Abdulrazak Gurnah erzählt in „Ferne Gestade“, wie die Zeit die Erinnerung zerstückelt und ein Duft sie wieder zusammenfügt
„Vielleicht wäre ich sogar vor dieser Erinnerung davongelaufen, bevor sie übermächtig wurde und mich überwältigte und andere Gedanken in mir wachrief, die ich bisher verlässlich verdrängt hatte. Im Laufe der Zeit sind so viele klare, deutlich umrissene Einzelheiten unscharf und verschwommen geworden. Vielleicht ist es das, was das Altwerden bedeutet. Und möglicherweise besteht die Wirkung von Sonne und Wind darin, eine Einzelheit nach der anderen aus dem Bild zu löschen und das Bild selbst in den pelzigen Schatten seiner selbst zu verwandeln. Trotzdem bleiben nach all dem Verblassen und Verschwimmen noch so viele Einzelheiten erhalten, die einem nun als noch kargere Teilchen des Ganzen erscheinen: ein warmer Ausdruck in den Augen, wenn man sich an das Gesicht nicht mehr erinnern kann, ein Geruch, der die Erinnerung an eine Musik wachruft, deren Melodie nicht mehr länger fassbar ist, die Erinnerung an ein Zimmer, wenn man das Haus oder seinen Standort vergessen hat, eine Weide am Straßenrand inmitten einer großen Leere. Auf diese Weise zerstückelt und verstümmelt die Zeit die Bilder unseres Lebens.“
Wie entsteht Erinnerung? Verändert sie sich mit den Jahren? Und was erweckt sie wieder? Abhängig von der Wahrnehmung und der Verarbeitung entsteht im Laufe der Zeit ein autobiographisches Gedächtnis, an dem unsere Phantasie auf nicht unbeträchtliche Weise beteiligt ist. So kann es geschehen, daß zwei Menschen auf gemeinsam Erlebtes oft unterschiedlich zurückblicken. Diese Konstellation liegt auch dem Roman „Ferne Gestade“ des 2021 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Abdulrazak Gurnah zugrunde. Der Roman wurde 2001 erstmals in Großbritannien veröffentlicht, ein Jahr später erschien er in der Übersetzung von Thomas Brückner in Deutschland und wurde nun in revidierter Übersetzung neu aufgelegt. Gurnah kam als Flüchtling aus Sansibar nach England, wo er seitdem lebt. Dieses Schicksal teilt er mit seinen Protagonisten. Der jüngere, Latif Mahmud, war bei der Ankunft wie der Autor „„Land der Erinnerung““ weiterlesen