Geiz als religiöser Wahn

Das Fräulein“ von Ivo Andrić „ist zufrieden mit sich selbst und dieser Welt, in der es überall und immer etwas zu sparen gibt“

Für sie gab es seit lan­gem zwei ganz ver­schie­de­ne, wenn auch nicht ganz von­ein­an­der ge­trenn­te Wel­ten. Die ei­ne war un­se­re Welt, das, was al­le Welt Welt nennt, die­se ganz ge­räusch­vol­le und un­über­seh­ba­re Er­de mit den Men­schen und ih­rem Le­ben, ih­ren Trie­ben, Sehn­süch­ten, Ge­dan­ke und Glau­bens­vor­stel­lun­gen, mit ih­rem ewi­gen Be­dürf­nis nach Auf­bau und Zer­stö­rung, mit dem un­ver­ständ­li­chen Spiel ge­gen­sei­ti­gen An­zie­hens und Ab­sto­ßens. Und die an­de­re, die an­de­re war die Welt des Gel­des, das Reich des Ge­winns und der Spar­sam­keit, ein ver­bor­ge­nes, stil­les, nur den we­nigs­ten be­kann­tes, aber un­end­li­ches Ge­biet des laut­lo­sen Kamp­fes und be­stän­di­gen Pla­nens, in dem Rech­nung und Maß wie zwei stum­me Gott­hei­ten herrschten.“

Geiz­kra­gen, Knicks­tie­bel, Furz­klem­mer, Knor­zer, zahl­reich sind die Be­grif­fe für Ty­pen, die je­den Pfen­nig zwei­mal um­dre­hen, um ihn dann doch im Sack zu las­sen. Man­che ha­ben es bis in die Li­te­ra­tur ge­schafft, wie Mo­liè­res Har­pa­gnon als ge­ra­de­zu ar­che­ty­pi­sche Fi­gur. Und wer kennt nicht die En­te oder ih­re mensch­li­che Ent­spre­chung, die lie­ber im Geld ba­det, als es aus­zu­ge­ben? Oder den Pfen­nig­fuch­ser, der bei je­dem noch so klei­nen Han­del feilscht? Die knaus­ri­gen Kni­cker knap­sen nicht zu­letzt auch bei sich selbst, denn „Spar­sam­keit ist ih­re Re­li­gi­on“. Sie ge­bär­den sich wie Ber­n­i­nis hei­li­ge Te­re­sa, wenn sie wie­der et­was bei­sei­te­le­gen, raus­schla­gen oder je­man­den über den Tisch zie­hen kön­nen. Ei­nem der­ar­ti­gen al­ler­dings weib­li­chen Geiz­dra­chen setz­te Ivo An­drić in „Das Fräu­lein“ ein Denkmal.

Der Klas­si­ker des No­bel­preis­trä­gers er­schien 1945 als Ab­schluss ei­ner Tri­lo­gie, die An­drić wäh­rend der Jah­re 1941 bis 1944 ver­fass­te. 2023 wur­de die von Ka­tha­ri­na Wolf-Grieß­ha­ber über­ar­bei­te­te Über­set­zung Ed­mund Schnee­weis‘ im Paul Zsol­nay Ver­lag er­neut auf­ge­legt. An­ders als „We­si­re und Kon­suln“ und „Die Brü­cke über die Dri­na“ wähl­te An­drić, so Mi­cha­el Mar­tens in sei­nem Nach­wort, als Hand­lungs­zeit für „Das Fräu­lein“ sei­ne Ge­gen­wart und grup­pier­te das Ge­sche­hen ganz um sei­ne Hauptfigur.

Der ei­gent­li­chen Hand­lung steht ein an­dert­halb­sei­ti­ger Pro­log vor­an. Er be­rich­tet, daß die al­lein­ste­hen­de Ra­j­ka Rad­ako­vić tot in ih­rem Haus auf­ge­fun­den wur­de. Ei­ne Fremd­ein­wir­kung lag nicht vor, was den Fall für die Zei­tun­gen un­in­ter­es­sant mach­te. Nicht je­doch für den aukt­oria­len Er­zäh­ler, der das Schick­sal des Fräu­leins schil­dern will. An­ders als ver­mu­tet, folgt je­doch nicht so­fort ein Rück­blick. An­drić lässt das ers­te Ka­pi­tel an ei­nem trü­ben Fe­bru­ar­tag des Jah­res 1935 be­gin­nen. Das Fräu­lein sitzt im un­ge­heiz­ten Zim­mer, nah am Fens­ter beim letz­ten Licht und taucht wäh­rend des Aus­bes­serns ih­rer oft ge­stopf­ten Strümp­fe in ih­re Ver­gan­gen­heit ein.

