Uwe Timm besingt in Vogelweide die postmoderne Minne
„Für sie hatte er sich das Wort Liebe bewahrt. Und bei ihr ging es ihm leicht über die Lippen, auch jetzt für sich und stumm gesprochen. (…) Das Bild war nicht verblasst.“
Liebe, Schuld, Tod und Erinnerung sind große Themen der Literatur, die auch der neue Roman Vogelweide des 72-jährigen Uwe Timm aufgreift. Der durch viele Veröffentlichungen bekannte Autor, erinnert sei an Die Entdeckung der Currywurst, durch Verfilmung und Schullektüre populär, und an Halbschatten, der historischen Fiktion über die Fliegerin Marga von Etzdorf. Mit letztgenanntem Titel stand er 2010 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, unter den diesjährig Nominierten findet sich das vorliegende Werk des lebenserfahrenen Autors.
Ruhig und abgeklärt als müsse er vom Leben nichts mehr erwarten wirkt auch der Protagonist der Romans. Christian Eschenbach, studierter Theologe mit bankrotter IT-Firma, lebt seit einigen Monaten als Vogelwart auf der Elbinsel Scharhörn seine selbstgewählte Robinsonade. Signale der Zivilisation senden lediglich die Schemen der Containerschiffe am Horizont und ornithologisch interessierte Besuchergruppen, die wie die Alltagnotwendigkeiten mit der Kutsche zur Insel kommen.
Timm schildert diese Einsamkeit als romantisches Idyll zwischen Vögeln und Fischen. Sein Eschenbach sammelt Strandgut und schreibt, nachts begegnen ihm die Geister seiner Vergangenheit. Darunter auch seine geliebte Anna, die ihren Besuch ankündigt, unvermutet, denn sie war es, die den Kontakt abbrach und Eschenbach nie mehr sehen wollte.
Eschenbach, der in der Folge auch die anderen Bezugspunkte seines Lebens verlor, erinnert sich an ihre Geschichte des Begehrens. Als er vor sechs Jahren Anna begegnete, verspürte er dieses Gefühl sofort. Sie treffen sich erneut auf einer Vernissage, zufällig, aber in Begleitung ihrer Partner. Anna, die Latein und Kunst unterrichtet, ist glücklich mit Ewald verheiratet, einem Architekten, dem der Erfolg Aufträge in China verschafft. Eschenbach lebt in fester Beziehung mit der polnischen Silberschmiedin Selma, die Pluderhosen trägt und Hopi-Schmuck fälscht. Er fühlt sich wohl bei ihr, seiner Wunscherfüllerin, die in seinen Reaktionen, die sich anbahnende Situation erspürt, „du redest so, als käme die Unordnung über uns“.
Durch solche Anspielungen, die kunstvoll komponierten Rückblicke und die Perspektive auf vier Hauptpersonen macht Timm seinen Roman zu einer interessanten Lektüre. Sie ist gut lesbar und unterhält, allerdings nicht völlig frei von Phrasen, wie den in nahezu jedem Liebeskitsch zu findenden Kugelwesen Platons.
Gestört hat mich jedoch etwas anderes, die Nichterfüllung meiner Erwartung an die Geschichte, was ich ihrem Verfasser natürlich nur bedingt vorwerfen kann. Mich hätte nämlich die Rahmenhandlung, das erneute Zusammentreffen eines Liebespaars auf der naturidyllischen Vogelinsel mehr interessiert, als die eigentliche Handlung. Wenn eine Liebe plötzlich von einem der Partner verraten wird, wenn der eine weiter liebt und der andere sich wortlos entzieht, um dann nach Jahren wieder aufzutauchen, dann erwartet man eine Erklärung. Wie würde Anna ihr vorgeblich moralisch motiviertes Handeln, das sich als purer Egoismus entpuppt, rechtfertigen? Bis dieses Wiedersehen stattfindet, liest man vom Entstehen und Scheitern der Beziehung zwischen Eschenbach und Anna, die Timm unspektakulär und ein bisschen langweilig zwischen Finanzkrise und Firmenpleite, Globalisierung und Nine Eleven, Kunst und Architektur arrangiert.
Neben literarischen Zitaten wie den Wahlverwandtschaften, Werther, Robinson Crusoe, Jonas und der Wal, Don DeLillos Falling Man, Arno Schmidt und Ingeborg Bachmann, um nur einige zu nennen, erinnert Eschenbach, wenn dieser den Wunsch nach beiden Frauen verspürt und die „Ehe als Institution der Ausschließlichkeit“ brandmarkt an Genazinos „liebesblöde“ Figuren. Von Liebeswirren hat man folglich schon Interessanteres gelesen und auch weniger Fehlerhaftes, denn daß der nicht mehr junge Held in einem während der Schulzeit verfassten Gedicht einen Computer erwähnt, wirkt anachronistisch, hinzu kommen fehlerhafte Architekturtermini, wie ein dreieckiger Architrav.
Doch wer es nicht so genau nehmen will, mag sich gut unterhalten mit dieser lauen Paarverwirrung, deren Resultat Timm in einer schönen Szene beschreibt. „Sie saßen einander gegenüber am Tisch, zwischen ihnen ein Stillleben. Was von den Schollen geblieben war: die filigranen Skelette der Gräten. Die Rotweingläser mit Spuren der Lippen.“
Uwe Timm, Vogelweide, Kiepenheuer&Witsch, 1. Aufl. 2013
Liebe Kerstin,
schön, wieder von Dir zu lesen.
Ich kenne das Buch von Uwe Timm nur aus Rezensionen und Buchmessen-Interviews.
Was ich davon als (eher negativen) Eindruck gewonnen habe, bestätigt Deine Besprechung gut.
Brauch ich mich nun also nicht mehr selbst an die Lektüre machen.
Mir gefällt Deine Genauigkeit beim Lesen und auch, dass Du die besprochenen Bücher immer in einen Kontext innerhalb des „Bibliouniversums” einordnest.
Beste Grüße
Doris
PS: Könnte es sein, dass oben hinter „Nominierten” so etwas wie „der Shortlist 2013” stehen sollte?
Liebe Doris,
die Einordnung bietet Timm selbst in seinem Roman, Genazino ausgenommen. Mir hat die krude Moral seiner Figur Anna missfallen, aber das wollte der Autor vielleicht bewirken.
Hinter den „Nominierten” habe ich mir die Longlist gedacht, aber fand sie, da davor schon der Deutsche Buchpreis genannt wurde, überflüssig zu erwähnen. Falls meine Redundanzphobie Verwirrung erzeugte, bitte ich um Verzeihung. 😉