Chaim heißt Leben und das Leben stirbt nicht

Ralph Dutlis eindrucksreicher Künstlerroman Soutines letzte Fahrt

DBLSol sa­jn, as ich boj in der luft ma­j­ne schlesser.
Sol sa­jn, as ma­jn got is in gan­zen nischt do.
In trojm wet mir la­jch­ter, in trojm wet mir besser,
In trojm is der himl mir blo­jer wi blo.“ S. 87

Man­che Men­schen, die dem To­de na­he wa­ren, be­schrei­ben die über­stan­de­ne Si­tua­ti­on als ei­ne Fahrt ins wei­ße Licht, wäh­rend der Sta­tio­nen ih­res Le­bens in kür­zes­ter Zeit vor­über ziehen.

Das Ster­ben des jü­di­schen Ma­lers Cha­im Sou­ti­ne um­fass­te mehr als die 24 Stun­den des 6. Au­gusts 1943. Ver­steckt in ei­nem schwar­zen Ci­tro­ën Cor­bil­lard, ei­nem Lei­chen­wa­gen, ging an die­sem Tag die Fahrt ab­seits al­ler Kon­trol­len von der Loire nach Pa­ris. Dort soll­te in ei­nem Kran­ken­haus die le­bens­ret­ten­de Ope­ra­ti­on erfolgen.

Ralph Dut­li, der aus der Schweiz stam­men­de Über­set­zer und Ly­ri­ker, lebt heu­te in Hei­del­berg. Er wähl­te sich für sei­nen ers­ten Ro­man ei­ne his­to­ri­sche Per­son, den 1893 in Russ­land ge­bo­re­nen Ma­ler Cha­im Sou­ti­ne. Ei­ni­ges aus der Bio­gra­phie die­ses Künst­lers ist his­to­risch be­legt. Aber Dut­li hat auch Un­be­kann­tes in Ar­chi­ven ge­fun­den, wo­von er in sei­nem Werk be­rich­tet. Doch es ist ein Ro­man, den der Schrift­stel­ler mit Ei­ge­nem füllt, mit Er­leb­tem und Er­dach­tem. Dies ge­lingt Dut­li mit ei­nem Kunst­griff. Sou­ti­ne wird auf sei­ner letz­ten Fahrt nicht nur von sei­ner Ge­fähr­tin Ma-Be, Ma­rie-Ber­the Au­ren­che einst­mals Ehe­frau von Max Ernst, be­glei­tet. Auch der Mor­phin­mes­si­as ist bei ihm, das Mor­phi­um, wel­ches Ma-Be ihm re­gel­mä­ßig zu­führt. Nur so wird der Schmerz er­träg­lich, den Ma­gen­ge­schwür und Bauch­fell­ent­zün­dung ver­ur­sa­chen. Aber die Sub­stanz ver­än­dert auch das Be­wusst­sein und be­schert Sou­ti­ne Phan­ta­sien und Träu­me, die dem Schrift­stel­ler die Frei­heit schen­ken über die his­to­ri­sche Per­son in li­te­ra­ri­scher Form zu schreiben.

Wir le­sen von Schmerz­zu­stän­den und Er­in­ne­run­gen, fol­gen As­so­zia­tio­nen und Räu­schen, lau­schen Zwie­ge­sprä­chen und tau­chen ein in das da­ma­li­ge Pa­ris. 1913 war Sou­ti­ne vor dem Elend sei­ner rus­si­schen Hei­mat in die Stadt der Künst­ler ge­flo­hen, aber auch vor dem Bil­der­ver­bot sei­ner jü­di­schen Kind­heit. Doch im Bie­nen­stock des Al­fred Bou­ch­er herr­schen eben­falls Hun­ger und Ar­mut. In die­sem aus den Pa­vil­lons der letz­ten Welt­aus­stel­lung er­rich­te­ten Ge­bäu­de le­ben vie­le ost­eu­ro­päi­sche Künst­ler, wie Ar­chip­en­ko oder Chagall. Chagall ver­ar­bei­tet die Mo­ti­ve sei­ner jü­disch-rus­si­schen Ju­gend, das Schtetl, das Elend, das Po­grom. Sou­ti­ne will sich dar­an nicht mehr er­in­nern, al­les hin­ter sich las­sen. Die ver­hass­ten Hüt­ten, das Zei­chen­ver­bot und die Brü­der, die ihn prü­gel­ten, weil er sei­nem Drang zu ma­len nicht wi­der­ste­hen konn­te. Doch den Trau­ma­ti­sie­run­gen ent­kommt er nicht. Viel­leicht sind sie es, die ihn zur Zer­stö­rung sei­ner Bil­der trei­ben. Er ver­brennt sie, zer­fetzt sie mit dem Mes­ser. Auch wenn er sei­ne Mo­ti­ve mit gro­ßer Em­pa­thie aus­wählt, „un­glück­li­che Frau­en und Kin­der lie­ßen ihn zu­sam­men­zucken, er er­kann­te sich in ih­nen wie­der, da war et­was, was auf ihn übersprang, (…).“

