Skandinavisches Schweigen

Über einen Sommer des Abschieds schreibt Per Petterson in „Pferde stehlen

Ein­sa­me Spa­zier­gän­ge in der Na­tur be­för­dern oft den Ge­dan­ken­fluss und die dar­in auf­tau­chen­den Er­in­ne­run­gen. So auch bei Trond, des­sen Ta­ge durch re­gel­mä­ßi­ge Run­den mit dem Hund Ly­ra struk­tu­riert sind. Trond leb­te schon an vie­len Or­ten, nun hat er sich mit 67 Jah­ren in ei­ne al­te Hüt­te am See zu­rück­ge­zo­gen. Ein klei­ner Fluss, der manch­mal Fo­rel­len führt, mün­det in die­sen. Dort liegt ge­ra­de noch in Blick­wei­te die nächs­te Hüt­te die­ser ein­sa­men Ge­gend. Die bei­den Nach­barn ha­ben ei­ni­ges ge­mein, Al­ter, Hun­de, Na­tur und Ein­sam­keit. Und noch mehr.

Im Lauf der Ge­schich­te stellt sich her­aus, daß sie sich in ih­rer Kind­heit kann­ten. Som­me­r­erin­ne­run­gen an ein klei­nes nor­we­gi­sches Dorf an der schwe­di­schen Gren­ze und ih­re Be­zie­hun­gen zu den we­ni­gen Be­woh­ner ver­bin­den sie. Doch wol­len sie sich dar­an er­in­nern? Bis auf ei­ne knap­pe Ver­stän­di­gung über das ge­gen­sei­ti­ge Wie­der­erken­nen und dem Er­stau­nen aus­ge­rech­net in die­ser Ein­öde nun zu Nach­barn ge­wor­den zu sein, fin­det zu­nächst kei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on über das Ver­gan­ge­ne statt.

Trond bleibt mit sei­nen un­ge­such­ten Er­in­ne­run­gen al­lei­ne. Durch die­se er­lebt er noch ein­mal den Som­mer von einst, in dem sich so viel ver­än­der­te. Trond war fünf­zehn und ver­brach­te wie schon oft die Som­mer­fe­ri­en mit sei­nem Va­ter. Er streun­te mit dem Nach­bars­jun­gen durch die Ge­gend, half bei der Land­ar­beit und beim Holz­ma­chen. Doch es gibt auch schmerz­haf­te Er­in­ne­run­gen, zu de­nen be­son­ders das En­de der un­be­schwer­ten Kind­heit zählt.

Ver­lust und Ab­schied präg­ten den Som­mer des Fünf­zehn­jäh­ri­gen. Als Er­wach­se­ner lebt er ein er­folg­rei­ches Le­bens, nicht nur in wirt­schaft­li­cher und so­zia­ler Hin­sicht, son­dern auch er­folg­reich im Ver­such zu Ver­ges­sen. Erst die Be­geg­nung mit Lars führt ihn wie­der zu den un­ge­klär­ten Fragen.

Dem nor­we­gi­schen Au­tor Per Pet­ter­son ge­lin­gen bild­haf­te, ru­hi­ge Na­tur­dar­stel­lun­gen, die den Le­ser so­fort in den Som­mer Nor­we­gens ver­set­zen. Das Auf­ge­hen und die Be­frie­di­gung in land­wirt­schaft­li­cher Ar­bei­ten er­in­nert an ei­nes der schöns­ten Flow­er­leb­nis­se der Welt­li­te­ra­tur in „An­na Ka­re­ni­na”. Als wei­te­re li­te­ra­ri­sche Vor­bil­der, ne­ben Tol­stoi, führt Pet­ter­son Di­ckens und Rim­baud an.

Durch die Er­in­ne­run­gen, die sich im Wech­sel zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart ent­wi­ckeln, ent­steht ei­ne sich stän­dig stei­gern­de Span­nung. Aber ge­ra­de die­se Span­nung, die Pet­ter­son so sub­til auf­baut, löst der Au­tor nicht ein. So blei­ben vie­le Fra­gen of­fen. In­ne­re Vor­gän­ge wer­den kaum be­nannt, Mo­ti­ve und Ver­hält­nis­se blei­ben un­klar. Über al­lem liegt Schwei­gen, skan­di­na­vi­sches Schwei­gen. Stil­le, nach der Trond sich sein gan­zes Le­ben lang sehnte.

Per Pet­ter­son, Pfer­de steh­len,  über­setzt v. Ina Kro­nen­ber­ger, Fi­scher Ta­schen­buch Ver­lag, 6. Aufl. 2008

Voyeuristisches Putzen II.

Schweinereien in Anne B. Ragde, Das Lügenhaus – Literaturkreis 12/2010

Wenn Müt­ter im Ster­ben lie­gen ver­sam­meln sich in der Re­gel ver­lo­re­ne, ver­stos­se­ne und ge­lieb­te Kin­der an ih­rem Bett. Im vor­lie­gen­den Ro­man steht die­ses in ei­ner Kli­nik in Trond­heim, ein gan­zes Stück weit ent­fernt von dem Hof der Fa­mi­lie in By­ne­set. Die­sen be­woh­nen Mut­ter, Va­ter und der al­lein­ste­hen­de Sohn Tor, der ein in­ni­ges Ver­hält­nis zu den Schwei­nen sei­ner Zucht un­ter­hält. Es ist kalt und man schweigt, so wie man es von Nord­nor­we­gern er­war­tet. Bru­der Mar­gi­do ar­bei­tet als Be­stat­ter, was sich so­wohl für den dras­ti­schen Ro­man­ein­stieg als auch für den Fort­gang der Ge­schich­te als äu­ßerst prak­tisch er­weist. Au­ßer­dem stei­gert es na­tür­lich die de­pres­si­ve At­mo­sphä­re, die der ge­mei­ne Le­ser in Nord­nor­we­gen erwartet.

Die Schrei­be­rin die­ser Zei­len hät­te das Buch nach die­sem ers­ten Ka­pi­tel fast zur Sei­te ge­legt. Doch nach ei­ni­gen Ta­gen Pau­se und meh­re­ren Selbst­er­mun­te­run­gen wag­te sie es noch ein­mal und wur­de nach der An­fangs­ka­ta­stro­phe in die hei­le Welt des jüngs­ten Soh­nes ge­führt. Die­se ist „Voy­eu­ris­ti­sches Put­zen II.“ weiterlesen