Calla Henkel legt mit „Ein letztes Geschenk“ einen Spannungsroman voll sarkastischer Gesellschaftskritik vor
„»Ich mache keine Kunst, sondern Kunsthandwerk.« Naomi legte den Kopf schräg. »Was ist der Unterschied?« »Bei Letzterem geht es um den Herstellungsprozess und den späteren Nutzen, bei Ersterem um den Marktwert und ums Ego.« Ich hielt inne und sah mich im Restaurant um. »Beim Kunsthandwerk gibt es kein Ego – jeder kann es erlernen und darin zum Meister werden. Kunst beruht auf der Isolierung eines Genies, wohingegen Kunsthandwerk … integer ist.« Naomi schob ihre Unterlippe vor. »Sie halten das alles hier also für Schwachsinn?« Ich nickte.“
Der Plot von „Ein letztes Geschenk“, dem zweiten Roman der amerikanischen Autorin Calla Henkel, soll nur knapp erzählt werden, da er dem Genre der Spannungsliteratur angehört. Esther, eine begabte Porträtkünstlerin, die aus Frust am Betrieb in den Wäldern North Carolinas handgebundene Bücher anfertigt, erhält von einer New Yorkerin Milliardärin den Auftrag zur Herstellung von Scrapbooks. Aus den von Naomi über Jahre gesammelten Fotos und Dokumenten sollen Erinnerungsalben entstehen, mit denen sie ihren Ehemann überraschen möchte. Zunächst lehnt Esther ab, doch die Umstände zwingen sie, den lukrativen Job anzunehmen. Als ihre Auftraggeberin verschwindet, macht sie sich, ganz im Sinne der von ihr geliebten True-Crime-Podcasts, auf eine gefährliche Spurensuche.
Was soll mich an einem Roman reizen, in dem eine zur Buchbinderin degradierte Superkünstlerin für eine Superreiche Scrapbooks gestaltet? Manchmal ist die Antwort ganz einfach, der Cover-Blurb und das Wetter. Zwar bin ich für Spannungsromane eher nicht empfänglich, für schwarzen Humor jedoch umso mehr. Der eignet sich ganz fabelhaft gegen tagelangen Regen, subtropische Feuchtigkeit sowie andere äußere wie innerliche Unpässlichkeiten. Zudem, so war ich gewiss, wird von diesem Verlag so manches, aber kein schlechter Roman kommen.
Zugegeben, auf den ersten Seiten fremdelte ich ein wenig, aber dann war ich drin in der höchstmöglichen Abgelenktheit. Man kennt solche Zustände aus dem Binge Watching von Serien. Ein Vergleich, der mir nicht von ungefähr in den Sinn kommt, daran erinnern nicht nur die unvorhergesehenen Wendungen, die das Geschehen umlenken, aber rasant weitertreiben. Auch das Setting ähnelt dem einer Serie wie Revenge.
Neben dem Blockhaus in den Wäldern mit Selbstgetöpfertem, gibt es Häuser in den Hamptons mit Kunst und edlem Interieur. Dort werden abgesehen von einer eher geringeren Dosis Sex&Crime vorallem Verluste aufgearbeitet und Beziehungen durchleuchtet. Besonders die zwischen Eltern und Kindern, wobei Mütter und Töchter eindeutig im Vordergrund stehen. Das gilt für alle Frauenfiguren des Romans, was nicht nur daran liegt, daß Esther, die Ich-Erzählerin, Frauen liebt. In Rückblicken erzählt diese verletzte wie stark verletzliche Figur von ihrem Vorleben als begabte Malerin im Schatten eines hochdotierten Künstlers wie von ihrer Kindheit mit einer problematischen Mutter.
Dabei fällt eine gewisse Distanz auf, mit denen sie ihre Erinnerungen formuliert. Ein Selbstschutz, der sich oft genug in Sarkasmus kleidet, nicht zuletzt zum Vergnügen der Leserin. Mit diesem Humor feit Henkel ihre Heldin vor dem Leben und der Liebe, denen sie fortan ohne Illusion und Idealisierung entgegensieht. Seitenhiebe auf die verschiedenen Milieus, in denen Esther sich umtreibt, nicht ausgeschlossen. Die Superreichen, verkörpert durch Naomi und ihr Gefolge, entlarvt sie in ihrem vermeintlichen Ästhetizismus. „Unsere Wohnung hat schwarzen Parkettboden und weiße Wände, keine Kunst, keine Fotos, gar nichts. Größtenteils begeistert mich das. Wir sind zwar keine Amish, aber wir mögen es clean. Er betrachtet unser Zuhause als ästhetische Oase, aber wir witzeln manchmal, dass sein Purismus schon an Faschismus grenzt.“ Andererseits befördern sie aus Status-Gründen eine „hyperkapitalistische Kunstwelt“, in der der Künstler die Selbstgefälligkeit seiner Kunden bedient und sein Werk prostituiert. „Ich war wieder die Hofnärrin, die auf das Wohlwollen der Reichen angewiesen war, und das, obwohl ich mir nach unzähligen Porträtgemälden im Auftrag von Michael Valentine geschworen hatte, mich nie wieder vertraglich an irgendwelche wohlhabenden Mäzene zu binden.“
Daneben begegnen wir alternativen Kunsthandwerkerinnen, die sich naturnah selbstverwirklichen, was sie nicht davon abhält, sich bei Instagram zu vermarkten. „An diesem Berghang gab es keine queeren Frauen, aber in Asheville wimmelte es von Lesben. Der inoffizielle Werbeslogan der Stadt, der während eines Indigo-Girls-Konzerts in den Neunzigern entstanden war, lautete: Zehntausend Lesben können nicht falsch liegen. Und natürlich brauten sich alle diese Frauen Kombucha-Tee, aßen von selbstgetöpfertem Geschirr, glaubten an Astrologie und »wanderten gern«.“
Esther ist selbst ein Teil dieser queeren Szene in den Blue Ridge Mountains, die dort ihre „lesbische Cottagecore-Fantasie“ suchen, vegan und mit Craftbeer versteht sich. Dorthin scheint sich ihr neuer Nachbar verirrt zu haben, mit dem Henkel ein weiteres problematisches Kapitel der Gesellschaft öffnet.
Durch diese unterschiedlichen Kreise bewegt sich Esther auf der Suche nach Naomi, dabei fällt ihr deren Lieblingsbuch in die Hände, das wie eine Vorlage von Naomis Handeln wirkt, aber auch Bezüge zum vorliegenden Roman aufweist. „Schließlich zog ich Naomis Lieblingsbuch hervor, Gone Girl von Gillian Flynn. Ich hatte seit dem College, wo Frankenstein von Mary Shelley Pflichtlektüre gewesen war, keine Erzählliteratur mehr gelesen. In meinen Augen war Fiktion manipulativ und steckte voller Übertreibungen. (…) Was mich an dem Roman am meisten faszinierte, war, dass die Handlung wie ein Videospiel angelegt war, wie eine atemlose Schnitzeljagd.“
Zwischen Kunst, Kapital und Selbstsuche entwickelt Calla Henkel Figuren, die ihre Verletzungen auf verschiedene Weise zu kompensieren suchen. Diese Verstrickungen bereichert sie auf äußerst spannende Weise mit einem Rätsel, dessen Lösung die Leserin sehr gerne folgte.
Im Original trägt der Roman den Titel „Scrap“, der in seiner Mehrdeutigkeit kaum übersetzbar ist. Hätte man ihn doch übernommen. Den deutschen Titel finde ich ebenso wie das Cover wenig passend. Doch das nur am Rande.