Aline Valangin erzählt in „Casa Conti“ von Frauen im Tessin der Zwischenkriegszeit
„Die Casa Conti stand am Anfang eines Dorfes, allein, inmitten eines sanft ansteigenden und in Terrassen geordneten Geländes, auf welchem zuunterst Reben, weiter oben Kartoffeln und ums Haus herum Gemüse und Blumen wuchsen. Zwei Reihen Palmen säumten den breiten, geraden Treppenweg vom großen Tor der Besitzung bis zur obersten Plattform. Links neben dem Hause waren kleinere Gebäude, Ställe und Remisen zusammengedrängt, rechts davon zog sich der Garten einer hohen Mauer entlang, die ihn gegen Norden schützte, dem Obstgarten zu, der weiter drüben in Wiesen und kleine Äcker auslief. Das ganze Anwesen war etwas verwahrlost. (…) Doch tat das der Schönheit und dem Stolz des Hauses wenig Abbruch. Es stand mit dicken Mauern wie für die Ewigkeit geschaffen da, schaute etwas hochmütig aus seinen durch Malereien verzierten und erhöhten Fenstern übers Land hinaus, und das Wappen der Conti über der Haustüre war frisch wie am ersten Tag.“
Das Castello ist Albas Elternhaus, in das sie gezwungen durch die geschäftliche Misere ihres Mannes Vito aus Mailand zurückkehrt. Alba ist darauf angewiesen, daß ihr Vater sie wieder aufnimmt. Der Notar und Holzhändler Giulio Morsini hat auf seine alten Tage nichts gegen die Gesellschaft seiner ältesten Tochter einzuwenden. Kühler wird Alba von ihrer Schwester empfangen. Seit ihrem letzten Wiedersehen bei Lisettas Hochzeit vor zehn Jahren ist diese ist nicht nur dick, sondern Alba fremd geworden. Ein uneheliches Kind brachte Lisetta die unglückliche Ehe mit dem Dorfmetzger Burri ein. Der jähzornige, penibler Deutschschweizer ist über die Rückkehr der Schwägerin wenig erfreut. Er fürchtet um die Casa, die als künftiges Erbe längst einem Schuldner versprochen ist. Damit nicht genug an konfliktträchtigem Personal. Neben Albas junger Nichte Rosina taucht der attraktive Bruno auf, dessen Verhalten Verwirrung stiftet. Er ist der Sohn von Giovanni Conti, welcher familiär mit der Casa verbunden und dem einst Alba versprochen war, bis diese sich in Vito verliebte.
Die Casa Conti, das repräsentative wie renovierungsbedürftige Castello in den Tessiner Bergen, dient Aline Valangin in ihrem gleichnamigen Roman nicht nur als bildreiche Kulisse. Ihre Lage bedingt das Verhalten der Figuren, ihre Architektur macht sie zum Objekt der Begierde. Dazu kommen enttäuschte Ehefrauen, geldgierige Männer, glücklos wie hoffnungsvoll Liebende. Was nach einem Heimatroman vor idyllischem Bergpanorama klingt, verläuft jedoch unerwartet. Er entpuppt sich als psychologischer Roman, in dessen Mittelpunkt Frauen im ländlichen Tessin der Zwischenkriegszeit stehen. Die Handlungszeit des Romans liegt fast ein Jahrhundert zurück, seine Eindrücklichkeit, seine Sinnlichkeit und Emotionalität, die Valangins Stil zum Ausdruck bringen, wirken immer noch.
Die 1889 bei Bern geborene und fast hundertjährig 1986 in Ascono verstorbene Aline Valangin war mit den von ihr aufgeworfenen Themen vertraut. Seit 1936 lebte sie im Tessin, wo sie in Comologno im Onsernone-Tal den Palazzo della Barca bewohnte, dessen Architektur Vorbild für die Casa Conti war. Dort empfing die zweifach verheiratete Schriftstellerin etliche Größen ihrer Zeit, darunter Ignazio Silone, Kurt Tucholsky, Ernst Toller, Max Ernst, mit denen sie manchmal mehr als das Interesse an Kunst verband. Sie wurde als Konzertpianistin ausgebildet, wirkte nach dem Studium bei C. G. Jung als Psychoanalytikerin und webte kunstvolle Wandteppiche. Besonders die letzten beiden Tätigkeiten lassen sich in ihrem Roman fassen. Während sie die Liebe zum kreativen Weben ihren Protagonistinnen Alba und Rosina zuschreibt, spiegelt sich ihr psychologisches Gespür in Sprache und Stil. Geschickt verknüpft sie Albas Empfindungen bei Gärtnern und Weben zu einem sinnlichen Erleben, durch das nicht selten subtile Erotik blitzt. Offenere Worte wären in dem 1944 erstmals veröffentlichten Roman wohl zu gewagt gewesen, nicht nur für Schweizer Verhältnisse. Doch wer Augen hat, der lese. Da duften Glyzinien so, „dass Alba überwältigt ihr Gesicht in die flammigen Dolden presste, sie mit den Lippen zu berühren“, Gemüsebeete zeigen „frühe Üppigkeit“, Grün wirkt „betörend“. Als Alba frühmorgens zwischen „strotzenden Salatköpfen“ und „milchigweißen Eierblumen“ Bruno begegnet, erblickt sie „ein großes, hartes, schönes Wesen, beängstigend aufrecht und voller Klarheit“, mit dem sie kurz darauf die Abbracia Bosco, Geißblattranken, bewundert. Mit sprachlichen Mitteln entlarvt Valangin die Gefühle und Begierden ihrer Figuren.
Doch sie zeichnet ihre Figuren auch konkret. Dies gilt besonders für die Schwestern Alba und Lisetta. Alba, die schöne Städterin, und Lisetta, die matronenhafte Metzgersfrau, bilden nicht nur äußerlich ein Gegensatzpaar. Mögen ihre Verhältnisse sich auch ähneln, beide sind ökonomisch abhängig, Alba vom windigen Vito, Lisetta vom brutalen Burri, so ist doch Alba ist die Aktive. Sie hat vor Jahren den ihr zugedachten Mann verlassen, während Lisetta verlassen wurde. Alba denkt über eine eigenständige Zukunft nach, während Lisetta die für sie gewählte Rolle hinnimmt, im Gegensatz zu Rosina, die sich Albas Vorbild vor Augen gegen den vorgezeichneten Lebensweg wehrt. „Zu Hause war für sie nicht daran zu denken, nach ihrem Sinn eine Arbeit zu suchen und zu verrichten; zu Hause hatte sie den Haushalt zu besorgen und der Mutter beizustehen.“
Die Casa Conti trägt ebenso Züge des einstigen Wohnsitzes von Aline Valangin, wie ihre Hauptfigur Eigenschaften der Autorin hat. Für Alba, die mondäne Schöne aus der Metropole Mailand, gilt in ihrer Heimat mit Sicherheit das, was für Valangin galt, wie Ursi Trösch 1979 treffend bemerkte, „weder ihre Lebensart noch ihre berufliche Tätigkeit (entspricht) dem üblichen Schema einer Frau ihrer Zeit“.
Beides kann nun dank der Neuveröffentlichung des Limmat Verlags nachempfunden werden.
Aline Valangin, Casa Conti, Limmat Verlag 2022
Aline Valangin wurde selbst zum Gegenstand des Roman „Aline und die Erfindung des Lebens“ von Eveline Hasler.