Proustscher Super-8-Film

Hilary Mantels Erinnerungsbuch „Von Geist und Geistern“

mantel, geistWenn mei­ne frü­hen Er­in­ne­run­gen auch bruch­stück­haft sind, glau­be ich doch nicht, dass sie, zu­min­dest nicht voll­stän­dig, Kon­fa­bu­la­tio­nen sind, und das glau­be ich auf­grund ih­rer über­wäl­ti­gen­den sinn­li­chen Kraft. (…) Wenn ich sa­ge: „Ich schmeck­te“, dann schme­cke ich es, und wenn ich sa­ge: „Ich hör­te“, dann hör­te ich es. Ich re­de nicht von ei­nem proust­schen Mo­ment, son­dern von ei­nem proust­schen Su­per-8-Film. Je­der kann die­se al­ten Fil­me in Gang set­zen, er braucht nur et­was Vor­be­rei­tung und Übung.“

Hi­la­ry Man­tel ist als Au­torin der Ro­ma­ne Wöl­fe und Fal­ken be­kannt, die, ent­ge­gen der Er­war­tung an das Gen­re des His­to­ri­schen Ro­mans, höchs­tes li­te­ra­ri­sches Ni­veau be­sit­zen. Bei­de wur­den 2009 und 2012 mit dem Boo­ker-Pri­ze ausgezeichnet.

Im Früh­jahr die­ses Jah­res hat der Du­mont Ver­lag ih­re Au­to­bio­gra­phie Von Geist und Geis­tern vor­ge­legt, die in Man­tels Hei­mat Eng­land be­reits 2003 vor den bei­den be­rühm­ten Wer­ken er­schien. Ihr Weg zur Star-Au­torin kann folg­lich nicht das The­ma die­ses Bu­ches sein. Doch zei­gen ih­re Er­in­ne­run­gen be­reits, wie sie mit li­te­ra­ri­scher Be­ga­bung und ana­ly­ti­scher Fä­hig­keit die­sen Weg einschlägt.

Zu­dem zeu­gen sie, so der gut ge­wähl­te Ti­tel, vom Geist Hi­la­ry Man­tels. Auf Geis­ter ganz im ge­spens­ti­schen Sin­ne soll­te man eben­so ge­fasst sein. Gleich auf den ers­ten Sei­ten schil­dert die Au­torin ei­ne Er­schei­nung ih­res ver­stor­be­nen Stief­va­ters und macht mir da­mit den Ein­stieg schwer. Schnell wird klar, daß sie mit ih­rer Er­wä­gung, dies sei ih­rer Mi­grä­ne ge­schul­det, nur ra­tio­na­le Ein­sprü­che vor­weg­neh­men will. Man­tel ist da­von über­zeugt, Din­ge wahr­neh­men zu kön­nen, die an­de­ren ver­bor­gen blei­ben. Auch über ih­ren kör­per­li­chen Schmerz spricht sie schon auf den ers­ten Sei­ten. Ob­wohl ei­ne der­ar­ti­ge Ver­mi­schung von Eso­te­rik und Kran­ken­ge­schich­te in mir eher Schau­der als In­ter­es­se aus­löst, le­se ich wei­ter und das nicht nur, weil wir in un­se­rem Li­te­ra­tur­kreis dar­über dis­ku­tie­ren wol­len. Viel­leicht hat mich Man­tels Zu­ver­sicht über­zeugt: „Ich wer­de ein­fach drauf­los­schrei­ben, den­ke ich mir, hal­te die Hän­de vor mich hin und sa­ge, c’est moi, ge­wöh­ne dich dar­an. Ich wer­de mei­nen Le­sern ver­trau­en. (…) Ich sa­ge mir, er­zäh­le ein­fach, wie du da­zu kamst, ein Haus mit ei­nem Geist dar­in zu ver­kau­fen. Aber die­se Ge­schich­te lässt sich nur ein­mal er­zäh­len und ich muss sie rich­tig hin­be­kom­men.“.

