Metamorphosen im Moor

Gunther Geltinger transformiert in Moor die Griechische Tragödie

Du sinkst au­gen­blick­lich ein. Spürst un­ter dir die trä­ge Last der me­ter­di­cken Torf­schwäm­me, den schwe­ren, fet­ten Leib, der dich um­armt. Ich schlie­ße dich ein, in Was­ser, in Er­de oder ein Ge­men­ge aus bei­dem: feuch­te Kru­me, zä­her Wur­zel­filz, ver­zweig­te Adern über halb­ver­rot­te­ten Äs­ten wie Kno­chen, dar­un­ter das Herz der Tie­fe, brei­ig, kalt pul­sie­rend, noch vor zwei­hun­dert Jah­ren fürch­te­ten mich die Fenn­dor­fer als schwar­zes, schlei­mi­ges Tier, das un­ter den Häu­sern lebt und ih­re Kin­der verschlingt.“

Mit dem Moor ver­bin­den wir Ge­heim­nis und Ge­fahr. Die Ge­dan­ken an Moor­lei­chen, Zeu­gen längst ver­gan­ge­ner Ri­tua­le, ma­chen ei­ne Wan­de­rung über den Knüp­pel­damm zu ei­nem un­heim­li­chen Aben­teu­er. Was, wenn man vom Weg ab­kommt und ver­sinkt? Muss man ver­mo­dern, wenn man sich nicht am ei­ge­nen Schopf wie­der her­aus zie­hen kann? Doch das Moor birgt nicht nur Un­heim­li­ches, es bie­tet Schutz, be­son­ders den Le­be­we­sen, die in der Zi­vi­li­sa­ti­on kei­nen Platz finden.

In die­sem Bio­top le­ben die Li­bel­len, die Be­glei­ter Di­ons, des 13-jäh­ri­gen stot­tern­den Prot­ago­nis­ten in Gun­ther Gel­tin­gers neu­em Ro­man Moor. Das Moor ist nicht nur Di­ons Hei­mat, es ist sein Hü­ter, sein Ele­ment, viel­leicht so­gar der Er­zeu­ger des som­mer­spros­si­gen Jun­gen mit moor­brau­nem Haar und eben­sol­chen Au­gen. Die Land­schaft ist der An- und Aus­sprech­part­ner des Jun­gen, dem die we­ni­gen Wor­te kan­tig über die Lip­pen holpern.

Ei­nen Aus­schnitt die­ses Ro­mans las Gun­ther Gel­tin­ger beim Bach­mann-Wett­be­werb des Jah­res 2011. Sei­ne my­thisch-mäch­ti­ge Er­zähl­form hat­te mich sehr be­ein­druckt und so­fort den Wunsch nach der Lek­tü­re des voll­stän­di­gen Ro­mans geweckt.

Moor er­zählt von zwei Au­ßen­sei­tern, Mut­ter und Sohn, die sym­bio­tisch in di­stanz­lo­ser Be­zie­hung le­ben. Di­on wird als Stot­te­rer und Sohn ei­ner Frem­den von sei­nen Al­ters­ge­nos­sen ge­mie­den. Ver­geb­lich sucht er Halt und Ori­en­tie­rung, auch se­xu­ell. Sei­ne Mut­ter Mar­ga, das hei­mat­lo­se Heim­kind, ver­sucht sich ver­geb­lich als Künst­le­rin. Das not­wen­di­ge Geld be­sorgt sie beim Hin­ter­zim­mer­ser­vice ei­nes Her­ren­aus­stat­ters. Dort hat­te sie einst Di­ons Va­ter ken­nen ge­lernt, der sie aus die­sem Mi­lieu be­frei­te. Ge­lan­det war sie je­doch nach ih­rer Auf­fas­sung wie­der im Dreck, in Fenn­dorf, wo das Geld mit Torf oder Schwei­nen ge­macht wird. Mar­gas Mann holt bald das Moor, Mut­ter und Sohn dro­hen eben­falls dar­in zu versinken.

