Die Suche nach Nähe in Markus Orths’ Roman „Das Zimmermädchen
“ — Literaturkreis 1/2011
Wer kennt dies nicht? Vor dem Verlassen des Hotelzimmers noch schnell das Nachthemd wieder in den Koffer stopfen, damit wenigstens dieses intime Kleidungsstück nicht von den Händen einer Fremden berührt wird? Dass diese Frau, denn immer noch handelt es sich in den seltensten Fällen um einen Mann, daß also diese für Reinigung und Ordnung des angemieteten Zimmers zuständige Person auch andere Intimitäten, nämlich den ganz persönlichen Schmutz beseitigt und die zerwühlten Bettlaken glattzieht, nimmt man hin. Noch mehr, es freut einen, wenn diese im Preis inbegriffene Putzaktion besonders sorgfältig durchgeführt wurde.
Unübertreffbar in dieser Disziplin gibt sich Orths Zimmermädchen im Hotel Eden seinen Aufgaben hin. Sie putzt zuerst das Bad, dann saugt sie die Böden, wischt mit einem feuchten Tuch den kaum sichtbaren Staub, wechselt die Bettwäsche nach Turnus und die Handtücher nach Bedarf.
Doch Lynn genügt dies nicht. „Wo andere Zimmermädchen nichts mehr sehen, fängt es bei Lynn erst an.“ Messer und Daumennägel kratzen den Schmutz aus Ritzen und von Armaturen, sie reinigt sogar den Spalt zwischen Spiegel und Kacheln. Sie putzt unsichtbare Flecken und würde am liebsten die Fliesen rausbrechen, um unter diesen für Hygiene zu sorgen. Ein enormes Arbeitspensum, für das Lynn gerne ihre freie Zeit opfert.
Sie hat viel Zeit. Seit sie vor wenigen Monaten aus der Klinik entlassen wurde, lebt sie alleine. Bis auf die wöchentlichen Telefonate mit ihrer Mutter, die Termine mit ihrem Therapeuten und mit Heinz, der ihr gegen einen Blow-Job die Stelle besorgte, hat sie keinen Kontakt. Sie arbeitet, um nicht nachdenken zu müssen. Sie putzt, um sauber zu bleiben. Kein Grübeln über den Sinn, keine Suche nach dem Verbotenen, keine Tat. Sie meidet die Menschen. Nichtwahrgenommen zu werden fände sie schön schauerlich. Wie wäre es, wenn niemand sie sähe, wo sie sich selbst noch nicht einmal im Spiegel erkennen kann?
Trotzdem sucht sie die Nähe zu den Anderen. Sie erforscht die persönlichen Dinge ihrer Mitmenschen. Kulturbeutel, Kleidergerüche, Nachttischlektüren geben ihr Hinweise auf die Schicksale der Zimmergäste. Lynn phantasiert sich in ihre Leben, in ihre Träume und Sehnsüchte, bis sie eines Tages live daran teilnehmen darf. Ein unerwartet zurückgekehrter Gast zwingt sie zur Flucht unter das Bett. Sie findet Gefallen an der Situation. Das Versteck offenbart ihr fremde Geheimnisse. Unsichtbar gelingt ihr das, was sonst unmöglich erscheint, einem Menschen nahe zu sein. Sie wird süchtig nach dieser Nähe. Immer öfter sucht sie diese Verstecke auf. So verfolgt sie eines Abends die Tätigkeiten der Prostituierten Chiara im Bett über ihr. Fasziniert notiert Lynn sich beim Verlassen des Zimmers die Nummer von Chiaras auf dem Nachttisch hinterlassener Visitenkarte. Sie treffen sich regelmäßig, obwohl Lynn bezahlt, scheint sie allmählich Vertrauen zu Chiara aufzubauen.
Markus Orths erzählt in diesem knapp 140 Seiten umfassenden Roman von der Suche nach Nähe. Ihm gelingt die empathische Annäherung an seine Hauptperson, einer jungen Frau, deren manisches Putzen viele Deutungen ermöglicht. Verdrängung des Erlebten, Kompensation des Nichterreichten, die Leserin fühlt sich herausgefordert und leidet mit. Der vermeintliche Voyeurismus erweist sich als ein Versuch Nähe zu erfahren, welcher tatsächlich zu einer realen, wenn auch nur bedingt echten menschlichen Beziehung führt. Viel besser als mit Menschen kennt sich die Protagonistin mit den Dingen aus. „ Die wahren, die vollkommenen Dinge liegen immer im Dunkeln. Wir sind begrenzte Wesen.“
Bedrückend schildert Orths die Kälte im Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, beide geben sich Mühe, aber beiden gelingt es nicht die Distanz zum Anderen zu überwinden. Sie reagieren hilflos, wenn der Andere bereit ist sich zu öffnen.
Ein kluges Buch über Beziehungslosigkeit, das auch als eine Parabel über Distanz in unserer Gesellschaft gelesen werden kann. Denn schauen wir alle nicht viel zu oft zu als passive Teilnehmer ins Leben der Anderen? Wir beobachten vermeintlich private Fernsehbetten und wühlen in den Facebookseiten vermeintlich befreundeter Personen. Dabei wollen wir alle vielleicht nur wie Lynn, „dass einmal nur jemand unter meinem Bett liegt, …, dass einmal nur jemand meinem Leben horcht.“
Ein ausführliches und aufschlussreiches Interview mit Markus Orths, geführt von Agnes Bidmon und Stephanie Waldow, findet sich auf der Seite des Autors.
Ein Gedanke zu „Voyeuristisches Putzen I.“