Ra­j­ka Rad­ako­vić war das „Spa­ren und Dul­den“ und das nach­fol­gen­de Wu­chern nicht in die Wie­ge ge­legt. Sie lebt in ei­nem wohl­ha­ben­den Kauf­manns­haus­halt und ver­göt­tert ih­ren Va­ter. Als die­ser durch sei­ne Red­lich­keit in den Ru­in ge­trie­ben im Ster­ben liegt, rät er sei­ner Er­bin sich völ­lig an­ders zu ver­hal­ten. „Du musst ge­gen dich und an­de­re un­barm­her­zig sein. Denn es ge­nügt nicht, Ab­stri­che an dei­nen Wün­schen und Be­dürf­nis­sen zu ma­chen; das ist der ge­rin­ge­re Teil der Spar­sam­keit; viel­mehr muss man vor al­lem und für im­mer all die so­ge­nann­ten hö­he­ren Rück­sich­ten in sich ab­tö­ten, die no­blen Ge­wohn­hei­ten wie in­ne­re Edel­mut, Groß­zü­gig­keit und Emp­find­sam­keit.“ So wur­de Ra­j­ka zu ei­nem „stren­gen und ego­zen­tri­schen We­sen, (…) das wuss­te, was es woll­te, und sich nur dar­um küm­mer­te, oh­ne zu be­rück­sich­ti­gen, was die Welt ihm bot oder auf­zu­drän­gen ver­such­te.“  Sie schot­tet sich ab, trifft kaum noch Freun­de. Ihr Ver­trau­ter, der kaum äl­te­re On­kel Vla­do, ver­sucht, sie aus ih­rer Iso­la­ti­on zu ho­len. Doch Rai­j­ka be­arg­wöhnt sei­ne frei­gie­bi­ge Le­bens­freu­de. Durch ihr Ver­hal­ten be­en­det sie ih­re Ju­gend und lebt mit kaum Zwan­zig in den im­mer­glei­chen schwar­zen Klei­dern ein kar­ges Le­ben mit ih­rer Mut­ter. Ge­schäft­lich er­weist sie sich als äu­ßerst ge­schickt. Sie nimmt als ver­meint­lich Hilf­lo­se die Un­ter­stüt­zung be­freun­de­ter Kauf­leu­te und Ban­kiers in An­spruch und lernt vom eins­ti­gen Ge­hil­fen des Va­ters die Buch­hal­tung. Zu Hau­se än­dert das Fräu­lein, bes­ser „das ver­schro­be­ne und ver­ab­scheu­ungs­wür­di­ge Un­ge­heu­er von ei­nem Kind“, wie ih­re Ver­wand­ten sie bald nen­nen wer­den, ei­ni­ges. Sie ent­lässt die An­ge­stell­ten, stellt die Hei­zung ab und legt das Er­spar­te um­sich­tig an. Als ihr die Ver­si­che­rung des Va­ters aus­ge­zahlt wird, wit­tert sie ein Ge­schäft. Es ist 1906, al­le in Sa­ra­je­wo brau­chen Geld und das Fräu­lein be­ginnt „die Won­ne zu spü­ren, die sol­chen Men­schen wie ihr das sich ra­sant ver­meh­ren­de Geld ver­schafft, je­nen küh­len Rausch, der die Wu­che­rer in ih­ren feuch­ten Lä­den ins­ge­heim bes­ser als die Son­ne und schö­ner als der Früh­ling wärmt“. Als ihr klan­des­ti­nes Trei­ben auf­zu­flie­gen droht, ver­dingt sie ei­nen ih­rer Gläu­bi­ger als Stroh­mann. Sein La­den wird zur Zen­tra­le, zu­gleich ver­traut sie sei­nem Rat, was Geld­an­la­gen bei den po­li­tisch vo­la­ti­len Ver­hält­nis­sen betrifft.

