Scrap

Calla Henkel legt mit „Ein letztes Geschenk“ einen Spannungsroman voll sarkastischer Gesellschaftskritik vor

»Ich ma­che kei­ne Kunst, son­dern Kunst­hand­werk.« Nao­mi leg­te den Kopf schräg. »Was ist der Un­ter­schied?« »Bei Letz­te­rem geht es um den Her­stel­lungs­pro­zess und den spä­te­ren Nut­zen, bei Ers­te­rem um den Markt­wert und ums Ego.« Ich hielt in­ne und sah mich im Re­stau­rant um. »Beim Kunst­hand­werk gibt es kein Ego – je­der kann es er­ler­nen und dar­in zum Meis­ter wer­den. Kunst be­ruht auf der Iso­lie­rung ei­nes Ge­nies, wo­hin­ge­gen Kunst­hand­werk … in­te­ger ist.« Nao­mi schob ih­re Un­ter­lip­pe vor. »Sie hal­ten das al­les hier al­so für Schwach­sinn?« Ich nickte.“

Der Plot von „Ein letz­tes Ge­schenk“, dem zwei­ten Ro­man der ame­ri­ka­ni­schen Au­torin Cal­la Hen­kel, soll nur knapp er­zählt wer­den, da er dem Gen­re der Span­nungs­li­te­ra­tur an­ge­hört. Es­ther, ei­ne be­gab­te Por­trät­künst­le­rin, die aus Frust am Be­trieb in den Wäl­dern North Ca­ro­li­nas hand­ge­bun­de­ne Bü­cher an­fer­tigt, er­hält von ei­ner New Yor­ke­rin Mil­li­ar­dä­rin den Auf­trag zur Her­stel­lung von Scrap­books. Aus den von Nao­mi über Jah­re ge­sam­mel­ten Fo­tos und Do­ku­men­ten sol­len Er­in­ne­rungs­al­ben ent­ste­hen, mit de­nen sie ih­ren Ehe­mann über­ra­schen möch­te. Zu­nächst lehnt Es­ther ab, doch die Um­stän­de zwin­gen sie, den lu­kra­ti­ven Job an­zu­neh­men. Als ih­re Auf­trag­ge­be­rin ver­schwin­det, „Scrap“ weiterlesen

Ein alter Alutopf und eine riesige, rote Couch

In ihren Romanen „Mama Odessa“ und „Baumgartner“ erschaffen Maxim Biller und Paul Auster vielfältige Wege zur Erinnerung und zeigen einige Gemeinsamkeiten

An­na war an sei­ner Sei­te, auf der gan­zen Rei­se gin­gen sie ne­ben­ein­an­der­her, spra­chen mit­ein­an­der, hör­ten ein­an­der zu, wäh­rend sie durch die Räu­me und schwach be­leuch­te­ten Kor­ri­do­re des Pa­lasts der Er­in­ne­rung zo­gen und Hun­der­te gro­ße und klei­ne Din­ge auf­such­ten, die sie in die­sen vier­zig Jah­ren er­lebt hat­ten. Selbst­ver­ständ­lich war sie nicht in Fleisch und Blut bei ihm, aber als er zum ers­ten Mal nach weiß Gott wie lan­ger Zeit ih­re Brie­fe und Ma­nu­skrip­te las, fand er im­mer­hin ih­re Stim­me wie­der, und als er sich in die zahl­lo­sen Fo­tos ver­tief­te, die er und an­de­re Zeit ih­res Le­bens von ihr ge­macht hat­ten, fand er auch ih­ren Kör­per wie­der.“ (Paul Aus­ter, Baumgartner)

„Ich stand jetzt, fast fünf­zig Jah­re spä­ter, vor den bei­den Bil­dern im al­ten Ar­beits­zim­mer mei­ner Mut­ter in der Bie­ber­stra­ße und sah sie mi­nu­ten­lang an. Da­bei ver­such­te ich, mich an mei­ne rus­si­sche Kind­heit zu er­in­nern, oder we­nigs­tens an ein paar Mo­men­te, Ge­rü­che, Bli­cke. Aber da war nichts, gar nichts. Mei­ne Er­in­ne­run­gen be­stan­den fast nur aus al­ten Fo­tos und den Bil­dern, die mein Groß­va­ter nach ih­nen ge­malt hat­te. War ich nicht, dach­te ich plötz­lich, manch­mal bei ihm im Ate­lier in der Mol­do­wan­ka ge­we­sen? Ja, rich­tig. Das Ate­lier war im Erd­ge­schoss, hin­ten, am En­de des Hofs, (…) War­um hat­te ich das ver­ges­sen? War­um er­in­ner­te ich mich plötz­lich dar­an?“ (Ma­xim Bil­ler, Ma­ma Odessa)

Manch­mal, es mag Zu­fall sein, of­fen­ba­ren zwei Ro­ma­ne, die ich oh­ne be­stimm­te Ab­sicht nach­ein­an­der ge­le­sen ha­be, star­ke Ge­mein­sam­kei­ten, die mich ein­fach nicht mehr los­las­sen und zum Wei­ter­den­ken an­re­gen. So er­ging es mir auch mit den neu­en Ro­ma­nen von Ma­xim Bil­ler und Paul Aus­ter, „Ma­ma Odes­sa“ und „Baum­gart­ner“.

