Wirkmächtige Schatten

Mit „Unmöglicher Abschied“ errichtet Han Kang den Opfern ein Mahnmal zwischen Traum und Realität

Es schnei­te stark. Ich stand auf ei­nem Acker, an des­sen ei­nem En­de sich ein nied­ri­ger Berg an­schloss. Auf die­ser Sei­te war er vom Fuß bis zur Kup­pe mit Tau­sen­den von schwar­zen Baum­stäm­men be­stan­den, die et­wa so dick wie Ei­sen­bahn­schwel­len und ver­schie­den hoch wa­ren, wie Men­schen un­ter­schied­li­chen Al­ters. Zu­gleich wa­ren sie nicht ker­zen­ge­ra­de ge­wach­sen, son­dern leicht ge­bo­gen oder ge­neigt und wirk­ten, als hät­te man am Hang Tau­sen­de von Män­nern, Frau­en und ma­ge­ren Kin­dern im Schnee aus­ge­setzt, die die Schul­tern hoch­zo­gen. Ist das hier ein Fried­hof?, fra­ge ich mich.“

Den Li­te­ra­tur-No­bel­preis des ver­gan­ge­nen Jah­res er­hielt Han Kang, de­ren Ro­ma­ne in ih­rer Hei­mat Süd­ko­rea sehr er­folg­reich sind und die mit „Die Ve­ge­ta­rie­rin“ welt­weit Fu­ro­re mach­te. Die 1970 ge­bo­re­ne Schrift­stel­le­rin stu­dier­te Ko­rea­ni­sche Li­te­ra­tur und un­ter­rich­te­te Krea­ti­ves Schrei­ben. Sie de­bü­tier­te mit Ge­dich­ten und ver­fass­te meh­re­re Ro­ma­ne. Der No­bel­prei­ses „für ih­re in­ten­si­ve Pro­sa, die sich his­to­ri­schen Trau­ma­ta stellt und die Zer­brech­lich­keit des mensch­li­chen Le­bens auf­zeigt“, schenk­te al­ler­dings nicht nur der Au­torin selbst Auf­merk­sam­keit. Er lenk­te den Blick auf die his­to­ri­sche Ver­gan­gen­heit Süd­ko­re­as, die eu­ro­päi­schen Le­sern weit­ge­hend un­be­kannt sein dürfte.

Es ist vor al­lem die Ge­walt­ge­schich­te des Lan­des, die Han Kang im­mer wie­der in ih­re Wer­ke ein­flie­ßen lässt. So auch in ih­rem jüngst auf Deutsch ver­öf­fent­lich­ten Ro­man „Un­mög­li­cher Ab­schied“. In Süd­ko­rea er­schien er be­reits 2021, sein ins Eng­li­sche tran­skri­bier­ter Ti­tel lau­tet „We do not part“„Wir tren­nen uns nicht“.

Kei­ne Tren­nung, kein Ver­ab­schie­den, kein Ver­ges­sen! Das gilt auch für die Op­fer des 1948 auf der In­sel Je­ju durch­ge­führ­ten Mas­sa­kers. Gan­ze Dör­fer wur­den vom Mi­li­tär­re­gime Ko­re­as un­ter ja­pa­ni­schem Mit­wir­ken und us-ame­ri­ka­ni­scher Dul­dung zer­stört, 30000 Men­schen hin­ge­rich­tet. Die­sen Op­fern ih­re Wür­de zu­rück­zu­ge­ben, in­dem sie an ihr Schick­sal er­in­nert, ist Han Kangs Mo­tiv. Sie er­zählt da­von nicht in grad­li­ni­ger Wei­se, son­dern ver­webt in ih­rer hoch­li­te­ra­ri­schen Kunst viel­fäl­ti­ge Er­zähl­ebe­nen, Pro­sa und Poe­sie, Rea­les und Sur­rea­les mit Frag­men­ten his­to­ri­scher Zeugnisse.