Ne­ben den er­blick­ten Geis­tern, er­zählt sie auch von er­träum­ten, von den „Geis­tern an­de­rer Le­ben, die du hät­test füh­ren kön­nen.“. In fünf Tei­len legt Man­tel ih­re Ge­schich­te an. Zu­nächst schil­dert sie ih­re Mo­ti­ve, ih­re Er­wä­gun­gen und Be­den­ken, die sie bei die­sem au­to­bio­gra­phi­schen Buch be­glei­te­ten. An­lass ist der Ab­schied von ei­nem Haus, der vie­le Er­in­ne­run­gen her­vor­ruft. Er­in­ne­run­gen, die wie bei Proust an Sin­nes­wahr­neh­mun­gen ge­bun­den sind und in der Au­torin ei­nen „proust­schen Su­per-8-Film“ evo­zie­ren. Im zwei­ten Teil er­zählt sie von ih­ren chro­no­lo­gisch frü­hes­ten Er­leb­nis­sen als Zwei­jäh­ri­ge. Aus Frag­men­ten be­stehen die­se Rück­bli­cke, in die von ihr als glück­lich emp­fun­de­ne Vor­schul­zeit. Der Groß­va­ter ist für sie prä­gend in ei­ner Fa­mi­lie, die im Ne­ben­ein­an­der ih­rer Häu­ser in der Ar­bei­ter­sied­lung von Had­field ge­bor­gen ist. Man­tel be­kennt „mei­ne frü­he Welt war syn­äs­the­tisch“ und be­rück­sich­tigt dies bei der Be­schrei­bung der Erinnerungsbruchstücke.

Der Ein­tritt in die Schu­le, in den „Pa­last der dum­men Fra­gen“, be­schert dem Mäd­chen, das im Den­ken weit vor­aus ist, die schlimms­te Zeit des Le­bens. Wäh­rend Hi­la­rys Er­zähl­ta­lent zu Ta­ge tritt, ver­zwei­felt sie an den sinn­lo­sen Sät­zen der Fi­bel. Zu­dem ver­liert sie die Ge­bor­gen­heit der fa­mi­liä­ren Häu­ser­rei­he. Die Mut­ter hat für sie, die zwei Brü­der und den Va­ter ein neu­es Haus ge­fun­den. Es wird nach und nach in Stand ge­setzt, wäh­rend die Ehe der El­tern zerbricht.

Ge­ra­de in den Schil­de­run­gen der frü­hen Jah­re zeigt Man­tel, wie Er­in­nern funk­tio­niert, auch wenn sie es li­te­ra­risch formt. Die Er­fah­run­gen des Au­gen­blicks ver­än­dern sich im Lau­fe un­se­res Le­bens, Ei­ge­nes und Frem­des, Do­ku­men­te und Be­rich­te, nicht zu­letzt die Phan­ta­sie for­men sie. Hi­la­ry Man­tel sucht nach ih­nen nicht in über­ein­an­der­ge­schich­te­tem Se­di­ment­ge­stein, sie fin­det die Be­stand­tei­le ih­res ver­gan­ge­nen Selbsts ne­ben­ein­an­der lie­gend wie die Stei­ne auf ei­nem Feld. Ana­ly­tisch scheint sie die­se von al­len Sei­ten zu be­trach­ten um sie dann mit schrift­stel­le­ri­schem Ta­lent in ei­ne li­te­ra­ri­sche Kunst­form zu überführen.

Das Er­geb­nis ist ein for­men­rei­ches Er­in­ne­rungs­werk. Ne­ben kur­zen Sze­nen der frü­hen Kind­heit fin­den sich An­deu­tun­gen über das Ar­ran­ge­ment der El­tern. Kon­sis­tent er­zählt sie von ih­ren Er­fah­run­gen als jun­ge Er­wach­se­ne und be­rich­tet in­ten­siv und of­fen über ih­re Krank­heit. Schließ­lich hat die­se für ihr Le­ben ei­ne ein­fluss­rei­che Fol­ge, sie macht sie kin­der­los. Die­ses Trau­ma durch­zieht das Buch, wir le­sen von ein­ge­bil­de­ten Ba­bys, von un­ge­bo­re­nen und ver­stor­be­nen. Dies wird mir manch­mal zu viel und ih­re Theo­rien über Kin­der­wunsch­grün­de emp­fin­de ich skur­ril. Doch es macht den Pro­zess ver­ständ­lich, an des­sen Ent­wick­lung Hi­la­ry Man­tel ih­re Le­ser auf be­ein­dru­cken­de Wei­se teil­ha­ben lässt. Die Un­ge­bo­re­nen sind Man­tels Geis­ter, sie be­völ­kern ih­re Träu­me bis es ihr schließ­lich ge­lingt, sich von ih­nen zu befreien.

Hilary Mantel, Von Geist und Geistern, Dumont Verlag, 1. Aufl. 2015

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