Ödipales Kuscheln am Strand der Glückseligen

Doris Lessings Die Grossmütter in Tage am Strand

Tage am StrandDer Ver­gleich hinkt ein we­nig wie der schwell­fü­ßi­ge Ödi­pus selbst und doch ver­bin­det man die in­zes­tuö­se Lie­be des the­ba­ni­schen Hel­den zu sei­ner Mut­ter Io­kas­te un­wei­ger­lich mit dem Ge­sche­hen in Do­ris Les­sings Er­zäh­lung Die Groß­müt­ter. Roz und Lil, die auch im Al­ter at­trak­ti­ven Frau­en sind seit ih­rer Kind­heit bes­te Freun­din­nen. Ih­re Be­zie­hung ist der­art in­nig, daß sie sich kaum von­ein­an­der ent­fer­nen, we­der räum­lich noch in der Chro­no­lo­gie ih­rer Le­bens­pha­sen. So le­ben sie mit ih­ren pracht­vol­len Söh­nen in pracht­vol­len Häu­sern an ei­nem pracht­vol­len Strand. We­ni­ger pracht­voll er­schei­nen ih­nen die Ehe­män­ner. Als die­se schließ­lich auf un­ter­schied­li­che Wei­sen ver­schwun­den sind, le­ben die Frau­en mit ih­ren her­an­wach­sen­den Söh­nen end­lich das voll­kom­me­ne Idyll.

Roz und Lil lüm­mel­ten auf der klei­nen Ve­ran­da mit Meer­blick her­um und sa­hen die bei­den Jun­gen den Pfad hin­auf­stei­gen. Bei­de run­zel­ten ein we­nig die Stirn und lie­ßen die Schwimm­sa­chen bau­meln, die gleich zum Trock­nen über die Ve­r­an­da­mau­er hän­gen wür­den, und sie wa­ren so schön, dass bei­de Frau­en sich auf­rich­te­ten und ein­an­der un­gläu­big an­sa­hen. „Lie­ber Gott!“, sag­te Roz. „Ja“, sag­te Lil. „Das ha­ben w i r ge­macht, w i r ha­ben sie ge­macht“, sag­te Roz. „Wer denn sonst?“, er­wi­der­te Lil. 

So scheint es nur kon­se­quent, daß je­de der Freun­din­nen mit dem Sohn der je­weils an­de­ren ei­ne ero­ti­sche Be­zie­hung eingeht.

Do­ris Les­sing kon­stru­iert um den Kern der Ge­schich­te ei­ne Rah­men­hand­lung, die sehr reiz­voll be­ginnt. Öff­net sie doch mit dem frem­den, wenn auch be­wun­dern­den Blick, ei­ne Per­spek­ti­ve auf den schö­nen Schein. The­re­sa die jun­ge Aus­hilfs­kell­ne­rin aus Eng­land wirft ihn auf ei­ne Grup­pe gut­aus­se­hen­der Men­schen. Sie ver­spürt Neid, weil „ih­nen so et­was Sat­tes an­haf­te­te, als hät­ten sie ihr gan­zes Le­ben lang nur Schö­nes er­fah­ren, das sie jetzt aus­strahl­ten wie un­sicht­ba­re Wel­len der Zu­frie­den­heit“. Es sind zwei Frau­en um die Sech­zig, ih­re Söh­ne und de­ren klei­ne Töch­ter, bei de­ren An­blick „in der hei­ßen blau­en Luft (…) Se­lig­keit und Glück zu schim­mern (schie­nen), und The­re­sa dach­te, dass gleich so et­was wie gol­de­ner Tau in gro­ßen Trop­fen her­ab­fal­len muss­te, den nur sie al­lein se­hen konn­te. Und in die­sem Mo­ment be­schloss sie, dass sie den Far­mer hei­ra­ten und hier blei­ben wür­de, auf die­sem Kon­ti­nent“.

