Transzendentale Trauer

Steve Rasnic Tem verfolgt in „Das langsame Fallen von Staub an einem ruhigen Ort“ bedrückend-fantastische Wege in das Empfinden des Subjekts

Wie vie­le Le­ben, wie vie­le Lei­chen, wie vie­le Er­in­ne­run­gen, wie viel Schmerz pass­ten in ei­ne Welt? Viel­leicht war sie ei­nes Ta­ges voll und sie muss­ten ge­hen, an­statt auf ei­nem Fried­hof zu leben?“

 Wie fühlt es sich an, ein­sam zu sein? Alt zu wer­den? Krank zu wer­den? Zu ster­ben? Es be­ginnt da­mit, daß man kaum mehr den Staub be­wäl­ti­gen kann, der sich un­wei­ger­lich auf Bü­chern wie im ei­ge­nen Ge­hirn fest­setzt und peu à peu al­les un­ter sich be­gräbt. Als ei­ne Art Chro­nik die­ses na­tür­li­chen Vor­gangs, dem wir al­le ent­ge­gen se­hen, las­sen sich die Kurz­ge­schich­ten in „Das lang­sa­me Fal­len von Staub an ei­nem ru­hi­gen Ort“ von Ste­ve Ras­nic Tem le­sen. Der ame­ri­ka­ni­sche Ge­gen­warts­au­tor Tem, 1950 in Vir­gi­nia ge­bo­ren, hat wie sein Über­setz­ter Ger­rit Wust­mann im Nach­wort dar­legt, zahl­rei­che Ro­ma­ne und Kurz­ge­schich­ten ver­öf­fent­licht. Ei­ne deut­sche Über­set­zung stand bis­her aus, die nun der Li­te­ra­tur Qui­ckie Ver­lag in ei­ner Aus­wahl vor­legt. Tems Tex­te ste­hen in der Nach­fol­ge von Franz Kaf­ka, Ray Brad­bur­ry und  Ray­mond Car­ter und zei­gen sur­rea­le Ele­men­te, Weird-Fic­tion und Horror.

Auch in die­sen Kurz­ge­schich­ten fin­den sich Spu­ren von grau­en­vol­ler und ver­rück­ter Phan­ta­sie. Sie stei­gert sich von Ge­schich­te zu Ge­schich­te. Was in der Ers­ten noch als trau­ri­ge Rea­li­tät er­scheint, wird in der Nächs­ten zu zu­neh­men­der Ver­wirrt­heit. Man­che Ge­schich­te liest man als dys­to­pi­sches Grau­en, an­de­re als ex­al­tier­te Ge­sell­schafts­kri­tik. Am En­de, in der Elf­ten und Letz­ten des Ban­des, ent­fal­tet Tem blan­ken Hor­ror, wo­durch die­se für mich kaum les­bar war. Viel­leicht muss­te es so en­den? Viel­leicht führ­ten all die zu­vor so fes­seln­den Sto­ries un­wei­ger­lich dahin?

Zu Be­ginn er­zählt Tem in der ti­tel­ge­ben­den Ge­schich­te von ei­nem gleich­sam li­te­ra­tur- wie ord­nungs­bes­se­se­nem Mann. Den Ein­sa­men pla­gen Er­in­ne­run­gen an sei­ne Toch­ter, be­son­ders schmerzt ihn sein Un­ver­mö­gen, ihr als Kind nicht ge­recht ge­wor­den zu sein. Alt ge­wor­den lei­det er dar­un­ter, ihr sei­ne Lie­be nicht ge­zeigt zu ha­ben, oh­ne sich dies recht be­wusst zu sein. Statt­des­sen be­gräbt er sei­ne Ge­füh­le un­ter ei­ner zwang­haf­ten Hausstaubmilben-Phobie.

Wo führt es hin, wenn al­les vor­bei ist und nichts mehr zu et­was führt? Als Ant­wort dar­auf kann die zwei­te Ge­schich­te ver­stan­den wer­den. Sie er­zählt von ei­ner selt­sa­men Zug­fahrt an die Küs­te. Carson, der ver­ein­zel­te und mit 63 nicht mehr ganz so jun­ge Prot­ago­nist, hat sie nur an­ge­tre­ten, weil ein Pro­fes­sor für Tran­szen­den­tal­s­phi­lo­so­phie ihm da­zu ge­ra­ten hat. „Sie müs­sen das tun! Ob­wohl ich die Rei­se nie selbst un­ter­nom­men ha­be, ist mir zu Oh­ren ge­kom­men, es sei ei­ne ein­zig­ar­ti­ge Er­fah­rung.“ An der Küs­te war­tet Carson ge­mein­sam mit ei­ner gro­ßen Grup­pe und doch ganz für sich in ei­nem Ho­tel auf die An­kunft ei­nes Schif­fes. Es soll die Rei­sen­den zu ei­nem ih­nen un­be­kann­ten Ziel brin­gen. Wie die Zwi­schen­welt des Lim­bus wirkt das Set­ting, wel­ches Tem in die­ser span­nen­den, un­heim­li­chen Er­zäh­lung entwickelt.