Die stärks­te Ge­mein­sam­keit liegt dar­in, wie in den bei­den Wer­ken „Ein al­ter Alutopf und ei­ne rie­si­ge, ro­te Couch“ weiterlesen

Besessene Sinnsuche

Thomas Glavinic schildert in Das grössere Wunder innere und äussere Extremwelten

DBLWas für ein Ge­fühl, dach­te Jo­nas wäh­rend des Falls. Was für ein Rau­schen, was für ein Ge­ruch, was für ein Leuch­ten, was für ei­ne Kraft, welch Wild­heit, was für ei­ne Prä­zi­si­on, was für ei­ne Er­schüt­te­rung, was für ein Pri­ckeln, was für ei­ne Über­ra­schung, was für ei­ne Mu­sik, was für ein Wind, welch Stolz, wie schön, was für ei­ne Leich­tig­keit, was für ein Wahn­sinn, was für ein Him­mel, was für ei­ne Zeit, was für ei­ne Er­fah­rung, was für ein Le­ben. Und er fiel und fiel und fiel. Und er fiel noch im­mer. Und fiel.“ S. 203

Stel­len Sie sich letz­te Fra­gen und in­ter­es­sie­ren Sie sich für Ex­trem­si­tua­tio­nen, dann le­sen Sie Das grö­ße­re Wun­der, den neu­en Ro­man von Tho­mas Gla­vi­nic. Wie be­reits in Die Ar­beit der Nacht und Das Le­ben der Wün­sche trägt die Haut­pfi­gur den Na­men Jo­nas und denkt über den Sinn sei­ner Exis­tenz nach. Dies­mal be­fin­det er sich auf ei­ner Ex­pe­di­ti­on zum Mount Everest.

Glavinic_24332_MR1.inddWer, wie ich, bei ei­ner Acht­tau­sen­der­be­zwin­gung an Rein­hold Mess­ner oder gar an die gams­bär­ti­ge Berg­stei­ger­ro­man­tik ei­nes Lou­is Tren­ker denkt, sieht der Aus­sicht ei­ne sol­che Un­ter­neh­mung gut 500 Sei­ten lang zu be­glei­ten eher skep­tisch ent­ge­gen. Doch er wird po­si­tiv über­rascht wer­den, denn ihn er­war­tet ei­ne span­nen­de Mix­tur aus Gip­fel­stür­me­rei und Ma­fia­ge­ba­ren, Co­ming-of-Age-Sto­ry und Phi­lo­so­phie. Die­se ver­ab­reicht Gla­vi­nic sei­nem Le­ser in zwei von Ka­pi­tel zu Ka­pi­tel wech­seln­den Er­zähl­strän­gen, Jo­nas’ Be­stei­gung des Ever­est-Gip­fels und sein bis­he­ri­ges Le­ben, das sei­ne zu­nächst schlim­me Kind­heit, sei­nen Ein­zug ins Schla­raf­fen­land und sein Er­wach­sen­wer­den umfasst.

Bei­de Er­zäh­lun­gen sind von zahl­rei­chen glück­li­chen Zu­fäl­len, man mag sie auch Wun­der nen­nen, ge­prägt. Hoff­nungs­los er­scheint das Le­ben der ver­nach­läs­sig­ten Zwil­lings­brü­der Jo­nas und Mi­ke bei ih­rer al­ko­hol­kran­ken Mut­ter und de­ren ge­walt­tä­ti­gen Män­nern, als ei­ne gu­te Fee sie aus die­ser Si­tua­ti­on ret­tet. Pic­co ist der Groß­va­ter von Jo­nas” bes­tem Freund Wer­ner, eher ei­nem Ma­fia­pa­ten „Be­ses­se­ne Sinn­su­che“ weiterlesen

Skandinavisches Schweigen

Über einen Sommer des Abschieds schreibt Per Petterson in „Pferde stehlen

Ein­sa­me Spa­zier­gän­ge in der Na­tur be­för­dern oft den Ge­dan­ken­fluss und die dar­in auf­tau­chen­den Er­in­ne­run­gen. So auch bei Trond, des­sen Ta­ge durch re­gel­mä­ßi­ge Run­den mit dem Hund Ly­ra struk­tu­riert sind. Trond leb­te schon an vie­len Or­ten, nun hat er sich mit 67 Jah­ren in ei­ne al­te Hüt­te am See zu­rück­ge­zo­gen. Ein klei­ner Fluss, der manch­mal Fo­rel­len führt, mün­det in die­sen. Dort liegt ge­ra­de noch in Blick­wei­te die nächs­te Hüt­te die­ser ein­sa­men Ge­gend. Die bei­den Nach­barn ha­ben ei­ni­ges ge­mein, Al­ter, Hun­de, Na­tur und Ein­sam­keit. Und noch mehr.

