Schuldlos schuldig

Alice Munro erweckt die Moiren in ihren Erzählungen „Entscheidung“, „Bald“ und „Schweigen“

MunroDie al­ten Grie­chen sa­hen ihr Le­ben als von den Göt­tern vor­her­be­stimmt. Wel­cher Art und wie groß das Glück oder Un­glück ei­nes Ein­zel­nen war galt ih­nen als un­ver­rück­bar. Am Schick­sals­fa­den der Moi­ren hin­gen al­le Be­zie­hun­gen im Le­bens­ver­lauf. Wie ei­ne an­ti­ke Schick­sals­göt­tin spinnt auch Ali­ce Mun­ro am Fa­den ih­rer Prot­ago­nis­tin Ju­liet in den drei in­halt­lich und for­mal auf­ein­an­der­fol­gen­den Er­zäh­lun­gen Chan­ce, So­on und Si­lence. Sie sind Teil des 2004 er­schie­nen Samm­lung Tricks. Li­te­ra­ri­sche Tricks be­herrscht die Au­torin in meis­ter­haf­ter Wei­se, wie ihr zu­letzt das No­bel­preis­ko­mi­tee be­stä­tig­te. Be­mer­kens­wert ist Mun­ros Ta­lent, auf we­ni­gen Sei­ten die un­vor­her­ge­se­he­nen Wen­dun­gen ei­nes gan­zen Le­bens darzustellen.

Im ers­ten Teil, der in der deut­schen Über­set­zung von Hei­di Zer­ning den Ti­tel „Ent­schei­dung“ trägt, be­geg­nen wir Ju­liet, ei­ner er­folg­rei­chen Stu­den­tin der Alt­phi­lo­lo­gin. Nicht nur ihr Stu­di­en­fach wi­der­spricht dem Rol­len­mo­del ei­ner jun­gen Frau, ‑die Hand­lung spielt im Jahr 1965‑, auch Ju­liet selbst ver­hält sich un­an­ge­passt. Ih­re Pro­fes­so­ren ra­ten ihr aus die­sem Grund trotz ih­res viel­ver­spre­chen­den Ta­lents ei­ne Stel­le als Aus­hilfs­leh­re­rin an­zu­neh­men und ih­re aka­de­mi­sche Kar­rie­re aufzuschieben.

Zu Be­ginn der Er­zäh­lung hat Ju­liet die­sen Job ge­ra­de be­en­det, sie will zu ih­ren Stu­di­en zu­rück­keh­ren, da er­reicht sie ein Brief, des­sen letz­ter Satz „Du fehlst mir“ un­miss­ver­ständ­lich scheint. Ob­wohl Ju­liet kei­ne en­ge Be­zie­hung zum Brie­fe­schrei­ber ver­bin­det, be­schliesst sie ihn zu be­su­chen. Sie hat Eric vor ei­nem hal­ben Jahr im Zug ken­nen ge­lernt, der sie zu ih­rem neu­en Ar­beits­ort brach­te. Da­mals be­schäf­tig­te sich die Stu­den­tin der an­ti­ken Spra­chen mit der My­tho­lo­gie der Grie­chen, sie las „Die Grie­chen und das Ir­ra­tio­na­le“, das Stan­dart­werk des Alt­phi­lo­lo­gen Eric (sic!) Ro­bert­son Dodds. Ein tra­gi­sches Er­eig­nis un­ter­bricht die Zug­fahrt, wäh­rend der sich Ju­liet wie ei­ne Frau in ei­nem rus­si­schen Ro­man fühlt. Ein ein­sa­mer Mann, der zu­vor in Ju­liets Ab­teil saß und ih­re Auf­merk­sam­keit such­te, be­geht Selbst­mord. Ju­liet emp­fin­det Schuld, weil sie ihn ab­ge­wie­sen hatte.

