In ihrem stilistisch außergewöhnlichen Roman „Milchmann“ erzählt Anna Burns die spannende Geschichte von einem „Mädchen, das im Gehen liest“ und ihrem zudringlichem Verfolger
„Aber dummerweise waren – wegen der losen Natur unserer Beziehung; weil er am anderen Ende der Stadt wohnte und daher noch nicht gehört hatte, dass ich der neue Schwarm dieses Milchmanns war; weil ich verwirrt war und langsam die Kraft verlor, mich von den Taktiken des Milchmanns außer Gefecht gesetzt fühlte; und weil ich achtzehn war und nie vorgelebt bekommen hatte, wie man Gedanken, Bedürfnisse und Gefühle auf gesunde Weise zum Ausdruck brachte – alle meine Erklärungen zusammenhanglos, und nichts, was ich zu sagen versuchte, wollte richtig rüberkommen.“
Die Schilderungen der 18-Jährige Ich-Erzählerin können als Coming-of-Age-Roman gelesen werden, als eine Geschichte von Männern und vor allem von Frauen und als eine Geschichte von Unterdrückung und Widerstand, was das Geschlechterverhältnis wie die Zeitumstände betrifft . Der Roman spielt mitten in der Hochphase des Nord-Irland-Konflikts, im katholischen Teil Belfasts. Man kann ihn aber auch als Liebesroman lesen, einer der klügeren Sorte, der außer von der Schwierigkeit, den richtigen Partner zu finden, von dem Mut erzählt, sich zu diesem zu bekennen.
Die Themen vereint Anna Burns auf den 400 Seiten ihres Romans „Milchmann“, deren Anlass und Movens die physische und psychische Bedrohung einer jungen Frau durch einen wesentlich älteren, mächtigen Mann darstellt. Als Anführer des paramilitärischen Widerstands — eine Rolle, die ihn das Leben kostet, kündet der erste Satz des Romans — verfügt er über jedes Mittel, bevorzugt jedoch eine subtile Strategie des Stalkings. Ihren wachsenden Schrecken teilt die Ich-Erzählerin der Leserin mit, der sie ihr Inneres offenbart. Ihrer Umgebung gegenüber verfällt sie hingegen in starres Schweigen.
Dies gilt für Vielleicht-Freund, einem jungen Auto-Mechaniker, der mit Autoteilen aller Art alleine in seinem Haus lebt und mit dem sie eine Beziehung zwischen Nähe und Distanz führt. Aber es gilt auch für ihre eigene Familie. Die Mutter, die seit dem Tod ihres Mannes alleine mit drei jüngeren Töchtern und der Ich-Erzählerin lebt, und diese drängt endlich eine eigene Familie zu gründen. Ihre drei älteren Schwestern haben dies bereits getan und „Lesemädchen“ gute und miserable Schwager beschert. Erst recht gilt es für die abwesenden, älteren Brüder. So kommt es, daß bei allen, nicht zuletzt im ganzen Viertel, schon bald das Gerücht von einer Affäre zwischen der jungen Frau und dem Milchmann kursiert.
Die Neugier der anderen und ihre eigene Angst lassen sie verstummen. Sie schafft es kaum, sich jemandem anzuvertrauen, wenn doch, schlägt ihr Unglaube entgegen. Es sind die misogynen Tendenzen dieser stockkonservativen „permanent, alarmbereiten Gesellschaft“, die der jungen Frau ein Recht auf Unversehrtheit, auf Abwehr auch subtiler sexueller Bedrohung verwehren. Persönlichkeitsrechte, vor allem die von Frauen, zählen wenig angesichts täglicher, politisch motivierter Gewalt, Bomben und Morden.
Dem Terror des Milchmanns versucht sie aus dem Weg zu gehen, vergeblich. Schließlich nistet er sich in ihrem Kopf ein und löst bei jeder erneuten Begegnung erniedrigende körperliche Symptome aus, „dieses Rückgratschaudern, dieses Schlottern und Schlackern, die ganze Schittelschütteligkeit in meinem Inneren, vom Steißbein bis in die Beine“. Es sind die gleichen Angstzeichen, die ihr Vater schilderte, als er ihr auf seinem Totenbett den Missbrauch gestand, dem er als Kind ausgesetzt war.
Es ist auch der Vater, von dem die Ich-Erzählerin die namenlose Bezeichnung ihrer Mitmenschen übernommen hat. Eine Eigentümlichkeit, an die der Leser sich zunächst gewöhnen muss, um es bald vollkommen normal zu finden, wenn von „Schwester drei“ oder „Schwager eins“, vom „Tablettenmädchen“, dem „Vielleicht-Freund“ oder, mein Highlight, von „Irgendwer McIrgendwas“ berichtet wird. Dieser, um ein weiteres Highlight dieses ungewöhnlichen Romans vorwegzugreifen, erhält eine einzigartige Tracht Prügel von den Benutzerinnen eines Kneipenklos.
Den Roman beherrschen zwar ernste Themen, aber Burns verwandelt sie durch den sarkastischen Blick ihrer Ich-Erzählerin. Dieser entlarvt und trägt nicht unwesentlich zum Lesegenuss bei. Diese Ich-Erzählerin ist wohltuend anders. Sie erkennt, daß „Normalität bei uns unter anderem ein dauerhaftes Nicht-sehen-können-war“. Erst im Laufe der Geschichte erhalten auch andere wieder ihr Augenlicht zurück.
Übersetzt wurde der 2018 mit dem Man-Booker-Prize ausgezeichnete Roman kongenial von Anna-Nina Kroll, der wir nicht zuletzt die Transformation von „Somebody McSomebody“ in das schöne „Irgendwer McIrgendwas“ verdanken.
Das klingt wirklich interessant. Vielen Dank für diese Besprechung!
Und Dir vielen Dank für den Kommentar! Ich freue mich immer, wenn meine Rezensionen gelesen werden und anregen, das Buch zu lesen.