An­drić knüpft das Wer­den wie das Ver­ge­hen die­ser be­son­de­ren Geld­ge­schäf­te eng an die zeit­his­to­ri­schen Er­eig­nis­se. Die An­ne­xi­on Bos­ni­ens und der Her­ze­go­wi­na im Ok­to­ber 1908 nutzt das Fräu­lein für ei­ne An­la­ge in Gold. Nach dem At­ten­tat auf Franz Fer­di­nand 1914 be­ginnt sie den Spe­ku­la­ti­ons­han­del, kurz dar­auf zeich­net sie Kriegs­an­lei­hen. Al­le lei­den un­ter dem Krieg, das Fräu­lein nicht. Von den Ver­hält­nis­sen in Sa­ra­je­wo, der na­tio­na­len und po­li­ti­schen Spal­tung der Be­völ­ke­rung und der Feind­schaft zwi­schen den Re­li­gio­nen er­zählt And­ric mit dem En­ga­ge­ment des in­vol­vier­ten Zeit­zeu­gen, auch wenn er den Ro­man erst drei Jahr­zehn­te spä­ter nie­der­ge­schrie­ben hat. Die Un­ru­he und die Angst be­schreibt er in kla­ren Bil­dern, die fast fil­mi­sche Sze­nen ent­ste­hen las­sen von den Stra­ßen Sa­ra­je­wos oder den Be­geg­nun­gen des Fräu­leins. Das Schick­sal die­ser Gei­zi­gen nimmt kein gu­tes En­de, wie wir von An­fang an ah­nen. And­ric ge­stal­tet es be­son­ders hart, denn das Fräu­lein ver­liert nicht nur ein­mal ihr ge­sam­tes Ver­mö­gen. Er dringt da­bei tief in die Psy­che die­ser hab­gie­ri­gen, kal­ten Per­son, die sich aus­ge­rech­net durch das war­me Ge­fühl der Nost­al­gie selbst zu Fall bringt. Ivo An­drić er­zählt dies äu­ßerst le­sens­wert und al­len Geiz­häl­sen zur Mahnung.

Ivo Andrić, Das Fräulein, deutsch v. Edmund Schneeweis, überarbeitet v. Katharina Wolf-Grießhaber, mit einem Nachwort v. Michael Martens, dtv 2025

 

Wirkmächtige Schatten

Mit „Unmöglicher Abschied“ errichtet Han Kang den Opfern ein Mahnmal zwischen Traum und Realität

Es schnei­te stark. Ich stand auf ei­nem Acker, an des­sen ei­nem En­de sich ein nied­ri­ger Berg an­schloss. Auf die­ser Sei­te war er vom Fuß bis zur Kup­pe mit Tau­sen­den von schwar­zen Baum­stäm­men be­stan­den, die et­wa so dick wie Ei­sen­bahn­schwel­len und ver­schie­den hoch wa­ren, wie Men­schen un­ter­schied­li­chen Al­ters. Zu­gleich wa­ren sie nicht ker­zen­ge­ra­de ge­wach­sen, son­dern leicht ge­bo­gen oder ge­neigt und wirk­ten, als hät­te man am Hang Tau­sen­de von Män­nern, Frau­en und ma­ge­ren Kin­dern im Schnee aus­ge­setzt, die die Schul­tern hoch­zo­gen. Ist das hier ein Fried­hof?, fra­ge ich mich.“

Den Li­te­ra­tur-No­bel­preis des ver­gan­ge­nen Jah­res er­hielt Han Kang, de­ren Ro­ma­ne in ih­rer Hei­mat Süd­ko­rea sehr er­folg­reich sind und die mit „Die Ve­ge­ta­rie­rin“ welt­weit Fu­ro­re mach­te. Die 1970 ge­bo­re­ne Schrift­stel­le­rin stu­dier­te Ko­rea­ni­sche Li­te­ra­tur und un­ter­rich­te­te Krea­ti­ves Schrei­ben. Sie de­bü­tier­te mit Ge­dich­ten und ver­fass­te meh­re­re Ro­ma­ne. Der No­bel­prei­ses „für ih­re in­ten­si­ve Pro­sa, die sich his­to­ri­schen Trau­ma­ta stellt und die Zer­brech­lich­keit des mensch­li­chen Le­bens auf­zeigt“, schenk­te al­ler­dings nicht nur der Au­torin selbst Auf­merk­sam­keit. Er lenk­te den Blick auf die his­to­ri­sche Ver­gan­gen­heit Süd­ko­re­as, die eu­ro­päi­schen Le­sern weit­ge­hend un­be­kannt sein dürfte.