An die­ses Ge­fühl des Schuld­los­schul­digs­eins, er­in­nert sie sich als sie Whalbay, den klei­nen Küs­ten­ort, in dem Erics Haus steht, kurz nach dem En­de ei­ner Lei­chen­fei­er er­reicht. Erics schwer­kran­ke Frau war vor we­ni­gen Ta­gen ver­stor­ben. Eric selbst ist nicht an­we­send. Ai­lo, ei­ne star­ke, do­mi­nan­te Per­son, die nicht nur ih­rem Na­men nach an Ael­lo ei­ne der Har­py­ien der grie­chi­schen Un­ter­welt er­in­nert, emp­fängt sie dort. Sie lässt Ju­liet auf ei­ge­nen Wunsch im Haus zu­rück, nicht oh­ne ihr zu­vor von Erics Frau­en­ge­schich­ten zu berichten.

Die fol­gen­de Er­zäh­lung „Bald“ spielt 1969. In den vier ver­gan­ge­nen Jah­ren wur­den Eric und Ju­liet ein Paar und El­tern ei­ner klei­nen Toch­ter, Pe­ne­lo­pe. Wäh­rend ei­nes Ein­kaufs­bum­mels fin­det die schwan­ge­re Ju­liet die Re­pro­duk­ti­on ei­nes Chagall-Ge­mäl­des, wel­ches ihr auf wun­der­sa­me Wei­se die Si­tua­ti­on der El­tern zu spie­geln scheint. Sein Ti­tel „Ich und das Dorf“ deu­tet das fol­gen­de Ge­sche­hen der Er­zäh­lung an.

We­ni­ge Mo­na­te spä­ter be­sucht Ju­liet mit Pe­ne­lo­pe die El­tern in der bi­got­ten Klein­stadt. Die­se hat sich kaum ge­än­dert, um­so mehr die Le­bens­um­stän­de der El­tern. Ihr Va­ter Sam, einst­mals ein an­ge­se­he­ner Leh­rer, hat sei­nen Be­ruf auf­ge­ge­ben um Ge­mü­se zu züch­ten. Er teilt sich die Ar­beit mit Ire­ne, die er als Hil­fe für sei­ne kran­ke Ehe­frau Sa­ra en­ga­giert hat.

Ju­liet er­fährt, daß ihr Zu­sam­men­le­ben mit Eric und das un­ehe­li­ches Kind die Ur­sa­chen für Sams Kün­di­gung sind. Sie emp­fin­det Schuld, zu­gleich fühlt sie sich fehl am Platz. Ih­re Po­si­ti­on scheint nun die bo­den­stän­di­ge Ire­ne ein­ge­nom­men zu ha­ben, die als Ge­gen­bild der in­tel­lek­tu­el­len Ju­liet, die Zu­nei­gung Sams er­obert hat. Sa­ra hin­ge­gen lei­det an der un­er­füll­ten Sehn­sucht zu ih­rer Toch­ter, die die­se emo­tio­na­le Di­stanz als wei­te­re Schuld auf sich lädt.

Schwei­gen“, die drit­te Er­zäh­lung, be­rich­tet von Ju­liets Su­che nach ih­rer er­wach­se­nen Toch­ter Pe­ne­lo­pe. Als Ju­liet sie in ih­rem Me­di­ta­ti­ons­camp be­su­chen will, ist sie ver­schwun­den. Die ent­täusch­te Ju­liet trifft statt ih­rer auf ei­ne Frau, Jo­an, die sie we­gen ih­rer star­ken und be­herr­schen­den Aus­strah­lung zu­nächst als Päps­tin Jo­han­na be­zeich­net. Spä­ter nennt Ju­liet sie nur noch He­xe Ship­ton, da sie in ih­ren Au­gen über ähn­li­che pro­phe­ti­sche Kräf­te zu ver­fü­gen scheint. Die­se Jo­an Jo­han­na Ship­ton hält der agnos­ti­schen Ju­liet vor, daß ih­re ra­tio­na­le Er­zie­hung in Pe­ne­lo­pe ein star­kes Be­dürf­nis nach Spi­ri­tua­li­tät ver­ur­sacht ha­be. Ist sie al­so auch an Pe­ne­lo­pes Schwei­gen Schuld, fragt sich Ju­liet, nach­dem nach we­ni­gen Post­kar­ten­grü­ßen der Kon­takt zu ih­rer Toch­ter ab­bricht. Oder hat et­was an­de­res die Tren­nung verursacht?