Ne­ben den rus­si­schen Künst­ler­freun­den be­geg­ne­te Sou­ti­ne auch Be­rühmt­hei­ten der Sze­ne, Pi­cas­so und Mo­di­glia­ni, der ihn por­trä­tier­te und dem Dut­li ei­ne be­son­de­re Rol­le zu­kom­men lässt. Durch ihn ent­steht die Ver­bin­dung zum Kunst­händ­ler Zbo­row­ski, in des­sen Räu­men der Ame­ri­ka­ner Al­bert C. Bar­nes Sou­ti­nes Bil­der ent­deckt. Der Samm­ler kauft al­le auf. Sou­ti­ne hat end­lich Er­folg, der sich auch fi­nan­zi­ell nie­der­schlägt. Er wird be­rühmt, aber er bleibt ein Ju­de, der sich re­gis­trie­ren las­sen muss. Der De­por­ta­ti­on ent­geht er, an­ders als sei­ne deut­sche Le­bens­ge­fähr­tin Ger­da Groth, die wie vie­le po­li­ti­sche Flücht­lin­ge nach Gurs muss. Sou­ti­ne nann­te sie stets Gar­de, weil ihm der deut­sche Klang nicht ge­fiel. Wie sie zum Paar wur­den und was sie ver­band, lässt Dut­li die Bei­den auf be­we­gen­de Wei­se erzählen.

Sou­ti­ne bleibt in Pa­ris, er lernt Ma-Be ken­nen, ver­steckt sich, haust mit ihr in Ma­trat­zen­ge­fäng­nis­sen, flieht aufs Land. Aber nicht in den Sü­den, der noch un­be­setzt ist, denn dort gibt es kei­ne Milch. Die­se ge­mischt mit Bis­mut­pul­ver ist sein Über­le­bens­eli­xier, oh­ne das die Ma­gen­schmer­zen kaum zu er­tra­gen sind. Der jü­di­sche Arzt Ten­nen­baum, den Gar­de um Rat bit­tet, emp­fiehlt die Flucht und vor­erst die Mix­tur. Er pro­phe­zeit die Ver­schlim­me­rung der Schmer­zen. Über­haupt der Schmerz, und hier fragt Dut­li im Na­men des Arz­tes nach der Theo­di­zee. „Den Schmerz end­lich ab­zu­schaf­fen, wä­re die vor­nehms­te Auf­ga­be ei­nes je­den Got­tes, der die­sen Na­men ver­dient. Oder nicht ver­dient.“ Im wei­ßen Jen­seits, das Sou­ti­ne mit Mor­phi­um hal­lu­zi­niert, braucht er kei­ne Milch, dort kennt man den He­lio­bac­ter und die Mög­lich­kei­ten ihn zu be­kämp­fen. Al­les leuch­tet weiß, es gibt Milch und Schnee, aber kei­ne Far­ben. „Im Fran­zö­si­schen lie­gen Far­be und Schmerz so na­he bei­ein­an­der.“ Cou­leur et dou­leur. Weiß macht frei.

Ralph Dut­li kom­po­niert in sei­nem Ro­man Fak­ten und Fik­ti­on auf kunst­vol­le Wei­se. Er schil­dert ein Künst­ler­schick­sal mit sei­nen Trau­ma­ti­sie­run­gen und dis­ku­tiert die dar­aus er­wach­sen­den exis­ten­ti­el­len Fra­gen. Auf dem Weg dort­hin pas­siert der Le­ser die Si­tua­ti­on der Exil­künst­ler im be­setz­ten Pa­ris und zahl­rei­che Er­run­gen­schaf­ten der Me­di­zin. Die Er­läu­te­rung des für das Ma­gen­ge­schwür ver­ant­wort­li­chen Bak­te­ri­ums und des­sen Be­hand­lung ge­rät sehr aus­führ­lich in die­sem an­sons­ten über­zeu­gen­den Ro­man, der ein ve­ri­ta­bler Preis­kan­di­dat ist.

