Iwan Bunins Kunst über die Liebe zu schreiben
„Im Westen war der Himmel reingefegt, Gold lugte aus dieser Richtung hinter schönen, ins Violett spielenden Wolken hervor und überglänzte seltsam das ärmliche Liebesasyl, dieses Asyl einer unbegreiflichen Liebe, die ein ganzes menschliches Leben in ein ekstatisches Einsiedlerdasein verwandelt hatte, ein Leben, das möglicherweise völlig alltäglich hätte verlaufen sollen, wäre nicht diese in ihrem Zauber so rätselhafte Luschka aufgetaucht.”
Dass die Liebe eines der Lieblingsthemen der schönen Literatur sei, ist eine Binsenweisheit. Bibliotheken voller Lyrik und Prosa um das Glück oder eher um das Unglück, das dieses Gefühl auszulösen vermag, bestätigen dies. Auch Ratgeber wachsen stets aufs Neue nach. Können sie sich doch ihrer Käufer und Leser gewiss sein, denn die Liebe scheint auf alle Zeit ein undurchdringliches Phänomen zu bleiben. Ein Regelwerk, das zum klaren Handeln anleitet, vor Verstößen warnt und somit Fehler zu vermeiden hilft, existiert bisher meines Wissens nicht. Oder doch?
Der russische Literaturnobelpreisträger Iwan Bunin berichtet in seiner 1915 erschienenen gleichnamigen Erzählung von einer „Grammatik der Liebe“. Ihr Entdecker ist ein gewisser Iwlew, der Vorname erinnert nicht nur an den Autor selbst sondern auch an Lew Tolstoi, den Bunin verehrte. Iwlew befindet sich auf einer Kutschfahrt durch den russischen Landsommer, dessen laue Atmosphäre Bunin mit Blütenstaub und Lerchenklang evoziert.
Doch das Idyll bröckelt, die Kutsche ist ebenso herunter gekommen wie der Bauernbursche, der sie missmutig lenkt um ein paar Münzen zu machen. Auch das Wetter wird unfreundlich und man hält vor einem Gut um die Pferde zu schonen. Während der Kutscher sich unter einer Decke vor dem Regen schützt, nimmt Iwlew einen Tee bei der Gräfin. Das Gebäck allerdings trägt Fliegenflecken, von Prunk kann keine Rede sein, der ist schon lange aus der verarmten Region entschwunden. Misswirtschaft, Hungersnöte, ausbleibende Reformen und die gerade überwundene Leibeigenschaft treiben um 1860 die russischen Landgebiete jenseits der Industrialisierungszentren in den Ruin.
Bunin schildert die abgewirtschaftete Gutsherrengesellschaft fern jeder Perspektive. Trost bietet nur die Natur. Wilde Erdbeeren und Bienenstöcke bergen Ahnungen, von denen auch die rosa gekleidete Gräfin mit den verführerisch runden Armen zu erzählen weiß. Sie bringt die Rede auf Chwostschinski, einen benachbarten Gutsbesitzer, der vor einem Jahr gestorben ist. Dieser im Grunde unauffällige Mann unterschied sich durch seine Art zu lieben. Zwanzig Jahre erinnerte er sich an seine frühverstorbene Luschka und vergaß darüber den Rest der Welt. Er blieb einfach auf ihrem Bett sitzen und las. Auch Iwlew war diese legendäre Liebe zu Ohren gekommen, er sei in seiner „Jugend beinahe selber in sie verliebt“ gewesen. Seine Neugier auf den Ort des Geschehens und ein immer stärker werdender Regen treiben ihn schließlich zum „verödeten Heiligtum der geheimnisvollen Luschka“. Dort führt der Sohn den vorgeblich an der Bibliothek interessierten Iwlew in die verlassenen Räume. Der Leseschatz des trauernden Chwostschinski hat in zwei kleinen Bücherschränken Platz, in denen Iwlew allerlei entdeckt. Darunter auch ein Buch vom Format eines Gebetbuches. „Es war ein winziges, vor beinah hundert Jahren erschienenes und reizend ausgestattetes Bändchen: Die Grammatik der Liebe oder Die Kunst, zu lieben und wiedergeliebt zu werden“. Wir ahnen, daß Iwlew alles daran setzten wird, es in seinen Besitz zu bringen.
In dieser kleinen, zehn Seiten starken Erzählung, lässt Bunin die Motive von Liebe und Treue in vielfacher Weise aufscheinen. Wir begegnen nicht nur der appetitlichen Gräfin in Rosa, die selbst unappetitliches Gebäck zur Nebensache werden lässt, sondern Hunden, die ein längst verlassenes Gehöft noch immer bewachen. Ein Strauch mit blaßrosa Blüten säumt den Wegesrand, wilde Erdbeeren bringen eine Wiese zum Lodern, in der Bienenstöcke stehen. Die Honigbienen, Begleiter des Eros, finden sich auch im verwaisten Liebesasyl von Chwostschinskoje, leblos übersäen sie den Boden.
„Grammatik der Liebe“ ist eine der vielen Erzählungen die Iwan Bunin, der Meister der Melancholie, dem Sujet der Liebe widmet. Daneben setzt der 1870 als Sohn eines verarmten Landadligen geborene Schriftsteller sich mit der Krise der Landbevölkerung auseinander. In seinen Gedichten und Erzählungen gibt der mehrmals verheiratete Autor Auskunft über seine emotionalen Erfahrungen. Tätig war er als Redakteur und Bibliothekar, zudem liebte er das Malen, was seine Beobachtungsgabe bezeugt. Sein impressionistischer Stil gepaart mit einem klaren Ausdruck beeindruckte schon Thomas Mann, André Gide und Maxim Gorki. Bunin, dem die Russische Akademie der Wissenschaften 1903 und 1909 den Puschkin-Preis verlieh, emigrierte 1920 nach Frankreich, wo er 1953 starb. Den Literaturnobelpreis erhielt er als erster russischer Autor im Jahr 1933.
Der Klappentext meines leider nur noch antiquarisch erhältlichen Bandes bezeichnet Iwan Bunin als „Autor von Weltrang, den es hierzulande noch zu entdecken gilt“. Möglich macht dies nun die Neuauflage seines Werks im Dörlemann Verlag in der Übersetzung von Dorothea Trottenberg.
Iwan Bunin, Grammatik der Liebe, übers. v. Horst Bienek, Piper Verlag, 3. Aufl. 1986
In letzter Zeit laufen mir russische Autoren ständig vor die Füsse. Nun auch noch bei dir 🙂
Schön, dass diese grossartigen Schriftsteller nicht in Vergessenheit geraten. Vielen Dank fürs Erinnern.
Du hast recht. Es ist nicht unbedingt das Schlechteste, was in den Regalen verstaubt .
Die Idee, diese Erzählung von Bunin zu besprechen, kam mir nach der enttäuschenden Lessing-Lektüre. „Was Nobelpreisträger über Liebe schreiben”, werde ich demnächst durch einen Beitrag über Alice Munro ergänzen.