Al­les be­ginnt mit ei­nem Traum von schwar­zen Baum­stäm­men im Schnee, der Han Kang, wie sie in ei­nem In­ter­view be­kann­te, wirk­lich wi­der­fuhr, und aus dem ih­re bei­den Prot­ago­nis­tin­nen die Idee für ein Kunst­pro­jekt ent­wi­ckeln. Das Mahn­mal soll an die Op­fer des Je­ju-Mas­sa­kers er­in­nern. Die bei­den Frau­en, Gye­on­gha und In­se­on sind be­freun­de­te So­li­tä­re. Sie ken­nen sich seit ih­rer Zu­sam­men­ar­beit als Re­por­te­rin und Ka­me­ra­frau, se­hen sich je­doch sel­ten. Gye­on­gha, die Schrift­stel­le­rin, lebt al­lei­ne in Seo­ul, die Re­cher­che zu ei­nem Mas­sa­ker führt sie in ei­ne De­pres­si­on, die Le­ben und Schrei­ben glei­cher­ma­ßen lähmt. Die Künst­le­rin In­se­on ar­bei­tet in ei­nem ein­sam ge­le­ge­nen Haus auf Je­ju an den Skulp­tu­ren für das Mahn­mal bis zu ei­nem Un­fall mit der Kreis­sä­ge. Das Un­recht von einst fügt auch den Nach­ge­bo­re­nen noch Leid zu. Doch es führt die Freun­din­nen auch wie­der zu­sam­men. In­se­on bit­tet Gye­on­gha nach Je­ju zu rei­sen, um ihr Haus­tier, den Pa­pa­gei­en Ama, vor dem Tod zu be­wah­ren. Gye­on­gha wil­ligt ein, sie hat nichts an­de­res, was auf sie wartet.

In die­sem ers­ten der ins­ge­samt drei Tei­le des Ro­mans be­geg­nen wir ei­ner nach­voll­zieh­ba­ren Rea­li­tät, auch wenn sich in die Hit­ze Seo­uls, die Be­hand­lung im Kran­ken­haus und die Rei­se nach Je­ju Träu­me und Er­in­ne­run­gen mi­schen. Die­se sind al­ler­dings frag­men­tiert und er­schlie­ßen sich erst im Lau­fe des Ro­mans. Des­sen zwei­ter Teil be­gibt sich in ei­nen Schnee­sturm auf Je­ju und ins Sur­rea­le, aus dem die Zu­sam­men­hän­ge der his­to­ri­schen Er­eig­nis­se nach und nach auftauchen.

Durch die Schil­de­rung der Na­tur­ge­wal­ten, Hit­ze, Käl­te, Schnee, Was­ser er­zeugt Han Kang At­mo­sphä­ren, die schau­dern las­sen. Hit­ze wie Käl­te stei­gern sich ins Un­er­träg­li­che, gleich­zei­tig deckt der Schnee die­ses zu. So lan­ge bis je­mand kommt und ihn weg­wischt. Ein ge­fähr­li­ches Un­ter­fan­gen, denn im tie­fen Schnee droht das Versinken.