Es ist vor al­lem die Ge­walt­ge­schich­te des Lan­des, die Han Kang im­mer wie­der in ih­re Wer­ke ein­flie­ßen lässt. So auch in ih­rem jüngst auf Deutsch ver­öf­fent­lich­ten Ro­man „Un­mög­li­cher Ab­schied“. In Süd­ko­rea er­schien er be­reits 2021, sein ins Eng­li­sche tran­skri­bier­ter Ti­tel lau­tet „We do not part“„Wir tren­nen uns nicht“.

Kei­ne Tren­nung, kein Ver­ab­schie­den, kein Ver­ges­sen! Das gilt auch für die Op­fer des 1948 auf der In­sel Je­ju durch­ge­führ­ten Mas­sa­kers. Gan­ze Dör­fer wur­den vom Mi­li­tär­re­gime Ko­re­as un­ter ja­pa­ni­schem Mit­wir­ken und us-ame­ri­ka­ni­scher Dul­dung zer­stört, 30000 Men­schen hin­ge­rich­tet. Die­sen „Wirk­mäch­ti­ge Schat­ten“ weiterlesen

Land der Erinnerung“

Abdulrazak Gurnah erzählt in „Ferne Gestade“, wie die Zeit die Erinnerung zerstückelt und ein Duft sie wieder zusammenfügt

Viel­leicht wä­re ich so­gar vor die­ser Er­in­ne­rung da­von­ge­lau­fen, be­vor sie über­mäch­tig wur­de und mich über­wäl­tig­te und an­de­re Ge­dan­ken in mir wach­rief, die ich bis­her ver­läss­lich ver­drängt hat­te. Im Lau­fe der Zeit sind so vie­le kla­re, deut­lich um­ris­se­ne Ein­zel­hei­ten un­scharf und ver­schwom­men ge­wor­den. Viel­leicht ist es das, was das Alt­wer­den be­deu­tet. Und mög­li­cher­wei­se be­steht die Wir­kung von Son­ne und Wind dar­in, ei­ne Ein­zel­heit nach der an­de­ren aus dem Bild zu lö­schen und das Bild selbst in den pel­zi­gen Schat­ten sei­ner selbst zu ver­wan­deln. Trotz­dem blei­ben nach all dem Ver­blas­sen und Ver­schwim­men noch so vie­le Ein­zel­hei­ten er­hal­ten, die ei­nem nun als noch kar­ge­re Teil­chen des Gan­zen er­schei­nen: ein war­mer Aus­druck in den Au­gen, wenn man sich an das Ge­sicht nicht mehr er­in­nern kann, ein Ge­ruch, der die Er­in­ne­rung an ei­ne Mu­sik wach­ruft, de­ren Me­lo­die nicht mehr län­ger fass­bar ist, die Er­in­ne­rung an ein Zim­mer, wenn man das Haus oder sei­nen Stand­ort ver­ges­sen hat, ei­ne Wei­de am Stra­ßen­rand in­mit­ten ei­ner gro­ßen Lee­re. Auf die­se Wei­se zer­stü­ckelt und ver­stüm­melt die Zeit die Bil­der un­se­res Lebens.“

Wie ent­steht Er­in­ne­rung? Ver­än­dert sie sich mit den Jah­ren? Und was er­weckt sie wie­der? Ab­hän­gig von der Wahr­neh­mung und der Ver­ar­bei­tung ent­steht im Lau­fe der Zeit ein au­to­bio­gra­phi­sches Ge­dächt­nis, an dem un­se­re Phan­ta­sie auf nicht un­be­trächt­li­che Wei­se be­tei­ligt ist. So kann es ge­sche­hen, daß zwei Men­schen auf ge­mein­sam Er­leb­tes oft un­ter­schied­lich zu­rück­bli­cken. Die­se Kon­stel­la­ti­on liegt auch dem Ro­man Fer­ne Ge­sta­de des 2021 mit dem Li­te­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­ne­ten Ab­dul­razak Gur­nah zu­grun­de. Der Ro­man wur­de 2001 erst­mals in Groß­bri­tan­ni­en ver­öf­fent­licht, ein Jahr spä­ter er­schien er in der Über­set­zung von Tho­mas Brück­ner in Deutsch­land und wur­de nun in re­vi­dier­ter Über­set­zung neu auf­ge­legt. Gur­nah kam als Flücht­ling aus San­si­bar nach Eng­land, wo er seit­dem lebt. Die­ses Schick­sal teilt er mit sei­nen Prot­ago­nis­ten. Der jün­ge­re, La­tif Mah­mud, war bei der An­kunft wie der Au­tor Land der Er­in­ne­rung““ weiterlesen

