Das Tagebuch aus Márais „Die Glut“

In „Hallgatás“ versucht Ursula Pecinska die Fragen aus Márais „Der Glut“ zu beantworten

pecinskaUn­ver­ständ­lich bleibt mir Dein Schwei­gen, Hen­rik! Ich aber kann nicht län­ger schwei­gen. Ich bre­che heu­te mein Ge­lüb­de und wer­de ein lan­ge ge­hü­te­tes Ge­heim­nis preisgeben.“

Seit 1999 Sán­dor Má­rais Ro­man „Die Glut“ für den deutsch­spra­chi­gen Buch­markt wie­der ent­deckt wur­de, über­zeugt er durch sein span­nen­des Kon­strukt und psy­cho­lo­gi­sche Tie­fe. Un­zäh­li­ge Le­ser sind be­geis­tert, wo­von zahl­rei­che Auf­la­gen und Über­set­zun­gen kün­den. „Die Glut“ gilt heu­te mit Recht als Klas­si­ker der eu­ro­päi­schen Literatur.

Die Schwei­zer Schrift­stel­le­rin Ur­su­la Pecinska reg­te er so­gar zu ei­nem ei­ge­nen Ro­man an. Sie will Sán­dors Werk nicht nur er­gän­zen, son­dern das Ge­heim­nis sei­ner Vor­la­ge of­fen­ba­ren. „Hall­ga­tás“, be­nannt nach dem un­ga­ri­sche Wort für Schwei­gen, ist –so Pecins­kas Fik­ti­on- „Das Ta­ge­buch der Krisz­ti­na“. Das, wie wir uns er­in­nern, am En­de von Má­rais Ro­man un­ge­le­sen in der Glut landet.

Ver­lo­ren ist da­mit die Ant­wort dar­auf, was den Bund zwi­schen dem Paar Hen­rik und Krisz­ti­na und dem Freund Kon­rád aus­ein­an­der spreng­te. War Hen­riks Ver­dacht, Kon­rad wol­le ihn auf der Jagd tö­ten, be­rech­tigt? Ist er des­halb spur­los ver­schwun­den? War Kris­ti­na dar­in ver­strickt? Wur­de Hen­rik von sei­nen wich­tigs­ten Be­zugs­per­so­nen hintergangen?

Die­se Rät­sel, die Má­rai be­wusst of­fen lässt und die den Reiz sei­nes Ro­mans aus­ma­chen, blei­ben al­so im dop­pel­ten Sinn das Ge­heim­nis der Glut. Ur­su­la Pecinska hin­ge­gen be­scher­ten sie Ir­ri­ta­ti­on aber auch Schreib­mo­tiv, wie sie in ei­nem In­ter­view mit dem Schwei­zer Ra­dio be­kennt. Sie blät­tert Krisz­ti­nas Ta­ge­buch für neu­gie­ri­ge Le­ser auf.

In die­sem gelb­s­am­ti­gen Jour­nal, soll­ten ‑so die Idee Krisz­ti­nas- die jun­gen Ehe­leu­te Un­aus­sprech­li­ches no­tie­ren, ge­hei­me Ge­dan­ken, „Sehn­süch­te der See­le“ aber auch Kri­tik. Doch es liegt nicht am ver­ein­bar­ten Ort, wo Hen­rik es am Tag nach den Er­eig­nis­sen sucht. Hier zeigt sich ein ers­ter Bruch zwi­schen Ori­gi­nal und Fol­ge­ro­man, bei Má­rai be­fin­det sich die Schub­la­de in Krisz­ti­nas Schreib­tisch bei Pecinska in Hen­riks. Be­ab­sich­tigt die Au­torin die Ver­wechs­lung und er­klärt da­mit zu­gleich, wes­halb das Schwei­gen der bei­den Ehe­part­ner nie ge­bro­chen wur­de? Die ge­naue Lek­tü­re zeigt, daß der Irr­tum nicht bei Hen­rik und Krisz­ti­na lie­gen kann.

Und das ge­hei­me Ta­ge­buch liegt im­mer in der Schub­la­de des Schreib­tischs, zu dem nur wir bei­de ei­nen Schlüs­sel ha­ben. (…) ich ste­he auf und ma­che mich im dunk­len Haus auf den Weg in Krisz­ti­nas Ar­beits­zim­mer, öff­ne dort die Schub­la­de ih­res Schreib­ti­sches und su­che das gel­be Ta­ge­buch.“ (Má­rai, 162)

In je­ner Nacht leg­te ich das Ta­ge­buch in Dei­ne Schreib­tisch­schub­la­de, wie wir das seit vier Jah­ren hand­ha­ben“. (Pecinska, 29)

Man könn­te über die­sen Feh­ler hin­weg se­hen, wä­re er das ein­zi­ge Knir­schen, das die Lek­tü­re von „Hall­ga­tás“ stört.