Ge­nau das ge­schieht Gye­on­gha auf der letz­ten Etap­pe ih­rer Rei­se. Im dunk­len Wald zu In­se­ons Haus rutscht sie vom Weg ab und lan­det in ei­ner Schnee­we­he. Un­fä­hig sich zu be­frei­en, kämpft sie ge­gen den Schlaf. Ver­trau­te Men­schen er­schei­nen ihr als Vi­sio­nen und sie fragt sich, „ob das ein ty­pi­sches Phä­no­men für den be­vor­ste­hen­den Tod ist“. Das fragt sich auch die Le­se­rin. Der Ro­man er­hält da­durch ne­ben sei­ner li­te­ra­ri­schen und his­to­ri­schen Qua­li­tät Span­nung. Zu­dem ist es so mög­lich, Ir­rea­les ein­zu­ord­nen. Han Kang lässt ih­re Prot­ago­nis­tin nach ei­ner Nacht im Schnee auf­er­ste­hen. Sie er­reicht das Haus, sieht die Blut­spu­ren in der Werk­statt und den Vo­gel. Der liegt tot in sei­nem Kä­fig, sie be­stat­tet ihn und fällt in ei­nen tie­fen Schlaf. Als sie am nächs­ten Tag er­wacht, er­blickt sie mit Stau­nen nicht nur Ami, der mun­ter aus sei­ner Was­ser­scha­le trinkt, plötz­lich sieht sie auch In­se­on, eben­falls un­ver­sehrt. Gye­on­gha be­zwei­felt ih­re Wahr­neh­mung und zieht den Schluss, „Wenn ih­re See­le ge­kom­men ist, mich zu be­su­chen, bin ich am Le­ben; ist je­doch sie am Le­ben, dann bin ich als See­le hier“. Viel­leicht sit­zen auch zwei To­te bei­ein­an­der, fra­ge ich mich. Vie­le Aus­sa­gen deu­ten dar­auf hin. „Ich bin zum Ster­ben her­ge­kom­men“ und „Nun fällt seit ei­ni­ger Zeit hin­ter mei­nen Li­dern Schnee“ lau­ten die Ge­dan­ken Gye­on­ghas oder bes­ser die ih­res Schat­tens, den sie im Zu­sam­men­tref­fen mit der Freun­din be­merkt, „Un­se­re Kör­per be­rüh­ren sich nicht, aber un­se­re Schat­ten glei­ten über die Wän­de wie zwei Rie­sen“.

Auch die to­ten Vö­gel Ami und Ama er­schei­nen als Schat­ten. Die To­ten des Mas­sa­kers er­schei­nen hin­ge­gen in den Zeug­nis­sen, die In­se­on ge­sam­melt hat. Die Zei­tungs­ar­ti­kel, Do­ku­men­ta­tio­nen und Fo­to­gra­fien er­zäh­len von ih­rem er­lit­te­nen Un­recht. Auch das Mahn­mal der bei­den Künst­le­rin­nen will die Op­fer vor dem Ver­ges­sen be­wah­ren. Es will das Ge­bot des Schwei­gens bre­chen, die ein­ge­fro­re­nen Ge­füh­le auf­tau­en, die Trau­er zu­las­sen. Die To­ten wer­den in die­sem Ro­man eben­so wirk­mäch­tig wie die Lebenden.

Das ver­dan­ken sie Han Kang li­te­ra­ri­schem Kön­nen, das Hand­lung, In­tro­spek­ti­on und Er­in­ne­rung mit­ein­an­der ver­webt und durch Sym­bo­le auf­lädt. Manch­mal spie­geln sich die Er­eig­nis­se von da­mals in den Er­leb­nis­sen der Prot­ago­nis­tin­nen. „Es gibt kei­nen Grund aus­zu­schlie­ßen, dass die­ser gan­ze Schnee auf mei­nem Kör­per iden­tisch ist mit den brü­chi­gen Eis­kris­tal­len, nach de­nen ich als 5‑jährige in K am Tag des ers­ten Schnees mei­ne Hän­de aus­streck­te, mit den Was­ser­trop­fen, die mich als Drei­ßig­jäh­ri­ge auf dem Fahr­rad am Fluß­u­fer von Seo­ul im Re­gen durch­tränk­ten, mit der blut­ver­schmier­ten dün­nen Frost­schicht, die vor 70 Jah­ren auf ei­nem Schul­ge­län­de die­ser In­sel Hun­der­te Kin­der, Frau­en und Grei­se be­deck­te und un­kennt­lich mach­te.“ Die Na­tur ver­gisst nichts und ver­bin­det die Ge­gen­wart mit der Vergangenheit.