Im Lauf der Ge­schich­te stellt sich her­aus, daß sie sich in ih­rer Kind­heit kann­ten. Som­me­r­erin­ne­run­gen an ein klei­nes nor­we­gi­sches Dorf an der schwe­di­schen Gren­ze und ih­re Be­zie­hun­gen zu den we­ni­gen Be­woh­ner ver­bin­den sie. Doch wol­len sie sich dar­an er­in­nern? Bis auf ei­ne knap­pe Ver­stän­di­gung über das ge­gen­sei­ti­ge Wie­der­erken­nen und dem Er­stau­nen aus­ge­rech­net in die­ser Ein­öde nun zu Nach­barn ge­wor­den zu sein, fin­det zu­nächst kei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on über das Ver­gan­ge­ne statt.

Trond bleibt mit sei­nen un­ge­such­ten Er­in­ne­run­gen al­lei­ne. Durch die­se er­lebt er noch ein­mal den Som­mer von einst, in dem sich so viel ver­än­der­te. Trond war fünf­zehn und ver­brach­te wie schon oft die Som­mer­fe­ri­en mit sei­nem Va­ter. Er streun­te mit dem Nach­bars­jun­gen durch die Ge­gend, half bei der Land­ar­beit und beim Holz­ma­chen. Doch es gibt auch schmerz­haf­te Er­in­ne­run­gen, zu de­nen be­son­ders das En­de der un­be­schwer­ten Kind­heit zählt.

Ver­lust und Ab­schied präg­ten den Som­mer des Fünf­zehn­jäh­ri­gen. Als Er­wach­se­ner lebt er ein er­folg­rei­ches Le­bens, nicht nur in wirt­schaft­li­cher und so­zia­ler Hin­sicht, son­dern auch er­folg­reich im Ver­such zu Ver­ges­sen. Erst die Be­geg­nung mit Lars führt ihn wie­der zu den un­ge­klär­ten Fragen.

Dem nor­we­gi­schen Au­tor Per Pet­ter­son ge­lin­gen bild­haf­te, ru­hi­ge Na­tur­dar­stel­lun­gen, die den Le­ser so­fort in den Som­mer Nor­we­gens ver­set­zen. Das Auf­ge­hen und die Be­frie­di­gung in land­wirt­schaft­li­cher Ar­bei­ten er­in­nert an ei­nes der schöns­ten Flow­er­leb­nis­se der Welt­li­te­ra­tur in „An­na Ka­re­ni­na”. Als wei­te­re li­te­ra­ri­sche Vor­bil­der, ne­ben Tol­stoi, führt Pet­ter­son Di­ckens und Rim­baud an.

Durch die Er­in­ne­run­gen, die sich im Wech­sel zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart ent­wi­ckeln, ent­steht ei­ne sich stän­dig stei­gern­de Span­nung. Aber ge­ra­de die­se Span­nung, die Pet­ter­son so sub­til auf­baut, löst der Au­tor nicht ein. So blei­ben vie­le Fra­gen of­fen. In­ne­re Vor­gän­ge wer­den kaum be­nannt, Mo­ti­ve und Ver­hält­nis­se blei­ben un­klar. Über al­lem liegt Schwei­gen, skan­di­na­vi­sches Schwei­gen. Stil­le, nach der Trond sich sein gan­zes Le­ben lang sehnte.

Per Pet­ter­son, Pfer­de steh­len,  über­setzt v. Ina Kro­nen­ber­ger, Fi­scher Ta­schen­buch Ver­lag, 6. Aufl. 2008

Survival of the Fittest?

Von verödeten Biotopen und vereinsamten Frauen — Judith Schalansky in „Der Hals der Giraffe

Gar kei­ne Staats­form wä­re das Al­ler­bes­te. Es wür­de sich al­les schon von al­lei­ne organisieren.“

Die Bio­lo­gie­leh­re­rin In­ge Loh­mark, 55, ver­hei­ra­tet, ein Kind, klas­si­fi­ziert ih­re Um­ge­bung mit ei­nem durch Dar­win ge­schul­ten Blick. Sie ist die for­schen­de Be­ob­ach­te­rin, ihr be­vor­zug­tes Are­al das Bio­top Schu­le. Die­ses liegt in Vor­pom­mern, nur noch We­ni­ge, die kaum Nach­wuchs er­zeu­gen, woh­nen dort. Die Schu­le schrumpft und wird dem­nächst schließen.