Wir er­fah­ren vom Tod Erics, der zu­vor sei­ne Be­zie­hung zu Ju­liet in Ge­fahr brach­te. Erics Lei­che wird wie im an­ti­ken Epos am Strand ver­brannt. Ju­liet ver­lässt mit Pe­ne­lo­pe den Küs­ten­ort und macht Kar­rie­re als Jour­na­lis­tin. Die­se hat sie längst be­en­det als sie nach vie­len Jah­ren zu­fäl­lig ei­ner Ju­gend­freun­din Pe­ne­lo­pes be­geg­net. Von ihr er­fährt sie, daß die Toch­ter mit fünf Kin­dern im Nor­den Ka­na­das lebt.

Das Schick­sal formt die­se Er­zäh­lun­gen, de­ren drei Tei­le, wie in der Grie­chi­schen Tra­gö­die, als Pro­log, Epi­so­de und Ex­odus auf­tre­ten. Drei do­mi­nan­te erd­ver­bun­de­ne Frau­en­fi­gu­ren er­schei­nen als Vor­bo­tin­nen des Un­glücks. Ai­lo, der Ju­liet bei ih­rer An­kunft be­geg­net, warnt sie vor den wech­seln­den Frau­en­be­zie­hun­gen Erics. Ire­ne, die an Ju­liets Stel­le zu Sams Ver­trau­ter wird, be­tont Ju­liets un­an­ge­pass­tes Ver­hal­ten. Schließ­lich die He­xe Ship­ton, die das end­gül­ti­ge Ver­schwin­den Pe­ne­lo­pes pro­phe­zeit. Aus­ge­rech­net Pe­ne­lo­pe nann­te Ju­liet ih­re Toch­ter, die auf­grund die­ses Na­mens die treu­es­te Frau der Welt sein müss­te, die treu­es­te Ehe­frau al­ler­dings nicht die treu­es­te Tochter.

Nicht nur die­se Fi­gur er­in­nert an die be­rühm­tes­te Hel­den­ge­schich­te der grie­chi­schen An­ti­ke, die Ili­as“. Ju­liet ver­gleicht Erics Frau­en mit Bris­eis und Chrys­e­is, den Ge­lieb­ten von Achill und Aga­mem­non, auch die Lei­chen­ver­bren­nung am Strand macht den Be­zug of­fen­sicht­lich. Über­haupt sind die Ver­wei­se auf li­te­ra­ri­sche und bild­ne­ri­sche Kunst­wer­ke zahl­reich. Als wei­te­re an­ti­ke Dich­tung be­geg­nen wir der Ai­thio­p­ika“ des He­lio­dor, die von der Trau­er der äthio­pi­schen Kö­ni­gin um ih­re un­ehe­li­che, ge­walt­sam von ihr ge­trenn­te Toch­ter be­rich­tet. Bei He­lio­dor fin­den Mut­ter und Toch­ter wie­der zu­ein­an­der bei Mun­ro nicht.

In den drei Er­zäh­lun­gen fin­den sich Hin­wei­se auf „Hi­ro­shi­ma, mon amour“, auch An­na Ka­re­ni­na ist un­schwer zu ent­schlüs­seln. Die­se Zi­ta­te deu­ten eben­so, wie der Bris­eis-Chrys­e­is-Ver­gleich auf Lie­bes­be­trug, auch das To­des­mo­tiv schwingt mit. In­ter­es­san­te Be­zü­ge er­ge­ben die Bild­be­trach­tun­gen der bei­den er­wähn­ten Ge­mäl­de, Chagalls „Ich und das Dorf“, und Bot­ti­cel­lis „Ge­burt der Ve­nus“. Letz­te­res deu­tet auf Ju­liets selbst­be­wuss­ten Auf­tritt in der Klein­stadt hin, durch den sie sich von ih­rer al­ten Rol­le als Schul­mäd­chen zur neu­en der mo­der­nen se­xu­ell be­frei­ten Frau wandelt.

Die Mo­ti­ve Schuld und Fremd­heit va­ri­iert Ali­ce Mun­ro am Schick­sal ih­rer Prot­ago­nis­tin Ju­liet, das sie in un­vor­her­seh­ba­ren Wen­dun­gen und in kunst­vol­len Sprün­gen sei­ner Be­stim­mung zuführt.

Ali­ce Mun­ro, Tricks, übers. v. H. Zer­ning, Fi­scher Ver­lag, 1. Aufl. 2006

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