Han Kang, Unmöglicher Abschied, übers. v. Ki-Hyang Lee, Aufbau Verlag 2024

Land der Erinnerung“

Abdulrazak Gurnah erzählt in „Ferne Gestade“, wie die Zeit die Erinnerung zerstückelt und ein Duft sie wieder zusammenfügt

Viel­leicht wä­re ich so­gar vor die­ser Er­in­ne­rung da­von­ge­lau­fen, be­vor sie über­mäch­tig wur­de und mich über­wäl­tig­te und an­de­re Ge­dan­ken in mir wach­rief, die ich bis­her ver­läss­lich ver­drängt hat­te. Im Lau­fe der Zeit sind so vie­le kla­re, deut­lich um­ris­se­ne Ein­zel­hei­ten un­scharf und ver­schwom­men ge­wor­den. Viel­leicht ist es das, was das Alt­wer­den be­deu­tet. Und mög­li­cher­wei­se be­steht die Wir­kung von Son­ne und Wind dar­in, ei­ne Ein­zel­heit nach der an­de­ren aus dem Bild zu lö­schen und das Bild selbst in den pel­zi­gen Schat­ten sei­ner selbst zu ver­wan­deln. Trotz­dem blei­ben nach all dem Ver­blas­sen und Ver­schwim­men noch so vie­le Ein­zel­hei­ten er­hal­ten, die ei­nem nun als noch kar­ge­re Teil­chen des Gan­zen er­schei­nen: ein war­mer Aus­druck in den Au­gen, wenn man sich an das Ge­sicht nicht mehr er­in­nern kann, ein Ge­ruch, der die Er­in­ne­rung an ei­ne Mu­sik wach­ruft, de­ren Me­lo­die nicht mehr län­ger fass­bar ist, die Er­in­ne­rung an ein Zim­mer, wenn man das Haus oder sei­nen Stand­ort ver­ges­sen hat, ei­ne Wei­de am Stra­ßen­rand in­mit­ten ei­ner gro­ßen Lee­re. Auf die­se Wei­se zer­stü­ckelt und ver­stüm­melt die Zeit die Bil­der un­se­res Lebens.“

Wie ent­steht Er­in­ne­rung? Ver­än­dert sie sich mit den Jah­ren? Und was er­weckt sie wie­der? Ab­hän­gig von der Wahr­neh­mung und der Ver­ar­bei­tung ent­steht im Lau­fe der Zeit ein au­to­bio­gra­phi­sches Ge­dächt­nis, an dem un­se­re Phan­ta­sie auf nicht un­be­trächt­li­che Wei­se be­tei­ligt ist. So kann es ge­sche­hen, daß zwei Men­schen auf ge­mein­sam Er­leb­tes oft un­ter­schied­lich zu­rück­bli­cken. Die­se Kon­stel­la­ti­on liegt auch dem Ro­man Fer­ne Ge­sta­de des 2021 mit dem Li­te­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­ne­ten Ab­dul­razak Gur­nah zu­grun­de. Der Ro­man wur­de 2001 erst­mals in Groß­bri­tan­ni­en ver­öf­fent­licht, ein Jahr spä­ter er­schien er in der Über­set­zung von Tho­mas Brück­ner in Deutsch­land und wur­de nun in re­vi­dier­ter Über­set­zung neu auf­ge­legt. Gur­nah kam als Flücht­ling aus San­si­bar nach Eng­land, wo er seit­dem lebt. Die­ses Schick­sal teilt er mit sei­nen Prot­ago­nis­ten. Der jün­ge­re, La­tif Mah­mud, war bei der An­kunft wie der Au­tor Land der Er­in­ne­rung““ weiterlesen

Konstrukt Weltliteratur

Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ — Tim Parks über Literatur

Es ist ei­ne Wei­le her, da ha­be ich un­ter dem Ti­tel „Wor­über wir re­den, wenn wir über Bü­cher re­den“ ein Buch be­spro­chen, wel­ches nicht nur wie das vor­lie­gen­de im Kunst­mann Ver­lag er­scheint, son­dern des­sen Au­tor, Pierre Ba­yard wie Tim Parks auch wis­sen­schaft­lich der Li­te­ra­tur zu­ge­wandt ist. Wäh­rend Ba­yard zur Lü­cke an­lei­tet un­ter dem ori­gi­nal­ge­treu über­setz­ten Ti­tel „Wie man über Bü­cher spricht, die man nicht ge­le­sen hat“, er­läu­tert Parks in „Whe­re I’m Re­a­ding from“ sei­ne Sicht aufs Le­sen. Sei­ne Es­says zu fast al­len Aspek­ten des Le­sens und Schrei­bens lie­gen nun in der Über­set­zung von Ul­ri­ke Be­cker und Ruth Keen als „Wor­über wir spre­chen, wenn wir über Bü­cher spre­chen“ vor. Ein wirk­lich schö­ner Titel.

