Andrea und Dirk Liesemer erzählen von Nietzsches „Neuanfang im Süden“
„Endlich entfernt er sich vom Land und tritt die Reise auf See an, kann alles Alte hinter sich lassen, sich einem Schiff anvertrauen, hat unter sich nur noch die Tiefe des Meeres. Wenn er dann an einem anderen Ort ankommt, wird er den festen Boden einer andersartigen Welt betreten, um sein Leben von Neuem zu beginnen, sich an der Weite des südlichen Himmels erfreuen.”
An „Tage in Sorrent“, dem Roman von Andrea und Dirk Liesemer, reizen mich der Handlungsort, den ich gut kenne, die Epoche sowie das Personal des Romans. Allen voran Friedrich Nietzsche, der sich noch jung, aber durch seine Sehschwäche beeinträchtigt, auf Einladung einer Mäzenin im südlichen Sorrent erholen möchte. Seine Begleiter, zwei junge Akademiker, reisen als Unterstützer mit ihm und werden mit der Zeit zu Leidensgenossen. Wenn auch auf unterschiedliche Weise, ist allen gemeinsam das Leiden an sich selbst.
Gleich zu Beginn des Romans begegnen wir Nietzsche, dem das Autorenpaar Liesemer in personaler Erzählform nahekommt. Seine Befindlichkeiten während der beschwerlichen Reise, sein Hadern mit dem unpünktlichen Begleiter, seine Angst vor einem erneuten Anfall zeigen zunächst den Menschen Nietzsche, bevor wir von seinen Ideen erfahren.
Die Literatur von und über Nietzsche füllt Bibliotheken. So wunderte es nicht, daß auch sein Sorrent-Aufenthalt durch Paolo D‘Iorio unlängst ins wissenschaftliche Interesse rückte. Ausgewählte Werke der Sekundärliteratur, Quellen aus der Hand Nietzsches und der seiner Begleiter dienten den Autoren, wie eine Literaturliste im Anhang zeigt, als Basis für den Roman. Recherchen vor Ort, aber auch, wie das Duo in einem Interview betont, Andrea Liesemers eigenes Augenleiden bereichern den fiktionalen Text durch Atmosphäre und Empathie und machen die historische Episode lebendig.
Sie beginnt im Oktober 1876. Malwida von Meysenbug, die italophile im Kulturbetrieb ihrer Zeit gut vernetzte Salonière, zieht es nach Sorrent. Sie lädt Friedrich Nietzsche ein, der seinen Studenten Albert Brenner und seinen Freund Paul Rée mitbringt. Nietzsche und der tuberkulosekranke Brenner sollen sich im Süden erholen. Der Philosoph Rée ist der Universität überdrüssig und will seine Zukunft überdenken. Malwida von Meysenbug träumt, wie so manche in ihrer Zeit, von der Gründung einer philosophischen Schule, die sie nach Vorbild der Stoa als Griechische Akademie bezeichnet. Die drei jungen Männer, die sie ebenso liebevoll wie besitzergreifend als ihre Söhne bezeichnet, scheinen ideale Mitglieder zu sein.
