Unterzuckert

Anstrengender Trip durch Pyotr Magnus Nedovs Zuckerleben

Ei­nes Ta­ges wur­den die Löh­ne nicht mehr aus­be­zahlt. Die Staats­be­trie­be schlos­sen ei­ner nach dem an­de­ren. Dann wur­den die Ge­schäf­te im­mer lee­rer, bis es wirk­lich nichts mehr zu kau­fen gab au­ßer die­sen läng­li­chen Alu­mi­ni­um­kä­men für 3 Ko­pe­ken. Und weißt du, was das Pro­blem ist mit die­sen läng­li­chen Alu­mi­ni­um­käm­men für 3 Kopeken?“
„Was?“
„Sie schme­cken nicht so gut…“

Manch­mal führt der Zu­fall zu ei­ner Lek­tü­re, die im Nach­hin­ein sehr er­staunt. Auf Zu­cker­le­ben, den Ro­man des 1982 in Russ­land ge­bo­re­nen, in Ös­ter­reich auf­ge­wach­se­nen und heu­te in Köln le­ben­den Py­otr Ma­gnus Ne­dov, mach­te mich die dies­jäh­ri­ge Kan­di­da­ten­lis­te des Al­ph­a­prei­ses auf­merk­sam. Nach viel­fa­chem Lob der sprach­li­chen Ra­sanz des Ro­mans, er­war­te­te ich die sar­kas­ti­sche Sto­ry ei­nes skur­ri­len Trips durch Ost- und Südeuropa.

Mol­da­wi­en 1991, Ita­li­en 2011, bei­de Staa­ten be­fin­den sich in der Kri­se, sie kran­ken an ver­al­te­ten Struk­tu­ren und un­fä­hi­gen Re­gie­run­gen. Die Leid­tra­gen­den sind die Bür­ger, die ne­ben dem all­täg­li­chen Cha­os von Lie­be und Le­ben, nun um ih­re Exis­tenz fürch­ten müs­sen. Die Wirt­schaft ist rui­niert, Fa­bri­ken schlie­ßen, im post­so­wje­ti­schen Staa­ten­ge­wirr nicht an­ders als im Ita­li­en Berlusconis.

Wie sich ein sol­ches Cha­os über­ste­hen lässt, schil­dert Ne­dov in sei­nem De­büt Zu­cker­le­ben, das er fol­ge­rich­tig auch als Kri­sen­buch be­zeich­net. Sei­nem Prot­ago­nis­ten To­ly­an An­d­ree­witsch ge­ra­ten in der 2011 in den Abruz­zen an­ge­sie­del­ten Rah­men­hand­lung die Aus­rei­ßer Ca­te­ri­na und An­ge­lo erst vor und dann ins Au­to. Die­ser me­lan­z­a­ni­far­be­ne tsche­cho­slo­wa­ki­sche Mi­ni­bus, dem ein Plas­tik­pu­tin vom Spie­gel bau­melt, bringt den Mol­da­wi­er und die Ra­gaz­zi aus Ter­mo­li zum Dorf­gast­hof „Dol­ce del­la Lu­na“. Dort bau­melt be­reits ein an­de­rer Rus­se von der De­cke und der noch le­ben­de blickt auf das Jahr 1991 und die aus­ein­an­der­bre­chen­de So­wjet­uni­on, ge­nau­er auf Do­du­se­ni in der Mol­daui­schen So­wjet­re­pu­blik zu­rück. Ter­mo­li und Do­du­se­ni ver­bin­den min­des­tens zwei Ka­ta­stro­phen, die Schlie­ßung der Zu­cker­fa­brik und die dar­aus fol­gen­de Not der Arbeiter.

