Von verödeten Biotopen und vereinsamten Frauen — Judith Schalansky in „Der Hals der Giraffe”
„Gar keine Staatsform wäre das Allerbeste. Es würde sich alles schon von alleine organisieren.“
Die Biologielehrerin Inge Lohmark, 55, verheiratet, ein Kind, klassifiziert ihre Umgebung mit einem durch Darwin geschulten Blick. Sie ist die forschende Beobachterin, ihr bevorzugtes Areal das Biotop Schule. Dieses liegt in Vorpommern, nur noch Wenige, die kaum Nachwuchs erzeugen, wohnen dort. Die Schule schrumpft und wird demnächst schließen.
Wie in einem alten Naturkundebuch hat Judith Schalansky ihren Roman gestaltet. Die Kapitel Naturhaushalte, Vererbungsvorgänge und Entwicklungslehre, werden durch Kolumnentitel differenziert. Dazwischen finden sich Zeichnungen der Autorin, die Schemata, Tiere und viel Biologie zeigen.
All’ das erinnert an die Schulzeit. Auch die verschiedenen Typen von Schülern und Lehrern die Schalansky via Lohmark so genüsslich seziert als lägen sie auf den Plättchen eines Mikroskops, sind nicht unvertraut. Man genießt die ersten Seiten voller sarkastischer Bonmots in der Erleichterung diese Phase seines Lebens nun endgültig hinter sich zu haben. Doch wir befinden uns nicht in einer Schulsatire. Immer stärker offenbart Inge Lohmark ihre Einsamkeit. Ihr darwinscher Zynismus ist nur ein Mittel zur Distanz. Sie will Abstand schaffen, Abstand zu den Menschen, vor allem aber zu sich selbst. Nur hin und wieder lässt sie in ihren Reflektionen den einzig wahren Grund aufscheinen. Es ist die Sehnsucht nach ihrer Tochter Claudia. Diese lebt in Amerika und meldet sich höchstens noch in kurzen Mails. Selbst von ihrer Hochzeit erfährt Inge Lohmark nur auf diese unpersönliche Weise. Sie leidet unter dem Verlust ihrer Tochter und kann die Ursache kaum erkennen. Liegt es an ihrem Mann Wolfgang? Der züchtet zwar jetzt Strauße, die dümmer als Schüler sind, war jedoch einst auch abgehauen, eine Frau und Kinder zurücklassend. Oder liegt es an ihrem eigenen Reproduktionsgeiz? Hätte sie mehr Kinder bekommen, wäre ihr vielleicht eines geblieben.
Inge Lohmarks Schicksal spiegelt sich in dem ihrer verhassten Kollegin Schwanneke. Diese beklagt ihre Kinderlosigkeit ohne zu ahnen, daß die Biologielehrerin ihre Trauer teilt. Die eine kann keine Kinder bekommen, die andere hat zwei verloren, ein geborenes und ein ungeborenes. Doch Lohmark lässt keine Gefühle zu. Weder die positiven, wenn sie zu einer Schülerin eine besondere Zuneigung verspürt, noch die negativen, wenn sie gegen das Mobbing eines Mädchens nicht einschreiten will. Sie vertraut auf die Selbstregulierungskräfte der Natur.
Dass auch die Natur, insbesondere ihre entwickelte Form der Lebewesen, das Recht auf Schutz und Fürsorge hat, erkennt sie nicht. Oder erst ganz zum Schluss, in der Erinnerung an ein längst zurückliegendes Ereignis.
Judith Schalansky schildert in ihrem Roman sehr einfühlsam, was die Unfähigkeit Gefühle zu zeigen anrichten kann, mit dem anderen und mit einem selbst. Auch die Psyche unterliegt dem Kreislauf der Natur.
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Zur Thematik der verlassenen Eltern sei auf das Buch und die Website von Angelika Kindt verwiesen.