Parks Buch ist nur un­we­sent­lich län­ger als die char­man­te Schum­mel­fi­bel sei­nes fran­zö­si­schen Kol­le­gen. Gut 230 Sei­ten, por­tio­niert in vier Tei­le mit 33 Ka­pi­teln, wid­men sich dem Buch und der Welt. Wie ist ein Ro­man ge­macht? Wie­so wird er ein Er­folg? Was macht uns auf ihn so auf­merk­sam, daß wir ihn le­sen und über ihn re­den wol­len? Parks Kern­the­ma wird bald klar. In der glo­ba­li­sier­ten Welt dro­he ei­ne „Kon­strukt Welt­li­te­ra­tur“ weiterlesen

Sushi Murakami — Resümee

Die Lesereise der verblüfften Frau Atalante

Mu­ra­ka­mi wählt für sei­nen Ro­man „Die Pil­ger­jah­re des farb­lo­sen Herrn Ta­za­ki“ ein tra­gi­sches The­ma. Die Ver­ban­nung aus dem Freun­des­kreis ver­ur­sacht durch ei­ne Ver­leum­dung. Ein der­ar­ti­ges Er­eig­nis kann man oh­ne wei­te­res als Mob­bing be­zeich­nen, ein uni­ver­sel­les Pro­blem al­so, was kei­nes­falls nur auf Ja­pan be­schränkt ist. Je­der hat sol­ches in der ein oder an­de­ren hof­fent­lich schwä­che­ren Form schon er­lebt, des­halb spricht der Ro­man vie­le an. Zu­dem wird von sol­chen Skan­da­len ger­ne ge­le­sen. Mord und Tot­schlag be­die­nen den Voy­eu­ris­mus und das schö­ne Ge­fühl, daß es schlim­me­re Schick­sa­le als das ei­ge­ne gibt.

Bei den Pil­ger­jah­ren han­delt es sich um ei­nen An­schlag auf die Psy­che. (Ich mei­ne jetzt na­tür­lich das Er­leb­nis des Herrn Ta­za­ki.) Ei­ne un­er­klär­li­che Zu­rück­wei­sung zu er­le­ben ist ei­ne trau­ma­ti­sche Er­fah­rung. Le­ser wie Op­fer rät­seln in die­sem Buch über die Ur­sa­che und dies von An­fang an. Die­se „Su­shi Mu­ra­ka­mi — Re­sü­mee“ weiterlesen

Schuldlos schuldig

Alice Munro erweckt die Moiren in ihren Erzählungen „Entscheidung“, „Bald“ und „Schweigen“

MunroDie al­ten Grie­chen sa­hen ihr Le­ben als von den Göt­tern vor­her­be­stimmt. Wel­cher Art und wie groß das Glück oder Un­glück ei­nes Ein­zel­nen war galt ih­nen als un­ver­rück­bar. Am Schick­sals­fa­den der Moi­ren hin­gen al­le Be­zie­hun­gen im Le­bens­ver­lauf. Wie ei­ne an­ti­ke Schick­sals­göt­tin spinnt auch Ali­ce Mun­ro am Fa­den ih­rer Prot­ago­nis­tin Ju­liet in den drei in­halt­lich und for­mal auf­ein­an­der­fol­gen­den Er­zäh­lun­gen Chan­ce, So­on und Si­lence. Sie sind Teil des 2004 er­schie­nen Samm­lung Tricks. Li­te­ra­ri­sche Tricks be­herrscht die Au­torin in meis­ter­haf­ter Wei­se, wie ihr zu­letzt das No­bel­preis­ko­mi­tee be­stä­tig­te. Be­mer­kens­wert ist Mun­ros Ta­lent, auf we­ni­gen Sei­ten die un­vor­her­ge­se­he­nen Wen­dun­gen ei­nes gan­zen Le­bens darzustellen.