Konstrukt Weltliteratur

Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ — Tim Parks über Literatur

Es ist ei­ne Wei­le her, da ha­be ich un­ter dem Ti­tel „Wor­über wir re­den, wenn wir über Bü­cher re­den“ ein Buch be­spro­chen, wel­ches nicht nur wie das vor­lie­gen­de im Kunst­mann Ver­lag er­scheint, son­dern des­sen Au­tor, Pierre Ba­yard wie Tim Parks auch wis­sen­schaft­lich der Li­te­ra­tur zu­ge­wandt ist. Wäh­rend Ba­yard zur Lü­cke an­lei­tet un­ter dem ori­gi­nal­ge­treu über­setz­ten Ti­tel „Wie man über Bü­cher spricht, die man nicht ge­le­sen hat“, er­läu­tert Parks in „Whe­re I’m Re­a­ding from“ sei­ne Sicht aufs Le­sen. Sei­ne Es­says zu fast al­len Aspek­ten des Le­sens und Schrei­bens lie­gen nun in der Über­set­zung von Ul­ri­ke Be­cker und Ruth Keen als „Wor­über wir spre­chen, wenn wir über Bü­cher spre­chen“ vor. Ein wirk­lich schö­ner Titel.

Parks Buch ist nur un­we­sent­lich län­ger als die char­man­te Schum­mel­fi­bel sei­nes fran­zö­si­schen Kol­le­gen. Gut 230 Sei­ten, por­tio­niert in vier Tei­le mit 33 Ka­pi­teln, wid­men sich dem Buch und der Welt. Wie ist ein Ro­man ge­macht? Wie­so wird er ein Er­folg? Was macht uns auf ihn so auf­merk­sam, daß wir ihn le­sen und über ihn re­den wol­len? Parks Kern­the­ma wird bald klar. In der glo­ba­li­sier­ten Welt dro­he ei­ne „Kon­strukt Welt­li­te­ra­tur“ weiterlesen

Sushi Murakami — Resümee

Die Lesereise der verblüfften Frau Atalante

Mu­ra­ka­mi wählt für sei­nen Ro­man „Die Pil­ger­jah­re des farb­lo­sen Herrn Ta­za­ki“ ein tra­gi­sches The­ma. Die Ver­ban­nung aus dem Freun­des­kreis ver­ur­sacht durch ei­ne Ver­leum­dung. Ein der­ar­ti­ges Er­eig­nis kann man oh­ne wei­te­res als Mob­bing be­zeich­nen, ein uni­ver­sel­les Pro­blem al­so, was kei­nes­falls nur auf Ja­pan be­schränkt ist. Je­der hat sol­ches in der ein oder an­de­ren hof­fent­lich schwä­che­ren Form schon er­lebt, des­halb spricht der Ro­man vie­le an. Zu­dem wird von sol­chen Skan­da­len ger­ne ge­le­sen. Mord und Tot­schlag be­die­nen den Voy­eu­ris­mus und das schö­ne Ge­fühl, daß es schlim­me­re Schick­sa­le als das ei­ge­ne gibt.

Bei den Pil­ger­jah­ren han­delt es sich um ei­nen An­schlag auf die Psy­che. (Ich mei­ne jetzt na­tür­lich das Er­leb­nis des Herrn Ta­za­ki.) Ei­ne un­er­klär­li­che Zu­rück­wei­sung zu er­le­ben ist ei­ne trau­ma­ti­sche Er­fah­rung. Le­ser wie Op­fer rät­seln in die­sem Buch über die Ur­sa­che und dies von An­fang an. Die­se „Su­shi Mu­ra­ka­mi — Re­sü­mee“ weiterlesen

Schuldlos schuldig

Alice Munro erweckt die Moiren in ihren Erzählungen „Entscheidung“, „Bald“ und „Schweigen“

