Ehrenwerte Rebellin

Susanne Kippenberger porträtiert in Das rote Schaf der Familie Jessica Mitford und ihre Schwester

HB Kippenberger_978-3-443-24649-2_MR.inddDie Mit­ford Sis­ters sind in Eng­land ei­ne na­tio­na­le Le­gen­de, au­ßer­halb des Com­mon­wealth al­ler­dings we­nig be­kannt. Le­dig­lich ei­ne der sechs Töch­ter von Lord und La­dy Re­des­da­le brach­te es durch ih­re Freund­schaft mit Hit­ler zu his­to­ri­schem Ruhm. Das Schick­sal schien die­se Ver­bin­dung für Unity Mit­ford be­stimmt zu ha­ben. Nicht nur ihr Vor­na­me Val­ky­rie auch ih­re Zeu­gung im ka­na­di­schen Swas­tika sind Omi­na, die Aischy­los nicht tref­fen­der hät­te er­dich­ten kön­nen. Wie im an­ti­ken Dra­ma en­det ih­re ari­sche Ära fast töd­lich. Sie schießt sich am 3.9.39 in den Kopf ver­zwei­felt dar­über, daß die Bri­ten Deutsch­land den Krieg er­klärt ha­ben. Den­noch über­lebt sie die­sen um drei Jahre.

Auch ih­re Schwes­ter Dia­na be­sitzt ein Fai­ble für Fa­schis­ten. Sie hei­ra­tet in zwei­ter Ehe Os­wald Mos­ley, den Grün­der der Bri­tish Uni­on of Fa­schist. Fi­nan­zi­ell un­ter­stützt wur­de er von Mus­so­li­ni, freund­lich ver­bun­den wa­ren auch die Mos­leys mit ih­ren brau­nen deut­schen Ka­me­ra­den. Ih­re Trau­ung fand in Goeb­bels Pri­vat­woh­nung statt.

Jes­si­ca „Dec­ca“ Mit­ford war, wie der Ti­tel der Bio­gra­phie ah­nen lässt, po­li­tisch ge­se­hen das kras­se Ge­gen­teil ih­rer bei­den Schwes­tern. Mit 20 pfeift sie auf die Up­per­class und folgt ih­rer ers­ten Lie­be, Cou­sin Es­mond Ro­mil­ly, in den Spa­ni­schen Bür­ger­krieg. Vor­ge­sorgt hat­te sie schon bei­zei­ten. Seit sie zwölf war, de­po­nier­te sie Geld­ge­schen­ke auf ih­rem Run-Away-Ac­count bei Drummonds.

Nicht we­ni­ger in­ter­es­sant sind die an­de­ren Mit­glie­der der ver­rück­ten Mit­ford-Ge­schwis­ter: Nan­cy lebt in Pa­ris und ver­fasst Ro­ma­ne über ih­re Fa­mi­lie, De­bo­rah „De­bo“ hat ei­ne Af­fä­re mit John F. Ken­ne­dy und hei­ra­tet spä­ter An­drew Ca­ven­dish, wo­durch sie zur Do­wa­ger Du­ch­ess of De­von­shire wird und in Chats­worth lebt. Zu­rück­hal­tend und bo­den­stän­dig bleibt ein­zig Pam, sie lebt als Land­la­dy in­mit­ten ih­rer Tie­re. Tom, der ein­zi­ge Bru­der in der Schwes­tern­schar, fällt 1945 bei ei­nem Ein­satz in Burma.

Al­lei­ne sind sie in ih­rer Kind­heit al­so nie, die sie­ben Mit­fords, auch wenn sie aus Klas­sen­grün­den kei­nen Kon­takt zu an­de­ren Kin­dern ha­ben. Ei­ne um­ge­bau­te Scheu­ne mit Kla­vier ist ihr Pa­ra­dies zum Spie­len und Mu­si­zie­ren. Die Schu­le be­su­chen sie nie, was vor al­lem Dec­ca sehr be­dau­ert. Sie ent­kom­men den Gou­ver­nan­ten und der Lan­ge­wei­le durch ih­re Phan­ta­sie, der sie auch ih­re Ge­heim­spra­che Hon­nish ver­dan­ken.

Das ro­te Schaf der Fa­mi­lie ist nicht nur ei­ne Bio­gra­phie über Dec­ca Mit­ford. Su­san­ne Kip­pen­ber­ger hat in lan­ger Re­cher­che ein Buch über al­le Schwes­tern er­schaf­fen, ein Por­trät der Fa­mi­lie und ih­rer Freun­de, das an­hand per­sön­li­cher Schick­sa­le ei­nen Ein­blick in die Ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts bie­tet. Kip­pen­ber­gers Kon­struk­ti­on macht die Lek­tü­re span­nend und meis­tert den Um­fang. Knapp 550 Sei­ten rei­ner Text sind nicht zu viel, schließ­lich gilt es sechs Mit­ford Sis­ters zu be­glei­ten und meh­re­re Ma­le den At­lan­tik zwi­schen Ame­ri­ka und Good Old Eu­ro­pe zu queren.