Im ers­ten Teil, der in der deut­schen Über­set­zung von Hei­di Zer­ning den Ti­tel „Ent­schei­dung“ trägt, be­geg­nen wir Ju­liet, ei­ner er­folg­rei­chen Stu­den­tin der Alt­phi­lo­lo­gin. Nicht nur ihr Stu­di­en­fach wi­der­spricht dem Rol­len­mo­del ei­ner jun­gen Frau, ‑die Hand­lung spielt im Jahr 1965‑, auch Ju­liet selbst ver­hält sich un­an­ge­passt. Ih­re Pro­fes­so­ren ra­ten ihr aus die­sem Grund trotz ih­res viel­ver­spre­chen­den Ta­lents ei­ne Stel­le als „Schuld­los schul­dig“ weiterlesen

Grammatik der Liebe

Iwan Bunins Kunst über die Liebe zu schreiben

Grammatik der LiebeIm Wes­ten war der Him­mel rein­ge­fegt, Gold lug­te aus die­ser Rich­tung hin­ter schö­nen, ins Vio­lett spie­len­den Wol­ken her­vor und über­glänz­te selt­sam das ärm­li­che Lie­bes­asyl, die­ses Asyl ei­ner un­be­greif­li­chen Lie­be, die ein gan­zes mensch­li­ches Le­ben in ein ek­sta­ti­sches Ein­sied­ler­da­sein ver­wan­delt hat­te, ein Le­ben, das mög­li­cher­wei­se völ­lig all­täg­lich hät­te ver­lau­fen sol­len, wä­re nicht die­se in ih­rem Zau­ber so rät­sel­haf­te Lusch­ka aufgetaucht.”

Dass die Lie­be ei­nes der Lieb­lings­the­men der schö­nen Li­te­ra­tur sei, ist ei­ne Bin­sen­weis­heit. Bi­blio­the­ken vol­ler Ly­rik und Pro­sa um das Glück oder eher um das Un­glück, das die­ses Ge­fühl aus­zu­lö­sen ver­mag, be­stä­ti­gen dies. Auch Rat­ge­ber wach­sen stets aufs Neue nach. Kön­nen sie sich doch ih­rer Käu­fer und Le­ser ge­wiss sein, denn die Lie­be scheint auf al­le Zeit ein un­durch­dring­li­ches Phä­no­men zu blei­ben. Ein Re­gel­werk, das zum kla­ren Han­deln an­lei­tet, vor Ver­stö­ßen warnt und so­mit Feh­ler zu ver­mei­den hilft, exis­tiert bis­her mei­nes Wis­sens nicht. Oder doch?

Der rus­si­sche Li­te­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger Iwan Bu­nin be­rich­tet in sei­ner 1915 er­schie­ne­nen gleich­na­mi­gen Er­zäh­lung von ei­ner „Gram­ma­tik der Lie­be“. Ihr Ent­de­cker ist ein ge­wis­ser „Gram­ma­tik der Lie­be“ weiterlesen

Schwindelnde Höhen der Literatur

In ihrem neuen Roman „Schwindlerinnen“ spielt Kerstin Ekman mit den Lügen der Schriftsteller