Der Ankunft in der Villa Rubinacci folgen heitere Tage. Die Reisenden erkunden den Ort, durchstreifen einzeln oder gemeinsam seine Straßen und Plätzen, genießen auf den kleinen, von Felsen begrenzten Strandstücken die Sonne und das Meer. Kontakt mit der heimischen Bevölkerung oder anderen Reisenden gibt es kaum, bis auf die Besuche bei den Wagners, mit denen sowohl Malwida wie auch Nietzsche befreundet sind und die im noblen Grandhotel Vittoria residieren. Während Malwida hofft, daß auch Paul und Albert in diesen Kreis aufgenommen werden, entfremdet sich Nietzsche von Wagner. Dessen zunehmend nationalistische Einstellung, die er mit seiner Frau Cosima teilt, zeigt sich in abfälligen Bemerkungen über Paul Rée, der jüdische Vorfahren hat. Nietzsche entzieht sich den Zusammenkünften, wenige Tage später reisen die Wagners ab. So bleiben die drei Männer mit ihrer mütterlichen Fürsorgerin und dem Hausmädchen Trina allein. Man liest, schreibt, diskutiert, geht spazieren und macht, wenn es das Befinden erlaubt, Ausflüge nach Capri, Neapel und Pompeji. Dies alles wird besucht und wiederum auch nicht. So hätte ich über die Besichtigung der Ruinen von Pompeji gerne mehr gelesen. Die Beschreibungen widmen sich mehr dem Streifen durch die Obst- und Olivengärten entlang der schattenspendenden Mauern und den Blicken auf steil abfallende Felsschluchten. Diese Erkundungen, die wir häufig in Person des jungen Brenners erleben, spiegeln sich im Inneren der Figur. Sie lassen den schwärmerischen Geist spüren, der nicht nur den jungen Brenner infiziert hat. Auch Nietzsche und Rée folgen nur zu gerne den Ideen der idealistischen Malwida, die die Freigeister auf ihre Bahnen lenken will. Das muss schief gehen.
Von den durch innere wie äußere Umstände enttäuschten Träumen erzählen die Autoren in hohem, getragenen Ton. Darin zeichnen sie die atmosphärischen Landschaftsbilder ebenso, wie die einfühlsamen Introspektionen. In die Naturerlebnisse betten sie Traumsequenzen, was wie ein tiefenpsychologisches Eintauchen in innere Zustände wirkt. Dazu zählen auch Geräusche, „Es dauert, bis er bemerkt, dass sie aus seinem Innersten hervordringen. Es sind die dissonanten Töne einer überwunden geglaubten Vergangenheit, dirigiert von einem Mann, der wie aus dem Nichts heraus vor ihm steht, eitel, runzelig, gnomenhaft. Wie penetrant dieser Alte den Neuanfang stört.“ Freud lässt grüßen, oder in diesem Falle eher Wagner. Diese Einblicke sind keinesfalls reine Spekulation, viele Gedanken Nietzsches sind in den Roman eingeflossen und als Zitate kursiv hervorgehoben.
Psychologisches Erzählgeschick zeigt sich auch im Aufbau des Romans. Personales Erzählen erlaubt intime Einblicke in die Einstellungen der Figuren, es wird unterbrochen durch dialogreiche, lebendige Szenen. Auf diese Weise machen Andrea und Dirk Liesemer die historischen Persönlichkeiten zu nahbaren Menschen. Manchmal irritiert der Wechsel von hohem Ton zu einfachen Tätigkeiten. So wäscht sich Malwida von Meysenbug vor ihrer Abreise nach Sorrent, erst „einem Ritual gleich (…) die Monate des Wartens vom Leib“ und schlüpft ins „feierlich auf dem Stuhl bereit gelegte Kleid“. Es folgt, „Sie schmiert ein paar Butterbrote für die lange Fahrt“. Auch das Leben einer großen Idealistin ist eben manchmal einfach banal.
Der Roman schließt mit einem Epilog, der das weitere Schicksal seiner Protagonisten skizziert. Friedrich Nietzsche kehrte aus Sorrent zurück, mit dem festen Vorsatz, sich „gut, aber reich“ zu verheiraten. Bekanntermaßen wurde daraus nichts. Lou von Salomé kam dazwischen und entzweite Nietzsche und Rée, wovon ein Roman Irvin David Yaloms erzählt.
Andrea und Dirk Liesemer, Tage in Sorrent, mare Verlag 2022
Werke, die in Sorrent entstanden oder begonnen wurden oder die Episode erwähnen:
Paul Rée, Der Ursprung der moralischen Empfindungen, Schmeitzner, Chemnitz 1877.
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches – ein Buch für freie Geister, 1878–1880.
Malwida von Meysenbug, Der Lebensabend einer Idealistin. Nachtrag zu den Memorien einer Idealistin, Schuster&Loefer, Berlin/Leipzig 1899.
Albert Brenner (unter dem Pseudonym Albert Nilson), Das flammende Herz, in: Deutsche Rundschau, 3/10 (1877), S. 1–11.