Claire Keegan erzählt in „Reichlich spät“ von einem Geizhals mit rigiden Ansichten
„Das war ein Teil des Problems: dass sie nicht hören und gut die Hälfte der Dinge auf ihre Weise tun wollte.“
Claire Keegans Erzählung „Reichlich spät“ mag mit ihren 64 Seiten für eine Monographie etwas knapp bemessen sein, literarisch und emotional hingegen ist sie beeindruckend. Ganz und gar nicht pathetisch, eher lakonisch und mit hochpsychologischer Tiefe erzählt Keegan die Geschichte einer Beziehung. Die Handlung spielt an einem Sommertag in Dublin, sogar das Datum wird genannt, der 29. Juli. Warum, offenbart erst das Ende.
Der personale Erzähler gibt die Sicht eines Mannes wieder, Cathel, den wir im ersten der vier Kapitel als verdrucksten und schlecht gekleideten Büroangestellten kennenlernen. Draußen, so sein Blick aus dem Fenster, genießen die Menschen den Sommer. Doch Cathel beargwöhnt die Freude der anderen ebenso wie den blauen Himmel. Er neidet den Kollegen ihren guten Geschmack für Garderobe und hasst sich selbst wegen eines kleinen Missgeschicks am Computer. Alles Schöne scheint ihm fern. Cathel leidet an einem Verlust. „So vieles im Leben verlief reibungslos ungeachtet des Gewirrs menschlicher Enttäuschung und des Wissens, das alles einmal enden muss.“
Wie es dazu kam, erzählen die beiden folgenden Kapitel in der Rückschau. Auch diese folgt ausschließlich durch Cathel, dem männlichen Part des Paares. Sabine sehen wir ebenfalls nur durch seinen Blick, der jedoch, dank Keegans Kunst, soviel mehr offenbart, als der Protagonist sich je zugestanden hätte. Wir erfahren, wie die beiden sich kennenlernen, von der ersten gemeinsamen Zeit, dem Heiratsantrag und dem Umzug Sabines in Cathels Wohnung. Bereits zu Beginn dieser Erinnerung ist klar, daß Sabine nicht mehr an Cathels Seite weilt, die Leserin merkt schon bald, warum. Sabine ist sinnlich, kreativ und freigiebig, alles, was der kalte Cathel nicht ist. Erst durch sie lernt er das kennen, was bisher in seinem kleinen, streng getakteten Leben keinen Platz hatte. Warum Sabine den langweiligen und noch dazu geizigen Mann nicht viel früher verlässt, bleibt rätselhaft. Vielleicht hoffte sie, ihn zu ändern.
Doch ist dies tatsächlich die Geschichte einer Beziehung oder nicht eher das Psychogramm eines Menschen, den man als anankastische Persönlichkeit bezeichnen könnte? Einer rigiden Person, kontrollierend, perfektionistisch, geizig, die sich selbst als Maß aller Dinge nimmt? Cathel lehnt alles ab, was seinen strengen Ansprüchen nicht genügt, manchmal sogar sich selbst. Er wertet andere ab und verkennt, daß er sich im Grunde wünscht, so zu sein wie sie. Stets schreibt er ihnen, — sogar reinen Kunstfiguren wie den Frauen auf den Gemälden Vermeers — , negative Eigenschaften zu, die er in hohem Maße selbst verkörpert. Keegan dienen derartige Spiegelungen zur Charakterisierung ihrer Figuren, die sie nie auserklärt. In angenehmer nicht nur sprachlicher Lakonie lässt sie so dem Leser viel Freiraum. Dabei weist sie mit psychologischem Gespür die Richtung. So schließt Cathel an einer Stelle das Fenster, „verbannt Lachen und Licht“ und fühlt sich gleich besser. So werden die Hügel, welche Cathel auf seiner täglichen Busfahrt lediglich erblickt, während sie Sabine schon längst erklommen hat, zur Metapher für alles, was aus dem alltäglichen Allerlei herausragt, für jede Freude, jeden Genuss, den Cathel sich nicht nur versagt, sondern gar nicht erst in Betracht zieht.
Nicht nur einmal wird in dieser Erzählung, — man könnte lachen, wäre es nicht gleichzeitig traurig -, überdeutlich klar, daß auch der Geiz ein Merkmal dieses zwangsgestörten Buchhalters ist. Er reicht von der Aufrechnung einiger Kirschen bis zur Angst, daß seine Verlobte für ihren Verlobungsring zu viel Geld ausgebe.
Es gibt übrigens auch Frauen, die so sind. Ist dies trotzdem ein Text über Misogynie? Zwar trägt die Erzählung in der französischen Übersetzung diesen Titel und im Text spricht eine Frau allen irischen Männern dieser Wesenszug zu, doch Pauschalurteilen misstraue ich, man denke nur an die Männerfiguren bei Colm Tóibín. Das Verhalten Cathels, seines Vaters und seiner Brüder soll jedoch keinesfalls gerechtfertigt werden. Auch die Lektüre seiner Sitznachbarin im Bus, es ist der Roman des Dubliners Roddy Doyle, „Die Frau, die gegen Türen rannte“, handelt von ehelicher Gewalt und zeigt, daß Cathel kein Einzelexemplar ist.
Bei Keegan klingt die Frage an, ob dieses frauenverachtende Verhalten auf Prägungen zurückzuführen sei. Ebenso könnte man den unfaßbaren Geiz von den Erfahrungen bitterer Armut herleiten. Doch Keegan entlässt ihren Protagonisten und damit auch den Leser nicht hoffnungslos. Dies zeigt zuallererst der Titel der Erzählung, „Reichlich spät“, der dem originalen „So late in die Day“ sehr nahekommt. Er kann mehrdeutig gelesen werden. Sabine hat gerade noch die Kurve gekriegt und Cathel kurz vor der Hochzeit verlassen. Doch vielleicht kriegt auch Cathel noch die Kurve? Ihn überwältigen am Ende seine Gefühle, auch wenn er es sich nicht eingestehen kann. Doch er kann nicht noch einmal von vorne anfangen, anders als die Katze wird Sabine nie mehr zurückkommen. Vielleicht kann er künftig in allem weniger geizig sein?
„…irgendein Pokerturnier, Männer mit Baseballkappen und Sonnenbrillen, die über ihre Karten wachten. Eine Weile saß er da und sah zu, wie diese fast völlig schweigsamen Männer ihre Einsätze platzierten, auf Nummer sicher gingen oder blufften. Die meisten verloren und verloren immer wieder, oder sie gaben auf, bevor sie noch mehr verloren.“