Das Land der Frei­heit und der un­be­grenz­ten Mög­lich­kei­ten er­rei­chen Dec­ca und Es­mond zu Be­ginn des Jah­res 1939. Sie le­ben in New York, Wa­shing­ton und Flo­ri­da. Dec­ca ar­bei­tet als Mo­de­ver­käu­fe­rin, spä­ter mit Es­mond an ei­ner Bar. Als ihr Mann 1941 im Kriegs­ein­satz stirbt, bleibt sie mit ih­rer klei­nen Toch­ter in den Staa­ten. 1943 hei­ra­tet sie Bob Treu­haft und zieht mit ihm nach San Fran­cis­co be­vor sie in Oak­land ih­re end­gül­ti­ge Hei­mat fin­det. Aber was heißt schon Hei­mat für die um­trie­bi­ge Ak­ti­vis­tin. In San Fran­cis­co wird sie Mit­glied der Com­mu­nist Par­ty, ein ge­wag­ter Schritt in der Mc­Car­thy-Ära. Doch für Mei­nungs­frei­heit und Ge­rech­tig­keit ris­kiert sie al­les. Als po­li­ti­sche Ak­ti­vis­tin kämpft sie im Ci­vil Rights Con­gress für die Bür­ger­rech­te, un­ter­stützt zu­sam­men mit ih­rem Mann, dem Rechts­an­walt, den NAACP (Na­tio­nal As­so­cia­ti­on for the Ad­vance­ment of Co­lo­red Peo­p­le). Sie pro­tes­tiert ge­gen die Ver­ur­tei­lung von Wil­lie Mc­Gee, stürzt sich in die Pro­tes­te der Free­dom Ri­ders, dis­ku­tiert mit den Black Pan­ther und de­mons­triert ge­gen Viet­nam. Das of­fe­ne Haus der Treu­hafts fun­giert als Zu­fluchts­ort und Kom­mu­nis­ti­scher Salon.

Als die 1945 ein­ge­bür­ger­te Dec­ca zehn Jah­re spä­ter end­lich ih­ren Pass er­hält, be­sucht sie zum ers­ten Mal wie­der Eng­land und die Fa­mi­lie, wei­te­re Rei­sen fol­gen. Sie bleibt al­ler­dings das ro­te Schaf, be­son­ders für den Va­ter, der sie aus Angst um den Fa­mi­li­en­be­sitz ent­erbt. Trotz­dem reißt ih­re en­ge Bin­dung zu den Schwes­tern, auch zu den po­li­tisch an­ders­gläu­bi­gen, nie ab.

Kip­pen­ber­ger ent­deck­te die vie­len Fa­cet­ten die­ser Frau in zahl­rei­chen Ge­sprä­chen. Sie re­cher­chier­te im Ar­chiv der Ohio Sta­te Uni­ver­si­ty, der Dec­ca ei­nen Teil ih­res Nach­las­ses ver­mach­te, und sich­te­te Fo­tos im Fa­mi­li­en­be­sitz. Wenn ihr auch das Mitford’sche Fa­mi­li­en­ar­chiv in Chats­wort­hs ver­schlos­sen blieb, er­fuhr sie von Dec­cas Kin­dern und En­keln gro­ße Unterstützung.

Dec­ca ist ein Mensch, der nie still aber im­mer zu sich selbst steht und stets neue Her­aus­for­de­run­gen sucht. Nach zahl­rei­chen jour­na­lis­ti­schen Ver­öf­fent­li­chun­gen pran­gert sie in The Ame­ri­can Way of De­ath die Ma­chen­schaf­ten des Be­stat­tungs­we­sens an. Auf den Le­se­rei­sen zu die­sem Buch wird sie zur re­gel­rech­ten Per­for­me­rin. Gri­mas­sie­rend stellt sie die gro­tes­ke Lei­chen­k­os­me­tik der Be­stat­ter zur Schau. Es fol­gen wei­te­re Bü­cher, in de­nen sie un­ge­rech­te Ver­hält­nis­se bloßstellt.

Ih­re Kom­mu­ni­ka­ti­ons­lust setzt Dec­ca nicht nur zum Ver­fas­sen von Ar­ti­keln und Bü­chern ein. Schrei­ben ist ihr Le­ben, die Brie­fe ge­hen nicht nur an fer­ne Freun­de oder die Fa­mi­lie in Eng­land, auch ihr Mann Bob war täg­li­cher Adres­sat. Früh ent­deck­te sie das Fax und ani­mier­te Freun­de sich eben­so ein Wun­der­ge­rät an­zu­schaf­fen. Heu­te wä­re Dec­ca si­cher ein Star der so­zia­len Netz­wer­ke und führ­te min­des­tens ein Blog wie die­sen.

Zahl­rei­che Fol­lower wä­ren ihr ge­wiss ge­we­sen. Al­lei­ne schon we­gen ih­res Hu­mors, der sie auch an­ge­sichts des ei­ge­nen To­des im Jahr 1996 nicht ver­lässt. Ihm folg­ten zwei Trau­er­fei­ern in Eng­land und in den USA, die mit Witz und Ex­tra­va­ganz ei­ner Frau ge­dach­ten, de­ren größ­tes Werk, wie ihr Ver­le­ger Abra­hams sag­te, sie selbst war.

Su­san­ne Kip­pen­ber­ger ist ei­ne fun­dier­te Bio­gra­phie über äu­ßerst in­ter­es­sant Frau­en auf kurz­wei­li­ge Art ge­lun­gen. Ih­re wis­sen­schaft­li­che Her­an­ge­hens­wei­se do­ku­men­tie­ren An­mer­kungs­ap­pa­rat, Li­te­ra­tur­lis­te, Stamm­baum so­wie ei­ne um­fang­rei­che Danksagung.

Susanne Kippenberger, Das rote Schaf der Familie. Jessica Mitford und ihre Schwestern. 1. Aufl. 2014, Hanser Berlin

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