Wie in ei­nem al­ten Na­tur­kun­de­buch hat Ju­dith Schal­an­sky ih­ren Ro­man ge­stal­tet. Die Ka­pi­tel Na­tur­haus­hal­te, Ver­er­bungs­vor­gän­ge und Ent­wick­lungs­leh­re, wer­den durch Ko­lum­nen­ti­tel dif­fe­ren­ziert. Da­zwi­schen fin­den sich Zeich­nun­gen der Au­torin, die Sche­ma­ta, Tie­re und viel Bio­lo­gie zeigen.

All’ das er­in­nert an die Schul­zeit. Auch die ver­schie­de­nen Ty­pen von Schü­lern und Leh­rern die Schal­an­sky via Loh­mark so ge­nüss­lich se­ziert als lä­gen sie auf den Plätt­chen ei­nes Mi­kro­skops, sind nicht un­ver­traut. Man ge­nießt die ers­ten Sei­ten vol­ler sar­kas­ti­scher Bon­mots in der Er­leich­te­rung die­se Pha­se sei­nes Le­bens nun end­gül­tig hin­ter sich zu ha­ben. Doch wir be­fin­den uns nicht in ei­ner Schul­sa­ti­re. Im­mer stär­ker of­fen­bart In­ge Loh­mark ih­re Ein­sam­keit. Ihr dar­win­scher Zy­nis­mus ist nur ein Mit­tel zur Di­stanz. Sie will Ab­stand schaf­fen, Ab­stand zu den Men­schen, vor al­lem aber zu sich selbst. Nur hin und wie­der lässt sie in ih­ren Re­flek­tio­nen den ein­zig wah­ren Grund auf­schei­nen. Es ist die Sehn­sucht nach ih­rer Toch­ter Clau­dia. Die­se lebt in Ame­ri­ka und mel­det sich höchs­tens noch in kur­zen Mails. Selbst von ih­rer Hoch­zeit er­fährt In­ge Loh­mark nur auf die­se un­per­sön­li­che Wei­se. Sie lei­det un­ter dem Ver­lust ih­rer Toch­ter und kann die Ur­sa­che kaum er­ken­nen. Liegt es an ih­rem Mann Wolf­gang? Der züch­tet zwar jetzt Strau­ße, die düm­mer als Schü­ler sind, war je­doch einst auch ab­ge­hau­en, ei­ne Frau und Kin­der zu­rück­las­send. Oder liegt es an ih­rem ei­ge­nen Re­pro­duk­ti­ons­geiz? Hät­te sie mehr Kin­der be­kom­men, wä­re ihr viel­leicht ei­nes geblieben.

In­ge Loh­marks Schick­sal spie­gelt sich in dem ih­rer ver­hass­ten Kol­le­gin Schwan­ne­ke. Die­se be­klagt ih­re Kin­der­lo­sig­keit oh­ne zu ah­nen, daß die Bio­lo­gie­leh­re­rin ih­re Trau­er teilt. Die ei­ne kann kei­ne Kin­der be­kom­men, die an­de­re hat zwei ver­lo­ren, ein ge­bo­re­nes und ein un­ge­bo­re­nes. Doch Loh­mark lässt kei­ne Ge­füh­le zu. We­der die po­si­ti­ven, wenn sie zu ei­ner Schü­le­rin ei­ne be­son­de­re Zu­nei­gung ver­spürt, noch die ne­ga­ti­ven, wenn sie ge­gen das Mob­bing ei­nes Mäd­chens nicht ein­schrei­ten will. Sie ver­traut auf die Selbst­re­gu­lie­rungs­kräf­te der Natur.

Dass auch die Na­tur, ins­be­son­de­re ih­re ent­wi­ckel­te Form der Le­be­we­sen, das Recht auf Schutz und Für­sor­ge hat, er­kennt sie nicht. Oder erst ganz zum Schluss, in der Er­in­ne­rung an ein längst zu­rück­lie­gen­des Ereignis.

Ju­dith Schal­an­sky schil­dert in ih­rem Ro­man sehr ein­fühl­sam, was die Un­fä­hig­keit Ge­füh­le zu zei­gen an­rich­ten kann, mit dem an­de­ren und mit ei­nem selbst. Auch die Psy­che un­ter­liegt dem Kreis­lauf der Natur.

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Zur The­ma­tik der ver­las­se­nen El­tern sei auf das Buch und die Web­site von An­ge­li­ka Kindt verwiesen.