Itō Hiromi erzählt in „Dornauszieher“ von den ambivalenten Gefühlen eines alternden Ichs
„Mutters Qual. Vaters Qual. Ehemanns Qual.
Einsamkeit, Angst, Frustration.
Diese Qualen befallen mich zwar, aber neuerdings quälen sie mich nicht wirklich. All die Qualen, mit denen ich mich herumschlage, so wurde mir klar, sind ja mein Stoff. Ich bin damit beschäftigt, diese Qualen zu fixieren und von ihnen zu erzählen, und indem ich von ihnen erzähle, vergesse ich die Qualen, ist das nicht doch der Segen von Jizō, dem Dornauszieher?“
„Dornauszieher“, der Titel des Romans der Japanerin Itō Hiromi, weckt bei mir die Assoziation zu einer berühmten Skulptur der Antike. Meine westliche, durch Vorlieben geprägte Verknüpfung liegt der von Itō intendierten Figur räumlich wie mythologisch ziemlich fern. Sie denkt an den im Untertitel genannten Jizō von Sugamo, einen Gott, an den sich der Gläubige wendet, um eine Plage loszuwerden. Ich denke an den Jüngling, der einen Dorn aus seinem Fuß zieht. Beiden gemeinsam ist der Schmerz, der zugleich als Hauptmotiv des Romans gesehen werden kann.
Hiromi Itō oder besser Itō Hiromi, gemäß der japanischen Namensfolge, wurde 1955 in Tokyo geboren. Ebenso wichtig wie die korrekte Stellung des Vor- und Nachnamens, die bewusst für die Hauptfigur des Romans getauscht wurde, ist die Betonung. Die westliche Gewohnheit, die zweite Silbe hervorzuheben, bringt Hiromi besonders auf die Palme, wenn ihr englischer Ehemann dies nicht beherrscht. Diese und andere, schmerzvollere Schwierigkeiten schildert Itō mit Ironie. Sie ist ein Merkmal ihres Romans, der zeigt, daß die Heldin Hiromi sehr viel mit der Schriftstellerin Itō zu tun hat. Doch es handelt sich bei „Dornauszieher“ nicht um ein Werk aus der Kategorie Memoire. Dazu komponiert die als Lyrikerin in Japan bekannte Itō den Text viel zu kunstvoll mit poetischem Potential. Die Dichterin, die sich gerne japanischen Mythen widmet, die sie ins heutige Japanisch transferiert, nutzt nicht nur lyrische Stilelemente und eine poetische Sprache, sondern ebenso die auch graphisch unterschiedlichen Formen der japanischen Schrift. Das ist in der deutschen Übersetzung kaum darstellbar, wie die Japanologin und Übersetzerin Irmela Hijiya-Kirschnereit in ihrem erhellenden Nachwort darlegt.
Mit derart vielfältigen Mitteln erzählt Itō vom ebenso vielfältigen wie disparatem Leben ihrer Protagonistin. Mit ihrem Ehemann, von dem sie nicht nur eine Generation, sondern auch die Herkunft unterscheidet, lebt sie gemeinsam mit der jüngsten ihrer drei Töchter in Kalifornien. Oft besucht sie die Eltern in Japan. Die Reisen nehmen zu je älter Mutter und Vater werden. Schließlich verbringt Hiromi so viele Wochen dort, daß ihre Tochter die japanische Schule besuchen kann. Als die Mutter stirbt, wird das Einzelkind Hiromi zur einzigen Bezugsperson des Vaters, dessen Einsamkeit vom Pflegedienst und einem winzigen Hündchen gelindert wird.
Die Themen in Itōs Roman werden vielen Lesern vertraut sein. Sie sind universell, kulturübergreifend, menschlich. Sie handeln von familiären Beziehungen, von Liebe, aber auch von Abhängigkeit und Verantwortung. Aus der Perspektive einer Frau um die Sechzig erzählt sie von den alten Eltern, die gegen ihre Hilflosigkeit ebenso ankämpfen wie die Helfende selbst. Von Töchtern, die in unterschiedlicher Weise ihrer Unterstützung bedürfen. Von Liebe und Wut, der ganzen Vielzahl ambivalenter Gefühle in ihrer Partnerschaft, deren Psychologie sie zu verstehen versucht. Itō, die auch als Psychoanalytikerin arbeitet, hat mit „Dornauszieher“ einen psychologischen Roman geschaffen. Sie schildert Stellvertreter-Funktionen, seien es der Talisman aus Sugamo oder der die Kindsrolle einnehmende Spatzenhund der Eltern. Die weise Demenz der Mutter findet im Roman ebenso Platz, wie die Altersverzweiflung des Vaters. Das Gespräch mit der alternden Dichterin, die fast wie ein künftiges Spiegelbild Hiromis wirkt, widmet sich dem Tod.
Bei allem bleibt der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen stets ihr Selbstbild als Frau, das sie gegen jede Fremdbestimmung zu verteidigen sucht. Oft vergeblich, dessen ist sie sich bewusst. Emotionale Abhängigkeiten und interkulturelle Differenzen sind die Ursachen, ebenso die sich verändernden Körperlichkeiten. Sexualität, Verfall und Tod schildert Itō direkt und drastisch. Sie schreckt vor keinem Feuchtgebiet zurück, so daß ich mich zuweilen fast an jenes Skandalbuch erinnert hätte, wäre die Machart von „Dornauszieher“ nicht gänzlich anders.
Neben der Stimme der freimütigen Erzählerin Hiromi, finden sich amüsante und vertrauliche Dialoge. Zusätzlich bindet Itō Stimmen und Motive aus Werken der japanischen Mythologie aber auch der Weltliteratur ein, die sie am Ende jedes Kapitels aufführt. Auffallend sind die Wiederholungen von Sätzen und Passagen, ein „rhythmisch und klangvolles Wiederaufgreifen sprachlicher Wendungen und Formeln bis sich alles zur lyrischen Aussage hin verdichtet“, wie Irmela Hijiya-Kirschernereit analysiert.
Sollte man das Nachwort vor dem Roman lesen, fragte eine Freundin, der ich begeistert von dem Buch berichtete. Nein, denn der lebendige Erzählstil und die emotionalen Schilderungen Itōs machen den Roman auch ohne jedes Hintergrundwissen zu einer unterhaltsamen wie erhellenden Lektüre. Das Nachwort und die Anmerkungen der Übersetzerin vertiefen sie.