Ach, Gilberte!
„Unser Glaube, daß ein Wesen an einem unbekannten Leben teilhat, in das seine Liebe uns mit hineintragen würde, ist unter allem, was die Liebe zu ihrer Entstehung braucht, das Bedeutungsvollste, dem gegenüber alles andere nur noch wenig ins Gewicht fallen kann.“
Als Marcel Gilberte kennen lernt, wünscht er sich nichts sehnlicher als auch von Swann akzeptiert und in den Kreis der Personen aufgenommen zu werden, die von ihm und Odette empfangen werden. Dies gelingt ihm recht bald. Die Swanns sind sogar derart von ihm beeindruckt, daß sie einen positiven Einfluss auf ihre Tochter erhoffen. Je inniger sich jedoch dieses von Bewunderung und Vertrauen geprägte Verhältnis entwickelt, um so mehr distanziert sich Gilberte von ihrem Verehrer. Vielleicht fand sie es wie heutige Pubertierende einfach uncool von einem Jungen umschwärmt zu werden, der sich formidabel mit den Eltern versteht, von denen man sich doch gerade zu emanzipieren versucht?
Auf jeden Fall leidet man mit Marcel. Doch zunächst ist man zusammen mit ihm verliebt. Bei der ersten Einladung zum Tee verspürt man eine derartige Aufregung, daß das Gehirn wie leergefegt ist und man die einfachsten Fragen kaum beantworten kann. Karrierepläne werden über den Haufen geschmissen, nur um in der Nähe der Angebeteten bleiben zu können. Ein Stück ihres Zopfes, ach was, auch nur eine Photographie dieses Details, würde man höher schätzen als eine Zeichnung da Vincis. Ganz klar, wer sich so fühlt ist bis über beide Ohren verliebt. Der Erzähler bezeichnet aus der Rückschau seinen damaligen Zustand als Krankheit, die geradezu chronisch immer wieder auftreten wird, als ein Außersichsein mit persönlichkeitsverändernden Folgen. „Da wir aber, wenn wir lieben, außerstande sind, als würdige Vorgänger des Wesens zu handeln, das wir sein werden, wenn wir nicht mehr lieben.“
Dies mag erklären, warum Marcel zunächst kaum wahrnimmt, daß er Gilberte lästig fällt. Als diese von ihrer Mutter gezwungen wird, auf eine Tanzeinladung zu verzichten, um dem gerade eingetroffenen Marcel Gesellschaft zu leisten, führt dies zu einer halbherzigen Aussprache. Marcel beschließt Gilberte nicht mehr zu treffen.
Diese geheime nur mit sich selbst vereinbarte Kontaktsperre sollte jedoch nicht das Ende ihrer Liebe bedeuten, sondern Gilberte herausfordern. Marcel erhofft, daß durch sein Fernbleiben in ihr die Sehnsucht nach ihm entstehe. Er verurteilt sein früheres Verhalten, seine Weichheit und Nachgiebigkeit möchte er durch harten Stolz und Selbstbewusstsein ersetzen. Ein schwieriger Plan für einen sensiblen Menschen. Erste Zweifel an seiner Durchführbarkeit kommen ihm schon kurz nach dem Verlassen. Am liebsten würde er sofort wieder zurückkehren.
Er schreibt Briefe, solche voller Wut und andere voller Zärtlichkeit, doch er schickt keinen ab. Zerrissen zwischen Stolz und Hingebung, versucht er schließlich zu Gilberte vorzudringen, wird jedoch von einem Bediensteten abgewimmelt. Es bleibt ihm nur auf einen Brief von ihr zu warten, für dessen Nichteintreffen er stets eine Entschuldigung parat hat. Da die damalige Post nicht nur einmal täglich, sondern morgens und nachmittags zugestellt wurde, und es zudem noch private Boten gab, harrt der Unglückliche gefangen in seiner häuslichen Wartehölle. Nur wenn er sich ganz sicher ist, daß die Tochter wegen eines festen Termins nicht zu Hause sein kann, besucht er Mme Swann, um über diese eine Nähe zur Geliebten herzustellen, wie damals in der Allée des Acacias.
Je länger die Trennung andauert, um so mehr schwindet auch Marcels Hoffnung. Den Schmerz hat er allerdings noch nicht überwunden, er gibt sich sogar selbst die Schuld an dem Ende, da die Trennung von ihm aus ging. Vernünftig beschwichtigt er sich, daß er eines Tages eine andere lieben wird. Er tröstet sich mit dem Rachegedanken, daß dann endlich Gilberte bereuen würde nicht mehr von ihm geliebt zu werden. Schöner Selbstbetrug, wenn er nur nützte.
Mme Swann versucht die Verbindung zu reparieren. Marcel erhält eine Einladung Gilbertes, die er jedoch ablehnt, da er vermutet, daß sie nicht ihrem Wunsch entspricht. Er möchte lieber warten, bis er das Gefühl hat von Gilberte wieder begehrt zu werden. Als jedoch Odette ihm erzählt, daß diese ihn dringend wiedersehen möchte, bricht sein Widerstand. Marcel plant einen Überraschungsbesuch für den nächsten Abend. Er verkauft eine Mingvase aus dem Erbe Tante Léonies, freut sich über die ungeheure Summe, die er beim Antiquitätenhändler erzielt hat, und beschließt diese jetzt und künftig in Rosen und Flieder für die wiedervereinte Liebe zu investieren. Da macht er eine grausame Entdeckung, Gilberte verschwindet in Begleitung eines Anderen beim Abendspaziergang im „elysäischen Dunkel“.
Marcel stellt seine Besuche bei Mme Swann ein, um schneller vergessen zu können. Seine Hoffnung auf ein Wiedersehen entlarvt er als Illusion, als Glücksphantasie eines Jungen, den es, wenn diese sich in ferner Zukunft einlösen würde, so nicht mehr geben wird.
Den endgültigen Abschluss erleichtert ihm ein Traum, in dem sich Gilberte in der Traumgestalt eines jungen Mannes unaufrichtig verhält. Er erinnert sich an ihr falsches Lachen als sie ihm zuliebe auf das Ausgehen verzichtete.
Ein immer seltener werdender „Briefwechsel zwischen Freunden, die sich nicht mehr sehen wollten“ beendet die Affäre.