MunroDie al­ten Grie­chen sa­hen ihr Le­ben als von den Göt­tern vor­her­be­stimmt. Wel­cher Art und wie groß das Glück oder Un­glück ei­nes Ein­zel­nen war galt ih­nen als un­ver­rück­bar. Am Schick­sals­fa­den der Moi­ren hin­gen al­le Be­zie­hun­gen im Le­bens­ver­lauf. Wie ei­ne an­ti­ke Schick­sals­göt­tin spinnt auch Ali­ce Mun­ro am Fa­den ih­rer Prot­ago­nis­tin Ju­liet in den drei in­halt­lich und for­mal auf­ein­an­der­fol­gen­den Er­zäh­lun­gen Chan­ce, So­on und Si­lence. Sie sind Teil des 2004 er­schie­nen Samm­lung Tricks. Li­te­ra­ri­sche Tricks be­herrscht die Au­torin in meis­ter­haf­ter Wei­se, wie ihr zu­letzt das No­bel­preis­ko­mi­tee be­stä­tig­te. Be­mer­kens­wert ist Mun­ros Ta­lent, auf we­ni­gen Sei­ten die un­vor­her­ge­se­he­nen Wen­dun­gen ei­nes gan­zen Le­bens darzustellen.

Im ers­ten Teil, der in der deut­schen Über­set­zung von Hei­di Zer­ning den Ti­tel „Ent­schei­dung“ trägt, be­geg­nen wir Ju­liet, ei­ner er­folg­rei­chen Stu­den­tin der Alt­phi­lo­lo­gin. Nicht nur ihr Stu­di­en­fach wi­der­spricht dem Rol­len­mo­del ei­ner jun­gen Frau, ‑die Hand­lung spielt im Jahr 1965‑, auch Ju­liet selbst ver­hält sich un­an­ge­passt. Ih­re Pro­fes­so­ren ra­ten ihr aus die­sem Grund trotz ih­res viel­ver­spre­chen­den Ta­lents ei­ne Stel­le als „Schuld­los schul­dig“ weiterlesen

Grammatik der Liebe

Iwan Bunins Kunst über die Liebe zu schreiben

Grammatik der LiebeIm Wes­ten war der Him­mel rein­ge­fegt, Gold lug­te aus die­ser Rich­tung hin­ter schö­nen, ins Vio­lett spie­len­den Wol­ken her­vor und über­glänz­te selt­sam das ärm­li­che Lie­bes­asyl, die­ses Asyl ei­ner un­be­greif­li­chen Lie­be, die ein gan­zes mensch­li­ches Le­ben in ein ek­sta­ti­sches Ein­sied­ler­da­sein ver­wan­delt hat­te, ein Le­ben, das mög­li­cher­wei­se völ­lig all­täg­lich hät­te ver­lau­fen sol­len, wä­re nicht die­se in ih­rem Zau­ber so rät­sel­haf­te Lusch­ka aufgetaucht.”

Dass die Lie­be ei­nes der Lieb­lings­the­men der schö­nen Li­te­ra­tur sei, ist ei­ne Bin­sen­weis­heit. Bi­blio­the­ken vol­ler Ly­rik und Pro­sa um das Glück oder eher um das Un­glück, das die­ses Ge­fühl aus­zu­lö­sen ver­mag, be­stä­ti­gen dies. Auch Rat­ge­ber wach­sen stets aufs Neue nach. Kön­nen sie sich doch ih­rer Käu­fer und Le­ser ge­wiss sein, denn die Lie­be scheint auf al­le Zeit ein un­durch­dring­li­ches Phä­no­men zu blei­ben. Ein Re­gel­werk, das zum kla­ren Han­deln an­lei­tet, vor Ver­stö­ßen warnt und so­mit Feh­ler zu ver­mei­den hilft, exis­tiert bis­her mei­nes Wis­sens nicht. Oder doch?