Die Kri­sen glei­chen sich, aber die We­ge aus ih­nen her­aus sind ver­schie­den. Der Haupt­teil des Ro­mans er­zählt, wie sich die Mol­da­wi­er zwi­schen Mor­gen- und Abend­strom­aus­fall mit den ma­ro­den Struk­tu­ren ar­ran­gie­ren. Je­der ist sich selbst der Nächs­te und auch To­ly­ans Held Pi­ti­rim ver­sucht das Bes­te her­aus zu ho­len, näm­lich 20 Ton­nen Zu­cker aus dem Ver­steck des Zu­cker­fa­brik­di­rek­tors Hleb­nik. Zu­cker ist der Grund­stoff für Sa­ma­gon, Schnaps, das Opi­um fürs Volk, denn So­zia­lis­mus oh­ne Al­ko­hol ist wie Ka­pi­ta­lis­mus oh­ne Wer­bung. So macht sich Pi­ti­rim mit sei­nen Ge­hil­fen, zu de­nen auch ein Rot­fuchs zählt, an die Ar­beit. Ihr Ziel ist la Dol­ce­vi­ta in Bel­la Ita­lia, das De­stil­lat soll die­sen Traum verwirklichen.

Doch wo bleibt Ita­li­en in die­sem Ro­man? Ne­dov wählt die Abruz­zen als Ort der Rah­men­hand­lung, hier fin­det die Ex­po­si­ti­on der Haupt­fi­gu­ren statt, die durch ge­sell­schaft­li­che und in­di­vi­du­el­le Kri­sen an­ein­an­der ge­bun­den wer­den. Zwei Lie­bes- und Über­le­bens­ge­schich­ten, wenn man so will, de­ren Fä­den je­doch mit­un­ter durch­hän­gen. Auf die­sem knap­pen Vier­tel des Ro­mans er­fah­ren wir au­ßer­dem von Cris­ti­nas Schwie­rig­keit sich zwi­schen dem sanf­ten An­ge­lo und dem bru­ta­len Hells An­gel zu ent­schei­den. Wä­ren nicht die Orts­an­ga­ben in den Ka­pi­tel­über­schrif­ten wür­de der Le­ser kaum mer­ken, daß er sich in den Abruz­zen be­fin­det. Im­mer­hin be­rück­sich­tigt An­ge­los Ana­ly­se des Ber­lus­co­nis­mo ge­gen En­de des ers­ten Kri­sen­buchs die ita­lie­ni­schen Misere.

Der Haupt­teil des Ro­mans führt mit­ten hin­ein in die mol­daui­schen Ver­hält­nis­se. Im Ray­on Do­du­se­ni, wo die Dok­to­ren­wurst als Er­satz­wäh­rung kur­siert, be­geg­nen wir Schwarz­markt­händ­lern und Gy­nä­ko­lo­gen, ei­nem Pro­to­dia­kon und dem Chef ei­nes Ro­ma-Clans, ei­ner Ita­lie­nisch­leh­re­rin und ei­nem Af­gha­ni­stan-Kämp­fer. Ne­ben Kor­rup­ti­on herrscht vor al­lem Hun­ger. Die Ba­na­ne er­scheint als Pa­ra­dies­frucht, de­ren Ge­schmack an ei­ne Mi­schung aus Ap­fel­mus, Ge­la­ti­ne und Brot mit der Kon­sis­tenz ei­ner an­ge­feuch­te­ten Aly­o­nusch­ka-Sei­fe erinnert.