Die Le­se­rin wür­de al­ler­dings nach all’ die­sem Nek­tar und Am­bro­sia den Kon­ti­nent die­ser Er­zäh­lung am liebs­ten so­fort ver­las­sen. Doch da kommt ei­ne klei­ne dunk­le Frau den Hü­gel hin­auf und nicht nur The­re­sa wird klar. „Da war ir­gend­et­was ganz Schreck­li­ches, et­was, das ver­häng­nis­voll war.“

Na gut, dann le­se ich mal wei­ter, die Kitsch­phra­sen sind si­cher­lich ein ab­sichts­voll ein­ge­setz­tes Stil­mit­tel zur Über­hö­hung des trü­ge­ri­schen Idylls, wenn sie sich auch wie die Per­si­fla­ge ei­nes Schmacht­fet­zens le­sen. The­re­sa we­nigs­tens will nicht mehr in Aus­tra­li­en blei­ben. Die Schuld auch dar­an liegt bei Roz. War­um, er­zählt Les­sing auf den fol­gen­den Sei­ten in ei­nem mär­chen­haf­ten Plau­der­ton. Es ist ein Er­zähl­duk­tus, der ver­stört. Be­fin­de ich mich auf ei­nem Wei­ber­abend, beim Fri­seur oder Kaf­fee­klatsch? Nicht mehr ganz brüh­warm wird ein an­schei­nen­der Skan­dal in un­be­hol­fe­nen Pa­ra­ta­xen run­ter er­zählt. Bis auf die Dia­lo­ge, wird ein Groß­teil der Sät­ze mit „und“, „dann“ oder „und dann“ ein­ge­lei­tet. Das liest sich holp­rig, kann bei der Häu­fung nicht als Stil­mit­tel durch­ge­hen und darf wohl auch nicht der Über­set­zung an­ge­las­tet werden.

Über sol­che sprach­li­chen Män­gel lie­ße sich hin­weg se­hen, wenn ei­ne Bot­schaft vor­han­den wä­re. Die such­te ich al­ler­dings ver­ge­bens. Der Ödi­pus­my­thos in­spi­rier­te nicht nur Freud zu sei­ner we­nigs­tens dem Na­men nach satt­sam be­kann­ten Theo­rie des Ödi­pus­kom­ple­xes, son­dern auch zahl­rei­che Au­toren zur li­te­ra­ri­schen Pro­duk­ti­on. Die Lis­te reicht von So­pho­kles, des­sen Kö­nig Ödi­pus noch heu­te auf­ge­führt wird, bis zu deut­schen Dich­tern. Je­der Schü­ler wird in die­sem Zu­sam­men­hang Max Frischs Ho­mo fa­ber nen­nen kön­nen. So­wohl der an­ti­ke My­thos wie sei­ne Um­for­mun­gen be­han­deln die Fra­gen nach Schuld und der Un­ab­wend­bar­keit des Schick­sals. Ob dies auch die An­triebs­fe­der von Do­ris Les­sing war, die 2004 in ih­rer Er­zäh­lung die in­zes­tuö­se The­ma­tik va­ri­ier­te, bleibt unklar.

Se­xu­el­le Li­ber­ti­na­ge zu pro­pa­gie­ren, die äl­te­ren Frau­en ei­ne Be­zie­hung zu jün­ge­ren Män­nern zu­ge­steht, ist nicht erst mit Be­ginn des 21. Jahr­hun­derts ob­so­let. Eben­so un­zeit­ge­mäß scheint die von Roz und Lil kon­sta­tier­te Un­zu­läng­lich­keit der Blö­den Män­ner. Das ist Acht­zi­ger­jah­re-Sprech ge­nau der Frau­en­be­we­gung, die Do­ris Les­sing ei­gent­lich im­mer ab­lehn­te. Oder liegt dar­in doch der Schlüs­sel? Be­vor­zu­gen die­se bei­den gott­glei­chen Frau­en­er­schei­nun­gen nur Selbst­ge­mach­tes, da al­les an­de­re nicht ge­nügt? Oder kom­pen­sie­ren sie als selbst­ver­lieb­tes He­xen­paar ih­re un­ter­drück­te les­bi­sche Lie­be im Stell­ver­tre­ter­sex mit dem Fleisch und Blut der Be­gehr­ten? Was wür­de wohl Freud da­zu sa­gen? Do­ris Les­sing, die 2007 für Wer­ke wie Das gol­de­ne No­tiz­buch den Li­te­ra­tur­no­bel­preis er­hielt, wird die­se Fra­gen lei­der für im­mer of­fen las­sen. Sie ver­starb am 17. No­vem­ber 2013 in London.