Der rus­si­sche Li­te­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger Iwan Bu­nin be­rich­tet in sei­ner 1915 er­schie­ne­nen gleich­na­mi­gen Er­zäh­lung von ei­ner „Gram­ma­tik der Lie­be“. Ihr Ent­de­cker ist ein ge­wis­ser „Gram­ma­tik der Lie­be“ weiterlesen

Schwindelnde Höhen der Literatur

In ihrem neuen Roman „Schwindlerinnen“ spielt Kerstin Ekman mit den Lügen der Schriftsteller

Ekman, SchwindlerinnenVom Schwin­del be­fal­len weiß man nicht wo oben und un­ten. Ob links oder rechts, al­les dreht sich, die Ori­en­tie­rung ist ver­wirrt, manch­mal ganz und gar ver­lo­ren. Als Schwin­del wer­den auch Lü­gen be­zeich­net, harm­lo­se, läss­li­che. Sie of­fen­ba­ren nicht je­dem al­les, ber­gen min­des­tens ein Ge­heim­nis, sei es auch nur ein klei­ner Trick. Aber wer kann schon oh­ne die­se klei­nen Tricks le­ben?  Sie die­nen der Le­bens­be­wäl­ti­gung und nicht sel­ten sind sie ein wich­ti­ger Be­stand­teil des Me­tiers. Auch Schrift­stel­ler be­die­nen sich als Il­lu­si­ons­künst­ler krea­ti­ver Schwin­de­lei­en, die nicht nur ihr Werk son­dern auch ih­re Per­son be­tref­fen. Wenn auch der Groß­teil der Schreib­künst­ler in­zwi­schen ihr öf­fent­li­ches Ego als Be­stand­teil der Er­folgs­stra­te­gie be­greift, so gibt es im­mer noch Au­toren, die ih­re An­ony­mi­tät zu wah­ren wis­sen. Das Ge­heim­nis um ih­re Per­son scheint der Selbst­schutz, oh­ne den kei­ne Kunst ent­ste­hen kann.

So er­geht es auch Bab­ro An­ders­son, kurz Bab­ba, der Schrift­stel­le­rin in Kers­tin Ek­mans „Schwind­le­rin­nen“. Von un­at­trak­ti­vem Äu­ße­ren be­wegt sich die in ei­ner Ar­bei­ter­fa­mi­lie groß­ge­wor­de­ne Bab­ba un­si­cher zwi­schen Men­schen. Als stu­dier­te Phi­lo­lo­gin be­vor­zugt sie die Ge­gen­wart der Bü­cher. Sie ar­bei­tet als Bi­blio­the­ka­rin in der Stadt­bü­che­rei, auf de­ren Kar­tei­kar­ten sie ih­re Schreib­ideen no­tiert. Als sie ei­nes Ta­ges aus die­sen Ein­fäl­len ei­ne Ge­schich­te spinnt, schickt ihr Freund die­se oh­ne ihr Wis­sen an ei­ne Zeit­schrift. Das Ab­leh­nungs­schrei­ben of­fen­bart ihr nicht nur den Ver­rat, son­dern eben­so die Er­kennt­nis, daß sie, Bab­ba An­ders­son, so wie sie wirk­lich ist, nie­mals als Schrift­stel­le­rin zu Ruhm ge­lan­gen kön­ne. Da­zu sei sie nun mal ein­fach we­der flott noch at­trak­tiv ge­nug. „Leu­te, die schrift­stel­lern­de Frau­en rühm­ten, lieb­ten die­ses Wort. Frau­en soll­ten flott schrei­ben. Und rank und schlank sein.“

Hier kommt die an­de­re Haupt­fi­gur des Ro­mans ins Spiel, Lil­lem­or Troj. Sie er­füllt die auf­ge­stell­ten Kri­te­ri­en, wes­halb Bab­ba sie zur Stell­ver­tre­te­rin wählt. Sie wird ihr öf­fent­li­ches Ali­as, un­ter ih­rem Na­men und mit ih­rem Ge­sicht er­scheint Bab­bas Li­te­ra­tur. Lil­lem­or ist nicht nur äu­ßerst vor­zeig­bar. Als Toch­ter aus gu­tem Haus weiß sie sich auf öf­fent­li­chem Par­kett zu be­we­gen. Per­fekt in Mo­de wie Ma­nie­ren be­wäl­tigt sie den schrift­stel­le­ri­schen Small­talk. Zu­dem tippt und re­di­giert sie, was Bab­ba auf die Sei­ten des Spi­ral­blocks schreibt. Lil­lem­or ach­tet auf Lo­gik und Struk­tur und spä­tes­tens, wenn bei­de Frau­en die Fe­ri­en­wo­chen in ei­ner ent­le­ge­nen Ka­te im Wald ver­brin­gen, wird Lil­lem­or zu Bab­bas Co-Autorin.

