Thomas Glavinic schildert in Das grössere Wunder innere und äussere Extremwelten
„Was für ein Gefühl, dachte Jonas während des Falls. Was für ein Rauschen, was für ein Geruch, was für ein Leuchten, was für eine Kraft, welch Wildheit, was für eine Präzision, was für eine Erschütterung, was für ein Prickeln, was für eine Überraschung, was für eine Musik, was für ein Wind, welch Stolz, wie schön, was für eine Leichtigkeit, was für ein Wahnsinn, was für ein Himmel, was für eine Zeit, was für eine Erfahrung, was für ein Leben. Und er fiel und fiel und fiel. Und er fiel noch immer. Und fiel.“ S. 203
Stellen Sie sich letzte Fragen und interessieren Sie sich für Extremsituationen, dann lesen Sie Das größere Wunder, den neuen Roman von Thomas Glavinic. Wie bereits in Die Arbeit der Nacht und Das Leben der Wünsche trägt die Hautpfigur den Namen Jonas und denkt über den Sinn seiner Existenz nach. Diesmal befindet er sich auf einer Expedition zum Mount Everest.
Wer, wie ich, bei einer Achttausenderbezwingung an Reinhold Messner oder gar an die gamsbärtige Bergsteigerromantik eines Louis Trenker denkt, sieht der Aussicht eine solche Unternehmung gut 500 Seiten lang zu begleiten eher skeptisch entgegen. Doch er wird positiv überrascht werden, denn ihn erwartet eine spannende Mixtur aus Gipfelstürmerei und Mafiagebaren, Coming-of-Age-Story und Philosophie. Diese verabreicht Glavinic seinem Leser in zwei von Kapitel zu Kapitel wechselnden Erzählsträngen, Jonas’ Besteigung des Everest-Gipfels und sein bisheriges Leben, das seine zunächst schlimme Kindheit, seinen Einzug ins Schlaraffenland und sein Erwachsenwerden umfasst.
Beide Erzählungen sind von zahlreichen glücklichen Zufällen, man mag sie auch Wunder nennen, geprägt. Hoffnungslos erscheint das Leben der vernachlässigten Zwillingsbrüder Jonas und Mike bei ihrer alkoholkranken Mutter und deren gewalttätigen Männern, als eine gute Fee sie aus dieser Situation rettet. Picco ist der Großvater von Jonas” bestem Freund Werner, eher einem Mafiapaten als einer Märchengestalt ähnlich. Unter seiner Obhut, die weder finanzielle noch andere Wünsche offen lässt, wachsen die beiden Freunde und der schwerbehinderte Mike auf. Sie durchleben ihre Pubertät ohne jede Begrenzung, sind begabt und geben sich gegenseitig die Wärme, die das Fehlen der Eltern ausgleicht. Altklug stellen sie existentielle Fragen und ersinnen sich selbst Bestrafungen. Sie suchen die Herausforderung. Dazu dient ihnen die Piste, eine steile Wald- und Wiesenabfahrt, deren Risiko sie immer wieder auf verschiedene Weise herausfordern.
Ist es auch das Risiko, was der erwachsene Jonas zwischen den Klüften und Eisbrüchen des Everest sucht? Im Basislager bereitet er sich auf die Besteigung des Himalayagipfels vor. Er leidet an Akklimatisierungsproblemen und am Schmerz über Marie, seine große Liebe, die ihn verlassen hat.
Marie war er nach einer langen Periode des Unterwegsseins begegnet. Picco, der nichts von endgültigen Antworten hielt, riet ihm einst, diese Botschaften auf Reisen zu suchen. Jonas besuchte unzählige Orte der Welt, „auf der Suche nach etwas, das er weder benennen noch fassen konnte, von dem er jedoch wusste, dass es existierte“. Als er Marie kennenlernte, glaubte er sich am Ziel seiner Wünsche. Marie war die Person, der er alles sagen und seine geheimen Orte zeigen konnte.