Laut Má­rai präg­ten kur­ze Sät­ze, emo­tio­na­le Frag­men­te, wie im Traum ge­spro­chen, den Stil des ma­tri­mo­nia­len Be­kennt­nis­bu­ches. Ge­wiss, Pecinska lässt ih­re Krisz­ti­na die bis­he­ri­gen Blät­ter her­aus­tren­nen, um ein neu­es Ka­pi­tel zu be­gin­nen. Doch er­in­nert der neue Duk­tus eher an Quar­tals­be­rich­te. Der ers­te Ein­trag ist mit Win­ter 1899/1900 über­schrie­ben. Er folgt da­mit der prä­zi­sen Chro­no­lo­gie von „Die Glut“, die das un­ge­heu­er­li­che Er­eig­nis, den ver­mu­te­ten Mord, für den 2. Ju­li 1899 ver­zeich­net. Schon mit dem ers­ten Satz räumt Pecinska die­ses Rät­sel aus dem Weg. „Liebs­ter Hen­rik, Kon­rád woll­te Dich nicht tö­ten!“. Ihm fol­gen Recht­fer­ti­gun­gen und Er­klä­run­gen, mit de­nen Krisz­ti­na sich und Kon­rád von dem Ver­dacht frei­spre­chen will. Die Ein­trä­ge ori­en­tie­ren sich an den Jah­res­zei­ten, erst ab dem Jahr 1904 er­schei­nen sie häu­fi­ger. Ob dies dar­an liegt, daß sich das Le­ben der Prot­ago­nis­tin rasch und un­glück­lich zu En­de neigt oder dar­an, daß das Schick­sal der von Pecinska neu er­son­ne­nen Ne­ben­fi­gu­ren ei­nem glück­li­chen En­de zu­ge­führt wer­den soll, sei dahingestellt.

In den ers­ten Jah­ren zei­gen die Auf­zeich­nun­gen ein ein­heit­li­ches Sche­ma. Den Be­ginn bil­den stets ro­man­ti­sche Na­tur­im­pres­sio­nen, da ver­liert sich Herbst­licht im bern­stein­far­be­nen Him­mel oder der Früh­ling lockt mit war­men Strah­len. Es folgt ein Rück­blick auf die Ver­gan­gen­heit, auf die in „Die Glut“ ge­schil­der­ten Er­eig­nis­se, de­nen Pecinska Krisz­ti­nas Ar­gu­men­te fol­gen lässt. Die­se be­sche­ren mit­un­ter neue Ein­bli­cke. Wir er­fah­ren vom frü­hen Tod der Mut­ter Krisz­ti­nas und von Kon­ráds Ent­schluss für die Tro­pen. Bei­des ge­schieht nicht oh­ne Pa­thos. Das ei­ne kün­digt Lei­den­schaft und Wahn düs­ter vor­aus, „In sei­nem Le­ben gab es zwei Lei­den­schaf­ten, mei­ne Ma­ma und die Mu­sik. Und nur der Ge­dan­ke an mich, sein da­mals neun­jäh­ri­ges Mäd­chen, ret­te­te ihn da­vor, nach dem frü­hen Tod sei­ner ge­lieb­ten Frau aus sei­ner Le­bens­bahn ge­wor­fen zu wer­den.“ Kon­ráds Ein­schei­dung für ei­ne bri­ti­sche Han­dels­kom­pa­nie in Über­see zu ar­bei­ten, wird auf den Ein­fluss Gau­gu­ins zu­rück­ge­führt, von dem zu al­lem Über­fluss im wei­te­ren Ver­lauf auch noch ein Bild bei ei­nem Pa­ri­ser Ga­le­ris­ten er­stan­den wer­den wird.

Pecinska ver­sucht in ih­rem Ro­man ein Sit­ten­ge­mäl­de der Zeit zu ent­wer­fen. Das wird um­so deut­li­cher, je wei­ter ih­re Ge­schich­te vor­an­schrei­tet. Die Ge­heim­nis­se ih­rer Vor­la­ge sind be­reits auf Sei­te 26 der Glut ent­ris­sen, es blei­ben noch 166, die die Au­torin mit der Kul­tur der Jahr­hun­dert­wen­de, Na­tur­ro­man­tik und Na­me­drop­ping füllt. Zwei­fels­oh­ne prägt die Kunst je­de Epo­che. Doch Gau­gu­in als Ent­fa­cher des Exo­tis­mus zu be­nen­nen oder Os­car Wil­de als Op­fer ho­mo­se­xu­el­ler Dis­kri­mi­nie­rung ist we­der neu noch er­hellt es die von Má­rai auf­ge­wor­fe­nen The­men. Die be­kann­ten Na­men fül­len le­dig­lich die Sei­ten. So ver­tre­ten Gus­tav Klimt und Isa­do­ra Dun­can künst­le­ri­schen Ruhm durch Ei­gen­sinn. De­bus­sy und Tschechow un­ter­ma­len die emo­tio­na­len Be­find­lich­kei­ten. Doch auch der Blick auf die un­te­ren Schich­ten ver­nach­läs­sigt Pecinska nicht. Die Stel­lung der Frau und die zag­haf­ten An­fän­ge der Eman­zi­pa­ti­on il­lus­triert sie durch die Fi­gur der kämp­fe­ri­schen Frau­en­ärz­tin The­re­se, wäh­rend der Ma­ro­ni-Bub Jo­sef ihr als Ge­währs­mann für das Elend der Ar­men dient.

Ne­ben die­sen neu­en Fi­gu­ren, fin­det auch Ni­ni, Am­me und Haus­mäd­chen aus „Die Glut“ ei­nen Part in „Hall­ga­tás“. Hier wie dort ist sie die Ver­trau­ens­per­son der Haupt­fi­gu­ren nach dem Bruch. Ih­re Be­zie­hung zu Krisz­ti­na wird bei Pecinska fast freund­schaft­lich. Um­so merk­wür­di­ger, daß es die­ser Ni­ni nicht ge­lingt als ein­zi­ges Bin­de­glied zwi­schen den bei­den Schwei­gen­den die Be­zie­hung wie­der herzustellen.

So bleibt we­nigs­tens ein Rät­sel in die­sem Ro­man, der die Fra­gen sei­ner In­spi­ra­ti­ons­quel­le auf­löst. Lei­der ge­lingt Ur­su­la Pecinska dies nur auf we­nig in­spi­rie­ren­de Wei­se. Was in ei­nem Kom­men­tar­band ei­nen gu­ten Platz ge­fun­den hät­te, ist hier zu viel und über­frach­tet den Roman.

Ursula Pecinska, Hallgatás, Bilgerverlag, 1. Aufl. 2015

 

Dis­kus­si­on im Literaturkreis

Das Buch ha­ben wir in sie­ben­köp­fi­ger Run­de dis­ku­tiert, auf­merk­sam mach­te mich ein Bei­trag im Schwei­zer Radio.

Zwar stand die Vor­la­ge von Sán­dor Má­rai be­reits vor et­li­chen Jah­ren auf un­se­rem Pro­gramm. Aber we­gen neu­er Mit­glie­der und im­mer­wäh­ren­der Ver­gess­lich­keit ha­ben wir „Die Glut“ noch ein­mal ge­le­sen. Be­geis­te­rung er­zeug­te die­ser Klas­si­ker auch bei uns, ei­ni­ge ver­fie­len so­gar in ei­nen re­gel­rech­ten Má­rai-Rausch und wid­me­ten sich wei­te­ren Wer­ken die­ses Autors.

Zum Dank ha­ben wir al­le Pecin­kas Ro­man zu En­de ge­le­sen, auch wenn es sich für ei­ni­ge an­fühl­te, als zähl­te er ein Zehn­fa­ches sei­ner ei­gent­li­chen Seitenzahl.

Nach der Vor­stel­lung des Ti­tels, die in un­se­rem Kreis im­mer der­je­ni­ge über­nimmt, der ihn aus­ge­wählt hat, hielt ich mei­ne Kri­tik zu­nächst zu­rück. Doch mei­ne Sicht er­wies sich nicht als rein sub­jek­tiv. Die Wor­te Kitsch, lang­at­mig, über­frach­tet fie­len auch bei den An­de­ren. Trotz­dem hat­ten wir ei­ne gu­te Dis­kus­si­on, zu der na­tür­lich auch der Ver­gleich mit Má­rai bei­trug. Als An­lass „Die Glut“ noch ein­mal zu le­sen, ha­ben wir „Hall­ga­tás“ ger­ne ge­nutzt. Man kann das Ori­gi­nal aber oh­ne wei­te­res oh­ne den Nach­fol­ger le­sen. Im­mer­hin ‑dies als ab­schlie­ßen­des Ku­rio­sum am Ran­de- in­spi­rier­te „Hall­ga­tás“ zwei Teil­neh­mer zu ei­ner Rei­se nach Coimbra.

 

 

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