„Dieses Leben, das wir haben“ — Shrivers trivialer Thesenroman zum Gesundheitssystem der USA
Schon das Cover ziert ein Pathosmotiv. Vor einem roten, in den Abstufungen geronnenen Blutes changierenden Hintergrund erscheint am rechten Rand das Profil einer Frau. Ihren Blick schräg nach unten gerichtet, die Lippen leicht geöffnet, verschränkt sie die Arme angewinkelt vor dem Brustkorb. Bis auf ein dezentes Make-Up und ein dunkles Stück Stoff zwischen Händen und Körper ist sie nackt. Die Dargestellte wirkt dem Leidensgehalt der Geschichte schutzlos ausgeliefert.
Pathos ist Programm im Roman, der im Original den Titel „So Much for that
“ trägt. Die Autorin Lionel Shriver bevorzugt gesellschaftlich brisante Themen. Ihr größter Erfolg bisher war „Wir müssen über Kevin reden
“. Im vorliegenden, 2010 erschienenen Roman schildert sie ein Ehepaar um die Fünfzig mit erwachsener Tochter und pubertierendem Sohn, das durch eine Krebserkrankung aus der Bahn geworfen wird. Diese will Shep, der Familienvater, aus Gründen gesellschaftlicher und persönlicher Unzufriedenheit gerade hinter sich lassen. Das Ziel seiner Zivilisationsflucht liegt auf Pemba vor der ostafrikanischen Küste. Aber die Krebsdiagnose seiner Frau und sein guter Charakter zwingen ihn zu bleiben. Glynis benötigt seine Versicherung, sein Erspartes und seine Unterstützung. Aus Shepard wird ein guter Hirte. Alleine ein einzelner Krankheitsfall reicht Shriver nicht für ihren Thesenroman. Jackson und Carol, die besten Freunde von Glynis und Shep, haben eine chronisch schwerkranke Tochter. Sie kennen sich aus mit den körperlichen und seelischen Bürden, die eine solche Situation für die Familie bedeutet, und vor allem mit den finanziellen Belastungen. Im weiteren Verlauf der Geschichte komplettieren eine misslungene Schönheits-Operation und ein Pflegefall das Elend. Fallbeispiele, die Shriver nutzt, um gegen das marode Gesundheitssystem der USA anzuschreiben. Der Einbezug der Sterbehilfedebatte im Fall Terri Schiavo datiert die Handlung des Romans in den Zeitraum um das Jahr 2005.
Lionel Shriver, die sich in der politischen Diskussion für Obamas Reform der Sozialversicherung, insbesondere der Krankenversicherung, einsetzt, vermittelt ihr Anliegen in äußerst plakativer Weise. Die Botschaft ist bereits nach einem guten Fünftel des immerhin über 500 Seiten starken Schmökers klar. Wenn auch die Leidensgeschichte der an einem Mesotheliom leidenden Glynis medizinisch und persönlich glaubhaft dargestellt ist, ‑im Nachwort belegt Shriver ihre Recherchequellen‑, zögere ich die Lektüre dieser Pathosprosa fortzusetzen. Doch nach wenigen Seiten, Shrivers Stil fordert keinerlei Anstrengungen, packt mich unversehens der Lesesog oder sollte ich besser sagen die Sensationslust? Ich fühle mich wie eine der Neugierigen, die sich um einen Unfall scharen. Das Ergötzen am tragischen Schicksal Anderer ist mir sonst fremd, doch kann ich Shrivers Melodram nicht widerstehen. Ich verfolge also Glynis Kampf gegen den Krebs, alleine diese Formulierung, lieber Leser, zeigt, womit wir es hier zu tun haben. Ein Krebskitschdrama über Hoffnung und Verzweiflung, Belastung und Erleuchtung, über Heuchelei und Ungerechtigkeit, über Blut und Ruin. Nicht genug davon, fährt Shriver weitere populistische Thesen auf. Sie kritisiert die soziale Verwahrlosung und Vereinzelung der Generation Internet, verteufelt den Körperwahn und beklagt Ernährungsnotstand und Fettleibigkeit. Der Moralkeule kann sich keiner entziehen. Es sei denn, er wandert aus in das afrikanische Paradies „Jenseits“ der Zivilisation. In diesem Roman heißt es Pemba. Dort, so phantasiert die Autorin, lebt man das Glück der Einfachheit. Ungestört von Zivilisation und Technik rumpelt der Ochsenkarren über die ungepflasterten Wege. Den Bewohnern wächst das gesunde Essen in den Mund, niemand wird fett davon. Sogar degenerierte Weiße können hier an der Natur genesen. Derlei veritablen Ethnokitsch durfte ich selten lesen.
So war es nicht vollständig verplemperte Lesezeit, denn über die Mechanismen des Trivialromans habe ich einiges gelernt. Seine Handlung ist stets melodramatisch, in schlichtem Schreibstil werden Gefühle und Neugier angesprochen. Alle Charaktere sind eindimensional und verändern sich nicht. In Shrivers Exempel bleibt Glynis die bockige Kranke, Jackson der unglückliche Widerspruchsgeist und Carol das gefühlskalte Organisationstalent. Einzig Shepard wandelt sich vom egoistischen Auswanderer zum aufopferungswilligen Unterstützer, was jedoch zu vernachlässigen ist, da es sich bereits auf den ersten Seiten des Romans ereignet. Alle diese Figuren handeln nach landläufiger Moral. Der treue Ehemann versorgt seine Frau. Der sexuell Verzweifelte sieht seine Chance in der äußeren Optimierung. Die schwerstbehinderte Jugendliche ist selbstbewusst anders, der pubertierende Sohn ein Nerd, die kleine Tochter zucker- und fernsehsüchtig. Populistische Ansichten über die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und die Verantwortungslosigkeit der Regierung werden bestätigt und im Handlungsablauf rekapituliert. Sprachlich entspricht der Roman seinem inhaltlichen Anspruch und rutscht nicht selten ab in Sätze wie, „Die Sonne rückte näher an den Horizont und tauchte die Anlage in die sirupgoldene Farbe eines Spätrieslings.“ Na dann, Prost.
Eine lesenswerte Rezension zu Shrivers Erfolgsroman über den Amokläufer Kevin findet sich auf SchöneSeiten.
Lionel Shriver, Dieses Leben, das wir haben, Piper Verlag 2011.
Oje, was für ein Totalverriss! Das überrascht mich, wo sich doch Wir müssen über Kevin reden durch seinen radikal neuen Blickwinkel auszeichnet, aus dem das politisch-gesellschaftliche Thema, das hier im Zentrum steht (der Amoklauf), betrachtet wird. Schade, dass es Shriver offenbar nicht gelingt, im vorliegenden Roman ähnlich zu verblüffen und zu erschüttern, sondern im Gegenteil mit stereotypen und abgegriffenen Beschreibungen auffährt. Zu Dieses Leben, das wir haben werde ich sicherlich nicht greifen, auch wenn mich durchaus interessiert, was die Autorin jenseits von Kevin noch so gemacht hat.
PS: Merci für die Verlinkung.
Wenn sich die Autorin auf die Kerngeschichte konzentriert und auf das Ende verzichtet hätte, dann wäre vielleicht ein besserer Roman heraus gekommen.
Ein Totalverriss ist es aber nicht. Ich habe mich sehr zurückgehalten, um eventuellen Lesern die Spannungsmomente zu erhalten und männlichen Leser, so es denn je welche geben könnte bei dieser Art Roman, ein schmerzhaftes Zucken zwischen den Beinen zu ersparen.
Kevin liegt noch in einem meiner Regale, eine Dauerleihgabe einer begeisterten Leserin. Dank ihrer und Deiner Empfehlung werde ich es vielleicht doch noch lesen.
Schön, den Verriss zu lesen, und schön, dass ich endlich einmal keine neue Empfehlung bekomme für ein Buch, das ich unbedingt auch noch lesen muss :-).
Viele Grüße, Claudia
Gern geschehen, Claudia, so wie es aussieht, kannst Du auch der nächsten Rezension in aller Ruhe entgegen sehen. 😉
Diese Lektüre war für dich sicherlich mehr als unbefriedigend, aber falls es dich tröstet, dein Verriss war lesenswert 🙂 LG und hoffentlich bald wieder bessere Bücher! Anna
Es tröstet und ich freue mich vor allem über Deinen Besuch, Anna.