Gun­ther Gel­tin­ger schil­dert in ei­ner Spra­che voll be­ein­dru­cken­der Na­tur­bil­der das Schick­sal von Di­on und Mar­ga, zwei la­bi­len Per­so­nen, die sich ge­gen­sei­tig kaum Schutz bie­ten kön­nen. Ei­ne Er­wach­se­ne, die De­pres­si­on und Aus­gren­zung in die Sucht trei­ben, und ei­nen Jun­gen, der in der Dorf­ge­mein­schaft als Sohn der frei­zü­gi­gen Frem­den, stot­ternd und su­chend au­ßen vor bleibt. Bei­de klam­mern sich in ih­rem Über­le­bens­kampf an­ein­an­der. Das Moor wen­det sich an den Jun­gen, ver­sucht ihn durch das Du auf­zu­we­cken. So wird ihm die Di­stanz­lo­sig­keit all­mäh­lich be­wusst. Nicht nur, wenn er die Mut­ter zum mor­gend­li­chen Bad in den Tüm­pel be­glei­ten muss, son­dern be­son­ders, wenn er sich als schla­fen­den Faun mit Li­bel­len­phal­lus auf ei­nem ih­rer Ge­mäl­de wie­der er­kennt. Von ei­nem Alp­traum singt das Moor, manch­mal in ei­ner Sua­da, manch­mal in ei­ner Ele­gie, im­mer vol­ler Pa­thos. Der Le­ser fühlt sich an die aus­weg­lo­sen Schick­sa­le der Grie­chi­schen Tra­gö­di­en er­in­nert, die in der An­ti­ke zu Eh­ren des Dio­ny­sos auf­ge­führt wur­den. Dio­ny­sos, Di­on, der im Ge­fol­ge von Sa­tyrn und Mä­na­den wild durch die Na­tur zieht. Nicht nur die Freu­den von Lie­be und Wein zäh­len zum Au­ßer­sich­sein die­ser We­sen, auch Rausch und Gewalt.

Dies gilt auch für Gel­tin­gers Ge­schich­te, die das pu­ber­tär Drän­gen­de schil­dert, aber auch die bru­ta­len Sei­ten der Se­xua­li­tät, über­höht im Paa­rungs­vor­gang der Li­bel­len. Die Li­bel­len und ihr Le­bens­zy­klus bil­den den Kon­struk­ti­ons­rah­men des Ro­mans, wie der Au­tor in ei­nem In­ter­view er­klärt. Die durch Er­in­ne­run­gen, Per­spek­tiv­wech­sel, Vor­schau und As­so­zia­ti­ons­bil­der stark ver­äs­tel­te Hand­lung un­ter­wirft sich in ih­ren vier Tei­len den Jah­res­zei­ten und folgt da­mit dem Zy­klus ei­nes Li­bel­len­le­bens. Der Ro­man be­ginnt im Herbst und en­det im vier­ten Ka­pi­tel mit dem kur­zen Som­mer­fi­na­le. Doch er er­zählt nicht aus­schließ­lich von dem Le­bens­jahr ei­nes 13-Jäh­ri­gen En­de der Sieb­zi­ger. Wir be­geg­nen auch dem er­wach­se­nen Di­on, den Gel­tin­ger aus der Me­ta­ebe­ne auf­tau­chen lässt. Die­ser Di­on ist der Au­tor, der sei­ne Er­in­ne­run­gen zu der Ge­schich­te um­formt. Mar­ga liest die­ses Buch, weil sie auf das Wie­der­se­hen mit dem Sohn vor­be­rei­tet sein will, der, wie Gel­tin­ger selbst 2011, als In­sel­schrei­ber auf Sylt weilt. Doch sie ist nicht im­mer ein­ver­stan­den mit der Dar­stel­lung, er­zählt bis­wei­len ih­re ei­ge­ne Ver­si­on. So ent­steht end­lich der Dia­log zwi­schen Mut­ter und Sohn, der doch ein­sei­tig blei­ben muss, denn ihm per­sön­lich möch­te Mar­ga letzt­end­lich nur von ih­rer Lie­be spre­chen. Als Lie­bes­ge­schich­te zwi­schen Mar­ga und Di­on be­zeich­net auch Gun­ther Gel­tin­ger sei­nen Ro­man in dem sehr tief­grün­di­gen Ge­spräch mit der BR-Re­por­te­rin Ju­lia Hoffmann.

Gun­ther Gel­tin­ger, Moor, Suhr­kamp Ver­lag, 1. Aufl. 2013

 

2 Gedanken zu „Metamorphosen im Moor“

    1. Lie­be Da­na, ich ver­mu­te, der Ro­man wird Dir ge­fal­len. Vie­len Dank für den Link, auf der Sei­te fin­den sich ne­ben Gel­tin­gers Moor­ta­ge­buch ja auch Tex­te von Po­sch­mann. Sehr schön!

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