Ob es sich lohnt die­ses schwü­le Me­lo­dram zwi­schen Bi­li­tis-Ero­tik und se­xu­el­ler Selbst­ver­wirk­li­chung zu le­sen, kann je­der nach Gus­to ent­schei­den. Her­aus­ge­for­dert hat es im vor­lie­gen­den Fall die fil­mi­sche Um­set­zung un­ter dem Ti­tel Ta­ge am Strand und ei­ne Kam­pa­gne vom Con­cor­de Ver­leih und dem Ver­lag Hoff­mann und Cam­pe. Die deut­sche Über­set­zung un­ter dem Ti­tel Die Groß­müt­ter er­schien 2004 im Band Ein Kind der Lie­be und ist un­ter dem Ti­tel Ta­ge am Strand als ebook erhältlich.

Den Film ha­be ich selbst noch nicht ge­se­hen. We­der die Pro­vinz- noch die Uni­ver­si­täts­städ­te in mei­nem Um­feld füh­ren Ta­ge am Strand im Pro­gramm. Ich neh­me das als Omen und ver­wei­se vor­erst auf die Film­kri­tik der Kri­mi­nal­ak­te und auf die Ein­schät­zun­gen mei­ner Pro­jekt-Kol­le­gen.

Wir sind aber kei­ne Les­ben, oder?“, frag­te Lil, die of­fen­bar ei­ne Be­stä­ti­gung brauchte.
„Ich glau­be, nicht“, sag­te Roz. 
„Aber wir sind im­mer Freun­din­nen gewesen.“
„Ja.“
„Wann hat es an­ge­fan­gen? Ich er­in­ne­re mich noch an den ers­ten Schultag.“
„Ja.“
„Und da­vor? Wie ist es passiert?“
„Ich weiß nicht mehr. Viel­leicht war es ein­fach – Glück.“
„Das kann man wohl sa­gen. Das Bes­te, was mir im Le­ben pas­siert ist – bist du.“

 Do­ris Les­sing, Ta­ge am Strand, ebook, Hoff­mann und Cam­pe, 2013.

2 Gedanken zu „Ödipales Kuscheln am Strand der Glückseligen“

  1. Ich ha­be bis­her le­dig­lich den Film ge­se­hen und woll­te das Buch im­mer nach­le­gen, da ich von Do­ris Les­sing ei­gent­lich er­war­te­te noch ei­nen Deut bes­ser zu sein als der ab und zu et­was seich­te Film.
    Doch das wer­de ich mir nun wohl spa­ren und auf an­de­re Wer­ke der Au­torin zu­rück grei­fen. Denn das gleich noch­mal als Buch brau­che ich ei­gent­lich nicht.
    Wo­bei es auch Pas­sa­gen gab, im Film zu­min­dest, die mich sehr be­rührt ha­ben. Die stoi­sche Mo­ra­li­tät bis hin zur Selbst­auf­ga­be von Roz zum Bei­spiel — was aber auch da­durch be­ein­flusst sein kann, dass ich Ro­bin Wright als Schau­spie­le­rin ein­fach ger­ne sehe. 

    LG und ei­nen gu­ten Rutsch ins (Lese)jahr 2014,
    Katarina 🙂

    1. Dan­ke für Dei­nen Ein­druck zum Film, Katarina.
      Be­ein­druckt hat mich le­dig­lich der Be­ginn der Er­zäh­lung, zu der Fi­gur The­re­sa konn­te ich auch ei­ne ge­wis­se Em­pa­thie ent­wi­ckeln. Aber als dann der gol­de­ne Tau zu trop­fen be­gann, war es für mich vorbei.
      Taucht die­se The­re­sa ei­gent­lich im Film auf?

      Ich wün­sche Dir ein gu­tes neu­es Jahr und vie­le gu­te Bücher!

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