Am Everest ist alles vorbei und er wartet mit vielen anderen Bergsteigern auf den Aufstieg. In jedem Team gibt es Größenwahnsinnige, die ihren Ruhm suchen, doch, „das ist kein heroischer Berg, so wie es keine heroische Art zu sterben ist, da oben für alle Zeit festzufrieren“. Jonas weiß, daß er sich in eine Todeszone begibt und somit in höchste Lebensgefahr. Auf vielfältige Weise evoziert Glavinic das Motiv von Sterben und Verlust, das sich am offensichtlichsten an den Leichen der erfrorenen Bergsteiger zeigt, die den letzten Wegabschnitt zum Gipfel flankieren. Eine traurige Tatsache in diesem Romans voll phantasievoller Ideen, der keineswegs nur die letzten Fragen behandelt. Zahlreiche actionreiche Szenen machen die Lektüre zu einem rasanten Erlebnis. Glavinic erzählt nicht nur mit Ironie, sondern bisweilen auch mit brutalem Witz, man denke an die Rache am stümperhaften Zahnarzt, die tarantinohafte Züge trägt.
Die Schilderung der Everest-Besteigung, der technischen und körperlichen Schwierigkeiten, aber auch der Organisationsprobleme, des Drängelns zum Gipfel und der Hybris der Bezwinger, die sich mit viel Geld in ein Team einkaufen, obwohl ihnen die physischen Voraussetzungen fehlen, gelingt Glavinic so glaubhaft, daß man beinahe annimmt, er habe den Gipfel selbst bezwungen, sei wenigstens im Basislager gewesen. Und insgeheim atmet man auf, doch schon zu alt für dieses Abenteuer zu sein, so animierend gelingt dem Autor die Beschreibung. Anstatt dessen besinnt man sich auf die wenigen Kritikpunkte an diesem Buch, die eigentlich alle zu vernachlässigen sind. Gut, die Jungs wirken ziemlich altklug, aber sie sind auch ziemlich intelligent. Natürlich ist ihr Leben in Piccos Schlaraffenland ein märchenhafter Traum und dieser Jonas hat immer viel Glück und willige Wunscherfüller an seiner Seite. Doch trotz all’ dem, trotz Kitschmomenten und Kalendersprüchen finde ich den Roman großartig. Den Deutschen Buchpreis, von dem Glavinic ja bereits in Das bin doch ich träumte und dem er mit Das Leben der Wünsche auf Longslistdistanz nahe war, würde ich gerne zwischen ihm und Ralph Dutli aufteilen. Das größere Wunder und Soutines letzte Fahrt, diese beiden Romane der Longlist, die inhaltlich und stilistisch so unterschiedlich, und doch mit Schmerz und Tod gemeinsame Themen aufweisen, haben mir bisher am besten gefallen haben.
„Irgendwann wirst Du ganz oben sein. Aber was machst du dann? Außer wieder runtergehen und noch immer du sein?“ S. 451
Interviews und Materialien zu diesem und anderen Büchern finden sich auf der Homepage des Autors. Darunter auch die Reiseroute seiner Pilger-Fahrt.
Thomas Glavinic, Das größere Wunder, Hanser Verlag, 1. Aufl. 2013
Danke für diese tolle, Leselust hervorrufende Kritik!
Jetzt hoffe ich, dass das Buch meinen mittlerweile recht hohen Erwartungen Stand halten kann. Aber die ersten 20 Seiten lasen sich schon sehr viel versprechend — welch ein Vergleich nach Kehlmann! (Wobei der zu Beginn auch noch süffig zu lesen war…)
Lg, Daniela
Liebe Daniela, das wollte ich natürlich nicht, zu hochgesteckte Erwartungen sind immer gefährlich. Ich bin gespannt, wie Dein Urteil ausfällt.
Liebe Atalante,
von Glavinic habe ich bisher nur Das bin doch ich gelesen — achja, und in Lisa reingelesen, aber mich dermaßen drüber geärgert, dass ich es ziemlich schnell abgebrochen habe. Das bin doch ich fand ich super — gerade wenn man in der Branche arbeitet und einem einige Dinge, die Glavinic beschreibt, aus dem eigenen Berufsalltag bekannt vorkommen, kann man herzlich über seine Schilderungen lachen. Und was für ein schöner Zufall, dass er und sein guter Freund Daniel Kehlmann nun gleichzeitig nominiert sind — ich bin gespannt, wer das Rennen macht.
Über Das größere Wunder habe ich mittlerweile jedenfalls schon so einige euphorische Stimmen gehört (vor allem in Bloggerkreisen, im Feuilleton eher gemischt), dass ich auch immer mehr Lust darauf bekomme. Bei Kehlmann verhält sich das genau andersherum — ich fürchte, auch diese Lektüre wird ein Krampf (apropos: Jirgl ist ein Krampf, aber nicht ganz so schlimm wie erwartet).