Un­ter den bis 50 Sei­ten lan­gen Tex­ten gibt es auch ei­ne kür­ze­re, die ein­drück­lich vom Um­zug ei­nes al­ten Men­schen aus sei­nem Zu­hau­se in ei­nen die­ser „Kar­tons“ er­zählt, „in de­nen Leu­te ihr Zeug un­ter­brin­gen, und in die sie hin­ein­klet­tern konn­ten, um den Wind und den Re­gen und je­ne, die ei­nem Bö­ses woll­ten, aus­zu­schlie­ßen“. Was bleibt ist die Er­in­ne­rung an das Zu­hau­se und den ver­stor­be­nen Partner.

Be­son­ders be­ein­druckt hat mich die Ge­schich­te „Der Krank­heits­künst­ler“, die in Hin­sicht auf die Zu­nah­me von Selbst­dar­stel­lung und Voy­eu­ris­mus wie ein Bild un­se­rer Zeit er­scheint. — Lei­der feh­len An­ga­ben zu den Er­schei­nungs­jah­ren der ein­zel­nen Ge­schich­ten. — Je­ro­me, der Künst­ler, prä­sen­tiert auf ei­nem hoch­kant ge­stell­ten Bett sei­nen lei­den­den Leib. Zu sei­nem Re­per­toire zäh­len Seu­chen wie die Pest oder die Cho­le­ra, die ihm sein Arzt und Le­bens­ge­fähr­te ein­impft. „Das Schwie­rigs­te ist, das rich­ti­ge En­de zu fin­den. Du bist schwach und schmerz­er­füllt, das Aus­maß von Schwä­che und Schmerz hängt da­von ab, wie vie­le der mo­der­nen Treib­mit­tel du dich ein­zu­wer­fen ent­schlos­sen hast, um die al­te oder weit­ge­hend aus­ge­rot­te­te Krank­heit zu pu­shen, die den Kern dei­ner Per­for­mance bil­det. Zu vie­le (sic!), und dei­ne Vor­füh­rung über­zeugt nicht, zu we­ni­ge (sic!), und du bist durch Un­wohl­sein und dro­hen­des Ab­le­ben so ab­ge­lenkt, dass du den Blick da­für ver­lierst, aus der Per­for­mance ei­ne Kunst zu ma­chen.“ Trotz des grau­en­vol­len An­blicks und des Ge­stanks sind die Vor­stel­lun­gen be­liebt. Man­che Zu­schau­er kom­men mehr­mals, um die Ver­hee­run­gen am Kör­per des Künst­lers zu ver­fol­gen. Auch wenn die­se Dys­to­pie ab­we­gig klingt, ist sie den­noch vor­stell­bar. Man den­ke nur an die selbst­quä­le­ri­schen Per­for­man­ces von Ma­ri­na Abra­mo­vić. Doch wel­chen Sinn fin­det das Pu­bli­kum dar­in? Sucht es die Lust am Voy­eu­ris­mus? Stellt es sich sei­nen Ängs­ten vor Krank­heit und Tod? Oder ist es, ganz im Ge­gen­satz, das zwang­haf­te Stre­ben nach Reinheit?

Je­de ein­zel­ne Ge­schich­te in „Das lang­sa­me Fal­len von Staub an ei­nem ru­hi­gen Ort“ bie­tet ei­nen wei­ten Spiel­raum für In­ter­pre­ta­tio­nen. Ob die Ori­gi­na­le eben­falls in ei­nen Band und in die­ser Rei­hen­fol­ge vor­la­gen, geht aus den An­ga­ben des Ver­lags lei­der nicht her­vor. Die ge­wähl­te Ab­fol­ge bie­tet sich al­ler­dings an, da sich die Sto­ries, wenn auch nur an­deu­tungs­wei­se, auf­ein­an­der be­zie­hen. Prot­ago­nis­ten frü­her Ge­schich­ten wer­den zu Ne­ben­fi­gu­ren der fol­gen­den. Dies för­dert zu­sätz­lich die Stei­ge­rung des Un­heim­li­chen. Es mag der Staub sein, der die Kurz­ge­schich­ten als äu­ßer­li­ches Mo­tiv eint, in ih­rem In­ne­ren ver­bin­den sie die wie­der­keh­ren­den The­men Ver­lust und Ein­sam­keit so­wie Krank­heit und Tod. Doch Tem lässt sei­ne Fi­gu­ren, wie sei­ne Le­ser, nicht da­mit al­lei­ne, er schenkt ih­nen Er­in­ne­run­gen und Träu­me, um ih­ren Ge­füh­len und Ge­lieb­ten er­neut na­he zu sein.

Steve Rasnic Tem, Das langsame Fallen von Staub an einem ruhigen Ort, übers. v. Gerrit Wustmann, Literatur Quickie Verlag Hamburg 2024

 

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