Al­ler­dings er­for­dert ih­re ge­mein­sa­me Au­tor­schaft im­mer stär­ke­re Ge­heim­hal­tung. Nicht nur die Män­ner der bei­den er­wei­sen sich als Ge­fahr, auch ih­re ei­ge­nen Müt­ter. Im­mer ver­deckt vor­der­grün­dig die Wahr­heits­lie­be die ei­gent­li­chen ego­is­ti­schen An­trie­be der Neu­gie­ri­gen. Den­noch ge­lingt es Bei­den die Preis­ga­be ih­res Tricks zu ver­hin­dern bis sie selbst zu Ver­rä­tern wer­den. In ih­rem neu­es­ten Ro­man­ent­wurf ent­hüllt Bab­ba die wah­re Ge­schich­te und sen­det sie un­ter ih­rem ei­ge­nen Na­men an ei­nen Ver­lag. Die­ser ver­mu­tet Lil­lem­or Troj hät­te un­ter Pseud­onym ih­re Bio­gra­phie ver­fasst und ver­mit­telt den Text an de­ren Ver­lag, der wie­der­rum die ver­meint­li­che Au­torin da­mit konfrontiert.

Hier setzt „Schwind­le­rin­nen“ ein. Wir le­sen mit Lil­lem­or Ka­pi­tel um Ka­pi­tel der un­ge­heu­er­li­chen Wahr­heit, die Bab­ba An­der­son in der Ich-Per­spek­ti­ve er­zählt. Da­zwi­schen er­fah­ren wir, was Lil­lem­or dar­über denkt. Ih­re Ver­si­on schil­dert der all­wis­sen­de Er­zäh­ler. Die Ge­gen­über­stel­lung die­ser bei­den Wahr­hei­ten er­zeugt nicht nur den gro­ßen Reiz der Kon­struk­ti­on, son­dern auch ei­ne Span­nung, die durch den im­mer­hin an die 500 Sei­ten star­ken Ro­man trägt. Kers­tin Ek­man, die in die­sem Jahr acht­zig Jah­re alt wird, und de­ren voll­stän­di­ger Na­me Kers­tin Lil­lem­or Hjorth Ek­man aus Grün­den der Wahr­heit nicht un­er­wähnt blei­ben soll, hat ei­nen um­fang­rei­chen Ro­man ge­schrie­ben. Im­mer­hin schil­dert sie über sech­zig Jah­re ei­nes er­folg­rei­chen Au­torin­nen­le­bens oder bes­ser drei­er er­folg­rei­cher Au­torin­nen­le­ben, Bab­bas, Lil­lem­ors, wie ihr ei­ge­nes, wel­ches in Fa­cet­ten in de­nen ih­rer Stell­ver­tre­te­rin­nen auf­scheint. Wie Lil­lem­or wur­de auch Ek­man zum Mit­glied der Schwe­di­schen Aka­de­mie er­ko­ren, be­sitzt al­so aus­rei­chen­de In­for­ma­ti­on um die­sen Aspekt in ih­rer Li­te­ra­tur­be­triebs­sa­ti­re sub­til aus­zu­leuch­ten. Sie zeigt, wie nicht nur in die­sem Gre­mi­um Prei­se ver­ge­ben und an­hand wel­cher Kri­te­ri­en Preis­trä­ger ge­macht wer­den. In die­sem letzt­end­lich po­li­ti­schen Ge­schäft zählt mehr Schein als Sein. Dies ist wahr­lich kei­ne neue Er­kennt­nis, wird aber in die­sem Ro­man sehr schön in Sze­ne ge­setzt. Gleich­zei­tig ge­lingt Ek­man ein Ge­sell­schafts­pan­ora­ma, in dem sie ih­re Hel­din­nen von den re­strik­ti­ven Fünf­zi­gern über die Al­ter­na­tiv­kul­tur der nach­fol­gen­den Jahr­zehn­te bis in die heu­ti­ge Zeit be­glei­tet. In ei­ne Zeit, in der das Le­sen ei­nes rich­ti­gen Bu­ches zu ei­nem sub­ver­si­ven Akt wer­den kann, vor des­sen Fol­gen Bab­ba An­der­son warnt:

Li­te­ra­tur schä­digt das Ge­hirn und ver­min­dert die Fruchtbarkeit.“

Kers­tin Ek­man, Schwind­le­rin­nen, übers. v. Hed­wig Bin­der, Pi­per Ver­lag, 1. Aufl. 2012