Wiederentdeckt: L. P. Hartleys Entwicklungsroman „Ein Sommer in Brandham-Hall“
„Meine Vorstellungen von Schicklichkeit waren vage und unbestimmt, wie all meine Vorstellungen dessen, was mit Geschlechtlichkeit zu tun hatte. Aber sie waren bestimmt genug, dass ich mich danach sehnte, sie zusammen mit meinen Sachen abzuwerfen und wie ein Baum oder eine Blume zu sein, nackt, mit nichts mehr zwischen mir und der Natur.“
„Ich war verliebt in die Hitze, ich empfand für sie dasselbe wie ein Konvertit für seine neue Religion.“
Nein, als Antidot gegen die aufziehende Gluthitze empfehle ich nichts, was auf eisigen Höhen oder im tiefen Winter spielt. Gemäß der homöopathischen Maxime, Gleiches mit Gleichen zu behandeln, rate ich zu „Ein Sommer in Brandham Hall“. Der Roman von Leslie Poles Hartley erschien im Jahr 1953 unter dem Titel „The Go-Between“ und wurde zum größten Erfolg des bekannten Literaturkritikers und Schriftstellers. In der Neuübersetzung von Wibke Kuhn liegt er nun im Eisele Verlag vor und ist das Sommerbuch schlechthin. Leicht, voller Charme und stets stilvoll.
Hartleys Geschichte über den Sommer des Jahres 1900 im englischen Norfolk wird besonders Fans von Downtown Abbey gefallen. Wie die bekannte Serie spielt auch er auf einem weitläufigen Anwesen, unter dessen Bewohnern, Bediensteten und der umliegenden Dorfbevölkerung.
In diese sozial streng sortierten Verhältnisse gerät der 12-jährige Leo Colston auf Einladung seines Freundes Marcus. Für Leo öffnet sich eine neue, teilweise bedrohlich empfundene Welt. Er kommt aus prekären Verhältnissen, was man nicht nur seiner Kleidung, sondern auch seinem Verhalten anmerkt. Er hat seine Mühe mit den unbekannten Gepflogenheiten, die jede Menge Fettnäpfchen für ihn bereithalten.
Seine Gastgeber sind ihm wohlgesonnen, Mrs. Maudsley, deren dominante Art sie als Oberhaupt der Familie ausweist, ihr ruhiger Gatte und Dennys, der ältere Bruder Marcus‘. Dessen ebenfalls einige Jahre ältere Schwester nimmt Leo unter ihre Fittiche und hilft ihm die Hürden zu überwinden. Schnell erliegt Leo Marians Charme und Großzügigkeit und ist ihr von Herzen ergeben. Fast könnte man versucht sein zu sagen, er sei verliebt. Doch diese Vokabel scheint für den fast 13-Jährigen unangebracht. Seiner Knabenunschuld liegt das Gefühl des Begehrens fern, ganz zu schweigen von den körperlichen Begierden, die in Brandham Hall „Herumpoussieren“ heißen. Leo stellt sich in den Dienst der von ihm verehrten Marian, wird ihr Knappe und überbringt bereitwillig Botschaften, deren Brenzligkeit ihm im Laufe der Zeit nur andeutungsweise bewußt wird.
Dies spiegelt die für das englische Norfolk ungewohnte Hitze. Tag für Tag steigt die Quecksilbersäule des Thermometers, das sich in einem achteckigen Häuschen im Park von Brandham Hall verbirgt. Das wertvolle Gerät, zu dem eigentlich nur Mr. Maudsley Zugang hat, fasziniert die beiden Jungs, die täglich die steigenden Temperaturen ablesen.