In sei­nem letz­ten Ka­pi­tel er­zählt Dut­li, der lan­ge in Pa­ris leb­te, wie er auf dem Fried­hof Mont­par­nass Sou­ti­nes Grab ent­deck­te. Cha­im Sou­ti­ne wur­de dort am 11. Au­gust 1943 von Ma­rie-Berth Au­ren­che und Ger­da Groth so­wie von Pa­blo Pi­cas­so, Jean Coc­teau und Max Ja­cobs zur letz­ten Ru­he geleitet.

Ei­ni­ge Mu­se­en, in de­nen sich Sou­ti­nes Wer­ke on­line be­sich­ti­gen lassen:

The Bar­nes Foundation

Mu­sée de l’Orangerie

Ta­te Gallery

Queens­land Art Gallery

Mu­se­um of Mo­dern Art

Ralph Dut­li, Sou­ti­nes letz­te Fahrt, Wall­stein Ver­lag, 1. Aufl. 2013

6 Gedanken zu „Chaim heißt Leben und das Leben stirbt nicht“

  1. Lie­be Atalante,
    dein Kom­men­tar macht mir fast ein we­nig „Angst” vor die­sem Buch. Hal­lu­zi­na­tio­nen in Text­form um­ge­setzt kann ich nur sel­ten gut nach­voll­zie­hen… und in der Kunst bin ich lei­der auch viel zu we­nig bewandert.
    Wür­dest du es trotz­dem emp­feh­len, auch für Un­be­leck­te wie mich?
    LG, Daniela

    1. Lie­be Da­nie­la, ich möch­te das Buch je­dem emp­feh­len, au­ßer Per­so­nen, die an Ma­gen­schmer­zen lei­den. Die „Hal­lu­zi­na­tio­nen” sind gut zu le­sen und ver­mit­teln feh­len­des Wis­sen über Kunst, Me­di­zin, Re­li­gi­on und vie­les an­de­re. Wenn sich Hal­lu­zi­na­ti­on zu be­droh­lich an­hört, es er­war­tet Dich kein skur­ril, wir­rer Be­wußt­seins­strom, son­dern Er­in­ne­run­gen, die mal hier, mal dort­hin füh­ren und bis­wei­len ein we­nig ana­chro­nis­tisch sind.

  2. Ah, dan­ke für die­se Er­läu­te­rung! Ja, das klingt tat­säch­lich so, als wür­de es doch auch zu mir pas­sen. Steht ja oh­ne­hin auf dem Plan — mal se­hen, was ich wann wie noch schaf­fe. Erst­mal will ich „Ber­lin liegt im Os­ten” zu En­de le­sen. Liest du noch an den Sternen?

  3. Dan­ke, lie­be Ata­lan­te! Das Buch wer­de ich auf je­den Fall le­sen, die Le­se­pro­be hat mir auch sehr gut ge­fal­len. Pa­ris, Kunst, Ju­den­tum, das sind schon mal The­men, die mich anreizen.
    Was ich bei dei­nen Be­spre­chun­gen sehr zu schät­zen weiß und was auch hier selbst­ver­ständ­lich nicht feh­len sind die Zu­satz­in­for­ma­tio­nen zum je­wei­li­gen The­ma. Tau­send Dank!

    Auf dei­ne Mei­nung zu Po­sch­mann bin ich auch sehr ge­spannt, die Le­se­pro­be hat bei mir et­was berührt …

    1. Lie­be Da­na, da ich wäh­rend der Lek­tü­re des Ro­mans, in dem die Bil­der selbst als Prot­ago­nis­ten auf­tre­ten, un­be­dingt wis­sen woll­te, mit wem ich es zu tun ha­be, war die Su­che da­nach zu­nächst ganz ei­gen­nüt­zig. Wie ja auch ei­gent­lich mei­ne Sei­te, die ich als ei­ne Art Le­se­ta­ge­buch be­gon­nen ha­be. Ich freue mich aber, wenn mei­ne Ein­drü­cke und Fund­stü­cke auch An­de­re in­ter­es­sie­ren, und die­se Le­ser sich zu ei­ner Be­mer­kung hin­rei­ßen lassen.

      Po­sch­mann ist ei­nes auf je­den Fall, sehr poetisch.

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