Voyeuristisches Putzen II.

Schweinereien in Anne B. Ragde, Das Lügenhaus – Literaturkreis 12/2010

Wenn Müt­ter im Ster­ben lie­gen ver­sam­meln sich in der Re­gel ver­lo­re­ne, ver­stos­se­ne und ge­lieb­te Kin­der an ih­rem Bett. Im vor­lie­gen­den Ro­man steht die­ses in ei­ner Kli­nik in Trond­heim, ein gan­zes Stück weit ent­fernt von dem Hof der Fa­mi­lie in By­ne­set. Die­sen be­woh­nen Mut­ter, Va­ter und der al­lein­ste­hen­de Sohn Tor, der ein in­ni­ges Ver­hält­nis zu den Schwei­nen sei­ner Zucht un­ter­hält. Es ist kalt und man schweigt, so wie man es von Nord­nor­we­gern er­war­tet. Bru­der Mar­gi­do ar­bei­tet als Be­stat­ter, was sich so­wohl für den dras­ti­schen Ro­man­ein­stieg als auch für den Fort­gang der Ge­schich­te als äu­ßerst prak­tisch er­weist. Au­ßer­dem stei­gert es na­tür­lich die de­pres­si­ve At­mo­sphä­re, die der ge­mei­ne Le­ser in Nord­nor­we­gen erwartet.

Die Schrei­be­rin die­ser Zei­len hät­te das Buch nach die­sem ers­ten Ka­pi­tel fast zur Sei­te ge­legt. Doch nach ei­ni­gen Ta­gen Pau­se und meh­re­ren Selbst­er­mun­te­run­gen wag­te sie es noch ein­mal und wur­de nach der An­fangs­ka­ta­stro­phe in die hei­le Welt des jüngs­ten Soh­nes ge­führt. Die­se ist sehr hyg­ge­lig, wie der Dä­ne sagt, denn, ge­nau, jetzt be­fin­den wir uns in Ko­pen­ha­gen. Dort lebt Er­lend, De­ko­ra­teur mit ei­nem Fai­ble für Swa­rov­ski­kitsch, gut si­tu­iert in ei­ner glück­li­chen Be­zie­hung. Zur Fei­er­abend­ent­span­nung trinkt er Cham­pa­gner im Whirl­pool und zer­bricht sich den Kopf über weih­nacht­li­chen Tisch­schmuck. Na­tür­lich ist er schwul, so wie es der Le­ser von cham­puss­aufen­den De­ko­ra­teu­ren erwartet.

Ne­ben die­sen Söh­nen er­hält auch Tor­unn, die un­ehe­li­che, eher aus Ver­se­hen ent­stan­de­ne Toch­ter Tors, die Nach­richt vom Ster­ben der Groß­mutter. Sie be­schließt die­ser Frau ei­nen ers­ten und letz­ten Be­such ab­zu­stat­ten, auch wenn die­se, so wie man es von bö­sen Schwie­ger­müt­tern er­war­tet, die Hei­rat zwi­schen ih­ren El­tern ver­hin­dert hat­te. Tor­unn ar­bei­tet als Hun­de­the­ra­peu­tin und Tier­arzt­as­sis­ten­tin, wie man es von der Toch­ter ei­nes in­ni­gen Schwei­ne­lieb­ha­bers fast er­war­ten würde.

Radge be­schreibt an­schau­lich und un­ter­halt­sam wie sich die frem­den Ver­wand­ten nä­her kom­men. Be­son­ders ein­drucks­voll schil­dert sie die Sze­nen zwi­schen Tor­unn und ih­rem Va­ter, so­wie die Freund­schaft zwi­schen Tor­unn und Er­lend. Die­se ent­wi­ckelt sich be­son­ders gut beim ge­mein­sa­men Put­zen der voll­kom­men ver­dreck­ten Kü­che. Der Mut­ter ging es wohl schon lan­ge nicht mehr gut, der Va­ter hat­te nichts zu sa­gen und der Sohn zog den Schwei­ne­stall vor. Die Ge­schich­te muss man manch­mal mit ei­nem Au­gen­zwin­kern le­sen. Falls es zu ek­lig wird, kann man ja ge­mein­sam mit Er­lend ein paar klei­ne Aqua­vit kip­pen. Sie le­ben sehr spar­ta­nisch dort im ho­hen Nor­den. Die gu­ten Sa­chen wer­den für spä­ter auf­be­wahrt, wie Er­lend fest­stellt als er die fei­ne Tisch­wä­sche und das schö­ne Ge­schirr entdeckt.

Die Lü­ge die­ses Hau­ses, das Fa­mi­li­en­ge­heim­nis, wird na­tür­lich erst zum Schluss ge­klärt. Erst wenn Mut­ter tot, die Kü­che sau­ber und die Schwei­ne satt sind.

Frau Radge ge­lingt es sehr gut Stim­mun­gen zu er­zeu­gen. Man re­kelt sich mit Er­lend im Whirl­pool, man hält sich im Schwei­ne­stall die Na­se zu und man ver­spürt den un­ge­wöhn­li­chen Drang den Kühl­schrank zu rei­ni­gen. Manch­mal stra­pa­ziert sie den Ekel­fak­tor bis hin zum Voy­eu­ris­ti­schen, auch ver­wen­det sie ger­ne Ste­reo­ty­pe, die sich süd­nor­we­gi­sche Stadt­be­woh­ner und wir Süd­eu­ro­pä­er vom tris­ten Le­ben im ho­hen kar­gen Land der Glet­scher und des Aqua­vits viel­leicht ma­chen. Span­nen­de, amü­san­te und leicht les­ba­re Un­ter­hal­tung bie­tet das Buch trotzdem.

Mit fol­gen­den Fra­gen lässt es mich je­doch rat­los zu­rück. Wo­zu dient die scho­ckie­ren­de Dar­stel­lung des Selbst­mord­op­fers am An­fang? War­um liebt die Mut­ter ih­re bei­den an­de­ren Söh­ne nicht eben­so wie Tor? Sind nor­we­gi­sche schwu­le De­ko­ra­teu­re, die in Dä­ne­mark le­ben, wirk­lich so trink­fest? Liegt das am Kli­ma? Will ich noch Fleisch es­sen? Muss ich wirk­lich den Kühl­schrank ab­tau­en oder über­las­se ich das mei­nen Erben?

Wenn ihr ei­ne Ant­wort habt, gebt sie mir.

Das Buch er­schien erst­mals 2005 un­ter dem nor­we­gi­schen Ori­gi­nal­ti­tel „Ber­li­ner­po­p­le­ne“, der mit Ber­li­ner Pap­peln über­setzt wer­den kann. In ei­nem klei­nen Hain die­ser Bäu­me spielt die Schlüs­sel­sze­ne des Ro­mans. Die bei­den Fol­ge­bän­de der Tri­lo­gie hei­ßen „Ein­sied­ler­kreb­se“ und „Hit­ze­wel­le“. Im nor­we­gi­schen Fern­se­hen lief 2007 un­ter dem Ori­gi­nal­ti­tel ei­ne Ver­fil­mung des ers­ten Teils. Ich ha­be mir die Per­so­nen et­was an­ders vor­ge­stellt, sie ma­chen al­le ei­nen gut ge­dusch­ten Eindruck.

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