Liebe Grüße,
caterina
PS: Huch, jetzt ist die Abo-Funktion wieder verschwunden? Schade eigentlich.
Liebe Caterina, soweit ich nach meiner Besprechung die Feuilleton-Rezensionen gelesen habe, gab es nur in der F.A.Z. einen Verriss, den anderen hat der Roman gut gefallen, trotz, wie auch ich es beschrieben habe, Kitschmomenten und Kalendersprüchen. Darauf bin ich eigentlich auch nicht abonniert, wer mich kennt, weiß wie ich zu Coelho&Co stehe. Aber es hat einerseits sehr viel Komik, wenn der skrupellose Picco plötzlich Weisheiten des Kleinen Prinzen verteilt, andererseits sind Jonas” Gedanken Fragen und keine Antworten. Für mich also weit weg von Binsenweisheiten und durch diverse Racheakte werden wohl auch bezopfte Esoschlümpfe vor der Lektüre zurückschrecken.
P.S. Danke für Deinen Hinweis zu dem nicht funktionierenden Kommentar-Abo. Ich finde es immer gut, wenn ich auf kaputte Links und sonstige Fehler hingewiesen werde, das passiert leider nicht so oft und ich finde es peinlich, solche erst Wochen später zu entdecken. Also keine falsche Zurückhaltung, nehmt euch ein Vorbild an Caterina. 😉
Liebe Atalante,
nun hast Du mich mit der Bergsteigergeschichte und den kritischen Beobachtungen der Auswüchse des Bergsteigens sehr neugierig auf den Roman gemacht. Aber meine Glavinic-Erfahrungen bei „Die Arbeit der Nacht” halten mich auf der anderen Seite auch von der Lektüre ab. „Die Arbeit der Nacht” ist toll gemacht, das Furchterregende des Mutterseelenalleinseins auf der Welt wird sehr anschaulich in in vielen verschiedenen Erlebnissen transportiert, aber mir ist nie so ganz klar geworden, was diese aus der Realtiät gefallene Geschichte, außer sich selbst, erzählen will. Deshalb fürchte ich nun auch, dass es — mal wieder — um die Bewältigung einer Extremsituation geht und um Jonas´ Reflexionen dabei.
Ratlose Grüße, Claudia
Liebe Claudia, „Die Arbeit der Nacht” steht noch ungelesen in meinem Regal. Aus der Jonas-Reihe kenne ich „Das Leben der Wünsche”, welches ich komplexer und ausgefallener als den neuen Roman in Erinnerung habe, einige Szenen wirken fast ein wenig surreal. Gefallen hat es mir damals trotzdem. Bei Amazon schwirrt noch eine kurze Rezension von mir herum. Das Buch wurde damals bei Vorablesen beworben und erntete viel Unverständnis, was mich nicht gewundert hat.
Das größere Wunder ist jedoch längst nicht so eigenwillig und eine sehr spannende Lektüre.
Liebe Atalante,
nun kann ich hier auch endlich kommentieren, denn mittlerweile habe ich den Roman ebenfalls gelesen und die Besprechung befindet sich in der Pipeline.
Für mich war „Das größerer Wunder” eine lesenswerte Lektüre, aber sicherlich kein Kandidat für die Shortlist. Die Bergsteigergeschichten haben auch bei mir einen großen Lesesog ausgelöst, vieles kaputt gemacht hat dann aber doch das Ende des Romans, über das ich auch schon mit Daniela diskutiert habe. Es ist in der Anlegung des Romans sicherlich konsequent, aber auch fürchterlich glatt und kitschig. Nee, das Ende war nix für mich — beim Lesen der letzten Seiten habe ich bereits die Bilder einer möglichen Verfilmung vor Augen gehabt, denn irgendwie war’s doch so ein typisches Filmende.
Liebe Grüße
Mara
Liebe Mara, sicherlich kann man das Ende als kitschig bezeichnen. Vorhersehbar fand ich es nicht, ich hatte anderes erwartet. Vielleicht war es das, was es mich nicht nur hinnehmen ließ, sondern ich gebe es zu, auch berührte. Es könnte sein, daß ich mich nun langsam dem sentimentalen Alter nähere, eine verkappte Romantikerin war ich schon immer. Schlagt Alarm, wenn ich beginne, Loblieder auf den Eso-Schlumpf zu singen. 😉
Deine Idee, das Buch zu verfilmen, finde ich gar nicht schlecht, Mara. Aber wenn, dann bitte von Quentin Tarantino und mit Josef Hader.