Die Hitze ist eines der vielen Motiven in diesem stilvollen Sommerroman. Sie steht für das sexuelle Erwachen des 13-jährigen Leo. Das Wort „Sex“ fällt natürlich kein einziges Mal und der Protagonist wird das „Herumpoussieren“ nicht am eigenen Leib entdecken. Den inneren Wandel spürt er jedoch deutlich. „Und ganz unmerklich hatte sich auch das Klima meiner Gefühle gewandelt. Ich war nicht mehr zufrieden mit dem kleinen Erfahrungsbereich, in dem ich mich bisher bewegt hatte. Ich wollte jetzt im großen Stil erleben.“
Das Changieren zwischen Unwissenheit und Erkenntnis ist Glück und Unglück zugleich für die Figuren des Romans, weniger für seine Leser. Denn der Zwiespalt ist der große Reiz, er prägt den Verlauf der Geschichte ebenso wie das Innere Leos. Hartley bedient sich dazu eines konstruktiven Kniffs. Er lässt den gealterten Leo Colston das Tagebuch dieses weit zurückliegenden Sommers finden, Leo ist so zugleich Erzähler, Erinnernder und Handelnder. Eine Konstellation, die an Marcel Prousts Recherche erinnert und die von dem Literaturkenner Hartley beabsichtigt sein mag.
Seine Konstruktion offenbart Hartley in einem Prolog. So ist von vorneherein klar, daß der Erzähler Leo mehr weiß als der zwölfjährige Protagonist. Der Erzähler zeigt Verständnis für das Innenleben des jungen Leo, dabei verrät er nichts, ist aber in der Lage, Hinweise neu zu deuten und Vorahnungen zu erkennen.
So erzeugt das Belladonna (sic!) ‑Gewächs, das Leo auf seinen Streifzügen in einem zerfallenen Schuppen entdeckt, in ihm eine Atmosphäre bedrohlicher Erotik. „(…) es war keine Pflanze nach meinem Verständnis, es war ein Busch, fast ein Baum und so groß wie ich. Sie sah aus wie das Bild des Bösen und zugleich das Bild der Gesundheit, so glänzend und stark und saftig war sie. Ich konnte geradezu sehen, wie die Säfte darin aufsteigen, um das Gewächs zu nähren“.
Als Marcus krank wird, erkundet Leo die Gegend alleine. Er schaut beim Thermometerhäuschen vorbei und er entdeckt den Hof des jungen Bauern Ted Burgess. Auf dem dort liegenden Heuhaufen rutscht er noch ganz Kind begeistert herunter. Er schließt Bekanntschaft mit Ted, den er seit der ersten Begegnung auf dem Badesteg bewundert.
Auch diese Episode gestaltet Hartley voller Vorahnungen. Leo begleitet die kleine Badegesellschaft, Marcus, dessen Geschwistern und einige Freunde. Die Holz-Plattform erscheint ihm bedrohlich, ein „schwarzes Gebilde, lauter Stangen und Holme und Pfähle, wie ein Galgen“. Während er „in Sehnsucht nach nudistischer Erfüllung“ am Ufer bleiben muss, registriert er enttäuscht, daß die Badeanzüge der anderen fast alles verhüllen. Er entfernt sich ein paar Schritte und entdeckt aus dem Dickicht Ted, der ebenfalls im Fluss Abkühlung sucht. Bewunderung und gleichzeitig Angst empfindet er „angesichts dieses Körpers, der mir von Dingen erzählte, die ich nicht kannte“.
Doch Leo bewundert auch Lord Trimingham, den jungen, kriegsversehrten Besitzer von Brandham Hall. Er ist zu Gast bei den Maudsleys, seinen Mietern. Auch Trimingham bittet Leo Marian Botschaften zu überbringen. Dass er allerdings ein Ehrenmann ist, erkennt Leo, bevor er erfährt, daß Marian ihn heiraten wird. Ganz anderes empfindet er das gefährliche Geheimnis, das die Briefe von Marian und Ted verbergen, deren Mittelsmann er nolens volens wird. Ihm bleibt nur zu hoffen: „Ich selbst war die Quecksilbersäule (denn man hatte mich doch Merkur genannt, dachte ich verwirrt), die selber in neue Höhen schoss, und Brandham Hall mit seinen immer noch unerforschten Gefühlshöhen war der Berg, auf dem ich meine Erfahrungen gewinnen würde.“
Hartley gelingt eine psychologisch dichte Darstellung vom Sichselbstbewusstwerden eines Heranwachsenden, indem er den zwangsläufigen Verlust der Unschuld mit der Frage nach Verantwortung verbindet. Dabei kontrastiert sein wissender Erzähler anspielungsreich die Naivität des jungen Protagonisten, was den Roman zu einer gleichsam spannenden wie anregenden Lektüre macht.