Ekman, SchwindlerinnenVom Schwin­del be­fal­len weiß man nicht wo oben und un­ten. Ob links oder rechts, al­les dreht sich, die Ori­en­tie­rung ist ver­wirrt, manch­mal ganz und gar ver­lo­ren. Als Schwin­del wer­den auch Lü­gen be­zeich­net, harm­lo­se, läss­li­che. Sie of­fen­ba­ren nicht je­dem al­les, ber­gen min­des­tens ein Ge­heim­nis, sei es auch nur ein klei­ner Trick. Aber wer kann schon oh­ne die­se klei­nen Tricks le­ben?  Sie die­nen der Le­bens­be­wäl­ti­gung und nicht sel­ten sind sie ein wich­ti­ger Be­stand­teil des Me­tiers. Auch Schrift­stel­ler be­die­nen sich als Il­lu­si­ons­künst­ler krea­ti­ver Schwin­de­lei­en, die nicht nur ihr Werk son­dern auch ih­re Per­son be­tref­fen. Wenn auch der Groß­teil der Schreib­künst­ler in­zwi­schen ihr öf­fent­li­ches Ego als Be­stand­teil der Er­folgs­stra­te­gie be­greift, so gibt es im­mer noch Au­toren, die ih­re An­ony­mi­tät zu wah­ren wis­sen. Das Ge­heim­nis um ih­re Per­son scheint der Selbst­schutz, oh­ne den kei­ne Kunst ent­ste­hen kann.

So er­geht es auch Bab­ro An­ders­son, kurz Bab­ba, der Schrift­stel­le­rin in Kers­tin Ek­mans „Schwind­le­rin­nen“. Von un­at­trak­ti­vem Äu­ße­ren be­wegt sich die in ei­ner Ar­bei­ter­fa­mi­lie groß­ge­wor­de­ne Bab­ba un­si­cher zwi­schen Men­schen. Als stu­dier­te Phi­lo­lo­gin be­vor­zugt sie die Ge­gen­wart der Bü­cher. Sie ar­bei­tet als Bi­blio­the­ka­rin in der Stadt­bü­che­rei, auf de­ren Kar­tei­kar­ten sie ih­re Schreib­ideen no­tiert. Als sie ei­nes Ta­ges aus die­sen Ein­fäl­len ei­ne Ge­schich­te spinnt, schickt ihr Freund die­se oh­ne ihr Wis­sen an ei­ne Zeit­schrift. Das Ab­leh­nungs­schrei­ben of­fen­bart ihr nicht nur den Ver­rat, son­dern eben­so die Er­kennt­nis, daß sie, Bab­ba An­ders­son, so wie sie wirk­lich ist, nie­mals als Schrift­stel­le­rin zu Ruhm ge­lan­gen kön­ne. Da­zu sei sie nun mal ein­fach we­der flott noch at­trak­tiv ge­nug. „Leu­te, die schrift­stel­lern­de Frau­en rühm­ten, lieb­ten die­ses Wort. Frau­en soll­ten flott schrei­ben. Und rank und schlank sein.“

Hier kommt die an­de­re Haupt­fi­gur des Ro­mans ins Spiel, Lil­lem­or Troj. Sie er­füllt die auf­ge­stell­ten Kri­te­ri­en, wes­halb Bab­ba sie zur Stell­ver­tre­te­rin wählt. Sie wird ihr öf­fent­li­ches Ali­as, un­ter ih­rem Na­men und mit ih­rem Ge­sicht er­scheint Bab­bas Li­te­ra­tur. Lil­lem­or ist nicht nur äu­ßerst vor­zeig­bar. Als Toch­ter aus gu­tem Haus weiß sie sich auf öf­fent­li­chem Par­kett zu be­we­gen. Per­fekt in Mo­de wie Ma­nie­ren be­wäl­tigt sie den schrift­stel­le­ri­schen Small­talk. Zu­dem tippt und re­di­giert sie, was Bab­ba auf die Sei­ten des Spi­ral­blocks schreibt. Lil­lem­or ach­tet auf Lo­gik und Struk­tur und spä­tes­tens, wenn bei­de Frau­en die Fe­ri­en­wo­chen in ei­ner ent­le­ge­nen Ka­te im Wald ver­brin­gen, wird Lil­lem­or zu Bab­bas Co-Autorin.