Hier sind wir schon bei ei­ner klei­nen Schwie­rig­keit des Ro­mans. Was weiß der West­eu­ro­pä­er schon von Aly­o­nusch­ka-Sei­fe? Die­se und an­de­re Be­grif­fe sind teil­wei­se kur­siv ge­setzt, aber nie er­klärt. Mo­hor­tisch und Pa­ras­tas Ker­zen, Pod­wal, Tolt­schok und Ba­thys­ka­pe sind Obst­a­kel, die den Le­ser si­ckie­ren. Nicht we­ni­ger plagt er sich mit der Na­mens­fül­le. Von den Klas­si­kern ist die rus­si­sche Vor­lie­be für Na­mens­ket­ten zwar be­kannt, aber im Mol­da­wi­en die­ses Ro­mans herrscht Akri­bie in der Auf­lis­tung al­ler Bei‑, Zu- und Spitz­na­men so­wie Funk­tio­nen. Man liest von Tu­do­rel-Deo­mid Bla­mus, dem Bu­li­ba­scha von Ot­aci, vom Don­du­se­ni­er Spe­ku­lan­ten Pi­ti­rim Io­no­witsch Tut­una­ru, von der Ita­lie­nisch­leh­re­rin Nad­ja Pi­lip­ciuc, dem Ewig Hung­ri­gen His­to­ri­ker Ro­ma Flo­co­su (E.H.H.R.F.), Wla­di­mir Paw­lo­witsch Pus­cus und Mihai­lytsch, dem Ma­jor. Nicht un­er­wähnt sei­en Fe­lix Ed­mun­do­witsch, der Fuchs, die Hüh­ner Go­gol, Ler­mon­tow und Pusch­kin, so­wie der Hahn Trotz­ki. So sprit­zig die­se Na­mens­kas­ka­de beim ers­ten An­blick wirkt, auf die Dau­er er­mü­det sie und bläht den Um­fang eben­so un­nö­tig auf wie die zahl­rei­chen in­halt­li­chen Ab­schwei­fun­gen. Von Ita­li­en er­fährt man bis auf Mar­gi­na­li­en zu Ber­lus­co­ni, die über das Üb­li­che kaum hin­aus ge­hen, we­nig. Da­für blickt man nach Af­gha­ni­stan oder ins Fern­se­hen, hört von ei­nem Nie­ren­händ­ler aus Darm­stadt und liest so­gar ei­ne Sex­sze­ne dop­pelt. Viel­leicht weil’s so schön war? Es mag sein, daß dies ein Buch für jün­ge­re Le­ser ist, die sich über die Sze­nen auf dem Sarg­trans­por­ter oder an der Tank­stel­le noch amü­sie­ren kön­nen, ich kann­te sie be­reits aus et­li­chen Fil­men. Mit die­sen kennt sich der Fil­me­ma­cher Ne­dov aus, viel­leicht ver­filmt er auch sein Buch, wie ei­ni­ge Re­zen­sen­ten sich es wün­schen. Aber man muss ja nicht al­les sehen.

ZU­CKER­LE­BEN-was soll das denn für ei­ne Be­deu­tung ha­ben?“ hakt der Don­du­se­ni­er Schwarz­markt­spe­ku­lant Pi­ti­rim Tut­una­ru nach, den Gold­bar­ren im­mer noch in der Hand.
Der Bu­li­ba­scha von Ot­aci scheint sich nicht si­cher zu sein, ob Pi­ti­rim ihn ein­fach nur ver­äp­peln will.
Tu­do­rel-Deo­mid ent­schei­det sich nach ei­ni­gem Zö­gern da­für den­noch zu antworten:
„Du kennst das Sprich­wort: „Le­ben ist gut, aber gut le­ben ist noch besser?“
„Klar.“
Der Bu­li­ba­scha er­klärt ges­ten­reich, als wol­le er dem be­griffs­stut­zi­gen Tut­una­ru ei­ne simp­le ma­the­ma­ti­sche Glei­chung in der Luft auf­ma­len, da­mit er’s bes­ser kapiert:
„Gut le­ben = Zuckerleben.“
Ein mü­des Lä­cheln zeich­net sich in den Ge­sich­tern von Tut­una­ru, Va­dim dem Ma­ler und Nad­ja ab.

Ei­ne wei­te­re Re­zen­si­on, die be­son­ders auf sprach­li­che Kri­tik­punk­te ein­geht, fin­det sich im Bü­cher­wurm­loch.

Py­otr Ma­gnus Ne­dov, Zu­cker­le­ben, Du­Mont Ver­lag, 1. Aufl. 2013

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert