Manche Lektüre scheint schwierig, soll aber doch gelesen werden. „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ von Haruki Murakami ist ein solcher Fall. Nicht, daß ich dies schon genau wüsste. Wie auch, er liegt ja noch fast ungelesen vor mir. Das muss sich ändern. Nach und nach werde ich nun jeden Tag ein kleines Sushi-Murakami kosten.
1. Kapitel
Tsukuru Tazaki denkt an den Tod. Abgesehen von der schönen Alliteration, die im Original sicher nicht gilt und darum sofort wieder vergessen werden muss, ist das natürlich ein famoser Romaneinstieg. Der Leser sollte sich allerdings nicht beunruhigen. Kein Harakiri oder Harakiriähnliches wird folgen, auch wenn dieser Schritt „so leicht für ihn gewesen wäre, wie ein rohes Ei zu schlucken“.
Komischer Vergleich, ein rohes Ei hat immerhin eine Schale, und das berühmte noch vor Jahrzehnten wegen der Schönheit geschluckte Ei im Glas löst heutzutage nicht nur bei Veganern einen Schauder aus. Nun gut, andere Länder, andere Metaphern.
Warum bringt der Held sich eigentlich nicht um? Weil das Buch dann nach einer halben Seite zu Ende wäre! Der Erzähler bietet eine andere Erklärung: „Vielleicht war seine Sehnsucht nach dem Tod zu wahrhaftig und zu tief, um tatsächlich den Versuch zu machen, sich umzubringen“. Er wüsste auch gar nicht auf welche Weise, lesen wir, dabei entnehmen wir der anschließenden Charakterisierung dieser Figur, daß Tsukuru ein großer Fan des Eisenbahnwesens ist. Bahnhöfe, Brücken, Lokomotiven, Gleise, Schnellzüge. Das Naheliegende übersieht der Mensch leider gerne.
Herr Tazaki denkt auch ein bisschen verquer. Wäre er gestorben, so glaubt er, würde die Welt nicht mehr existieren und „ohne die Existenz der Welt wäre das, was jetzt als Realität erscheine, keine Realität mehr. So wie die Welt für ihn nicht mehr existieren würde, würde auch er für die Welt nicht mehr existieren.“ Da schlägt die Logik Purzelbäume.
Schnell weiter, der junge Tazaki hatte also eine Depression, er fühlte sich wie Jonas im Wal, erledigte dennoch die wichtigen Dinge während sich regelmäßig „der schwarze Schlund der Verzweiflung auf (tat), der bis in die Tiefen der Erde reichte“.
Schuld daran waren seine vier besten Freunde, die plötzlich und ohne Erklärung nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten. Der Leser befindet sich auf Seite sechs, in diesem Roman schlägt das Schicksal schnell zu. Wir kennen die Hauptperson und sein Hauptproblem. Wie er, wollen wir wissen, wie es sich löst.
Tsukuru Tazaki denkt in Tokio an den Tod. Von der Heimat entfernt, von den Freunden verlassen. Während den Helden „Tag und Nacht komplizierte Botschaften“ erreichen, begegnet der Leser den verräterischen Freunden. Er erfährt wie die drei Jungen und zwei Mädchen dicke Freunde wurden und was dicke Freunde so tun. Wandern, Tennis spielen, Baden, Reden. Zudem engagieren sie sich gemeinsam bei einem sozialen Projekt. Aber eines haben sie nicht, Sex. Eine wie auch immer geartete Paarbildung vermeiden sie. Auf keinen Fall sollte einer von ihnen übrig bleiben.
Allerdings deuten Omina diese Entwicklung an, — ja, wir sind immer noch im ersten Kapitel. Vier der Freunde tragen Namen, die Farben zum Bestandteil haben, nur Tazaki bleibt blass. Die anderen stellt uns der Autor der Reihe nach geordnet vor.
Aka/Rot ist von kleiner Statur, intelligent, aber bescheiden und sehr reizbar. Eine bizarre Mischung von Charaktereigenschaften.
Ao/Blau ist ein Ass im Sport und in den restlichen Fächern, wie das Klischee es will, ein Versager. Sein heiteres Gemüt lässt es ihn ertragen. Niemals redet er schlecht über andere. Sein Motto lautet „Im richtigen Leben kann man auch nicht immer gewinnen. Manchmal gewinnt man, und manchmal verliert man eben.“
Shiro/Weiß ist die Schlanke, Schöne, Schüchterne. Sie spielt Klavier und mit Tieren, weshalb sie Tierärztin werden will.
Kuro/Schwarz gleicht ihr unscheinbares Äußeres durch ein lebhaftes Wesen aus. In Geisteswissenschaften brilliert, in Naturwissenschaften scheitert sie. „Sie war eine unermüdliche Leserin und hatte ständig ein Buch in der Hand“.
Nur Tsukuru Tazaki, den sein Spiegelbild langweilt, der sich mittelmäßig und farblos fühlt, hat weder besonderes Talent noch Fähigkeiten, beklagt der Erzähler. Er widerlegt sich jedoch sofort selbst, und schildert ausführlich Tsukurus Faible für Bahnhöfe.
Der unsichere Tsukuru fragt sich, warum er von den anderen aufgenommen wurde. „Für ihre Unternehmungen mussten sie eben genau fünf sein“, so lautet zunächst die Erklärung, die wenige Seiten später relativiert wird. „Hatten nicht alle fünf Zeit, trafen sie sich natürlich auch zu dritt oder zu zweit“. Nie zu viert?
Dies alles erzählt der 36jährige Tsukuru im Rückblick Sara Kimoto, einer Frau, die in einem Reisebüro arbeitet, und nicht nur deswegen seine neue Liebe werden wird. Er spürt dies auch an einer speziellen Stelle am Rücken, durch die „in seinem Inneren eine Substanz freigesetzt und über die Blutbahn in jeden Winkel seines Körpers transportiert (wird), die ihn zugleich körperlich und geistig erregte.“ Warum blieb diese beim Freundesverrat stumm?
„Mitunter fand Tsukuru ja sogar selbst, dass mit ihm einiges nicht stimmte.“
Das gilt auch für dieses erste Romankapitel. Schematisch und voller Klischees führt Murakami seine Figuren und das Motiv ein. Verschwurbelte Gedankengänge erzeugen unlogische Schlüsse. Omina dräuen unheilschwanger. Am auffälligsten ist jedoch die Redundanz, alles wird wieder und wieder wiederholt. So lesen wir im dritten Satz nach der oben zitierten Funktionsbeschreibung des magischen Rücken-Auges. „Das Einzige, woran er sich erinnerte, war die plötzliche Empfindung am Rücken und die erstaunliche, kaum zu beschreibende Erregung, die seinen Körper und Geist ergriffen hat“ (S. 14).