Al­ler­dings er­for­dert ih­re ge­mein­sa­me Au­tor­schaft im­mer stär­ke­re Ge­heim­hal­tung. Nicht nur die Män­ner der bei­den er­wei­sen sich als Ge­fahr, auch ih­re ei­ge­nen Müt­ter. Im­mer ver­deckt vor­der­grün­dig die Wahr­heits­lie­be die ei­gent­li­chen ego­is­ti­schen An­trie­be der Neu­gie­ri­gen. Den­noch ge­lingt es Bei­den die Preis­ga­be ih­res Tricks zu ver­hin­dern bis sie selbst zu Ver­rä­tern wer­den. In ih­rem neu­es­ten Ro­man­ent­wurf ent­hüllt Bab­ba die wah­re Ge­schich­te und sen­det sie un­ter ih­rem ei­ge­nen Na­men an ei­nen Ver­lag. Die­ser ver­mu­tet Lil­lem­or Troj hät­te un­ter Pseud­onym ih­re Bio­gra­phie ver­fasst und ver­mit­telt den Text an de­ren Ver­lag, der wie­der­rum die ver­meint­li­che Au­torin da­mit konfrontiert.

Hier setzt „Schwind­le­rin­nen“ ein. Wir le­sen mit Lil­lem­or Ka­pi­tel um Ka­pi­tel der un­ge­heu­er­li­chen Wahr­heit, die Bab­ba An­der­son in der Ich-Per­spek­ti­ve er­zählt. Da­zwi­schen er­fah­ren wir, was Lil­lem­or dar­über denkt. Ih­re Ver­si­on schil­dert der all­wis­sen­de Er­zäh­ler. Die Ge­gen­über­stel­lung die­ser bei­den Wahr­hei­ten er­zeugt nicht nur den gro­ßen Reiz der Kon­struk­ti­on, son­dern auch ei­ne Span­nung, die durch den im­mer­hin an die 500 Sei­ten star­ken Ro­man trägt. Kers­tin Ek­man, die in die­sem Jahr acht­zig Jah­re alt wird, und de­ren voll­stän­di­ger Na­me Kers­tin Lil­lem­or Hjorth Ek­man aus Grün­den der Wahr­heit nicht un­er­wähnt blei­ben soll, hat ei­nen um­fang­rei­chen Ro­man ge­schrie­ben. Im­mer­hin schil­dert sie über sech­zig Jah­re ei­nes er­folg­rei­chen Au­torin­nen­le­bens oder bes­ser drei­er er­folg­rei­cher Au­torin­nen­le­ben, Bab­bas, Lil­lem­ors, wie ihr ei­ge­nes, wel­ches in Fa­cet­ten in de­nen ih­rer Stell­ver­tre­te­rin­nen auf­scheint. Wie Lil­lem­or wur­de auch Ek­man zum Mit­glied der Schwe­di­schen Aka­de­mie er­ko­ren, be­sitzt al­so aus­rei­chen­de In­for­ma­ti­on um die­sen Aspekt in ih­rer Li­te­ra­tur­be­triebs­sa­ti­re sub­til aus­zu­leuch­ten. Sie zeigt, wie nicht nur in die­sem Gre­mi­um Prei­se ver­ge­ben und an­hand wel­cher Kri­te­ri­en Preis­trä­ger ge­macht wer­den. In die­sem letzt­end­lich po­li­ti­schen Ge­schäft zählt mehr Schein als Sein. Dies ist wahr­lich kei­ne neue Er­kennt­nis, wird aber in die­sem Ro­man sehr schön in Sze­ne ge­setzt. Gleich­zei­tig ge­lingt Ek­man ein Ge­sell­schafts­pan­ora­ma, in dem sie ih­re Hel­din­nen von den re­strik­ti­ven Fünf­zi­gern über die Al­ter­na­tiv­kul­tur der nach­fol­gen­den Jahr­zehn­te bis in die heu­ti­ge Zeit be­glei­tet. In ei­ne Zeit, in der das Le­sen ei­nes rich­ti­gen Bu­ches zu ei­nem sub­ver­si­ven Akt wer­den kann, vor des­sen Fol­gen Bab­ba An­der­son warnt:

Li­te­ra­tur schä­digt das Ge­hirn und ver­min­dert die Fruchtbarkeit.“

Kers­tin Ek­man, Schwind­le­rin­nen, übers. v. Hed­wig Bin­der, Pi­per Ver­lag, 1. Aufl. 2012