk­tio­niert nicht, da­für sor­gen die kin­der­fres­sen­de Göt­tin Ka­li, Mut­ter Te­re­sa und sei­ne Fremdenführerin.

Müt­ter all über­all fin­den sich in die­sem iro­ni­schen Ro­man voll skur­ri­ler Sze­nen, die Trei­chel in sei­nen Ge­dan­ken­spa­zier­gän­gen ab­schrei­tet. In ei­nem der schöns­ten weist der Rüs­sel des ele­fan­ten­ge­stal­ti­gen Ga­ne­sha über die Gra­nit­scha­le vor dem Al­ten Mu­se­um zu Freuds Sphinx, des­sen Ödi­pus­idee und den blau­en Zun­gen sei­ner Chow-Chows, die Franz schmerz­lich dar­an er­in­nern, daß ihm nicht mal ein Ku­schel­tier ver­gönnt war.

Ich ha­be mich sehr amü­siert mit die­sem klei­nen Ro­man vol­ler Mut­ter-Va­ria­tio­nen. Be­son­ders über die Sze­ne, in der die Mut­ti-Mi­nis­te­rin den ar­men Franz in ih­rer Dat­scha mit Pflau­men­ku­chen drang­sa­liert, um ihn an­schlie­ßend sei­nem Würst­chen-Da­sein zu über­las­sen. Noch hilf­lo­ser aus­ge­lie­fert wirkt er nur, wenn sei­ne Mut­ter ihm im Chris­tus­ges­tus ihr Wund­mal weist.

Man müss­te das Schick­sal die­ses Mut­ter­söhn­chen be­dau­ern, wenn es nicht so amü­sie­ren würde.

Hans-Ul­rich Trei­chel, Frü­he Stö­rung, Suhr­kamp Ver­lag, 1. Aufl. 2014

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