Ein Hauch vergangener Zeiten“

Henry James’ „Daisy Miller“ amüsiert mit Ironie und spritzigen Dialogen

Daisy MillerIch hab’ kei­ne Zäh­ne, die ka­putt­ge­hen kön­nen. Die sind al­le aus­ge­fal­len. Ich hab’ nur noch sie­ben. Mut­ter hat sie ges­tern Abend ge­zählt, und gleich da­nach ist noch ei­ner aus­ge­fal­len. Sie hat ge­sagt, sie ohr­feigt mich, wenn noch mehr aus­fal­len. Da­bei kann ich gar nichts da­für. Es liegt al­les an die­sem al­ten Eu­ro­pa. Es liegt am Kli­ma hier, dass sie aus­fal­len. In Ame­ri­ka ist kei­ner aus­ge­fal­len, es liegt an den Hotels.“

Die­se Kla­ge legt Hen­ry Ja­mes in sei­ner No­vel­le Dai­sy Mil­ler ei­nem neun­jäh­ri­gen Jun­gen in den zahn­lo­sen Mund und macht so gleich zu Be­ginn auf sein The­ma auf­merk­sam, die „na­tio­nal­ty­pi­schen“ Un­ter­schie­de zwi­schen Eu­ro­pä­ern und Ame­ri­ka­nern. Stu­die­ren konn­te er die­se seit frü­her Ju­gend. Mit sei­ner Fa­mi­lie be­reis­te er den al­ten Kon­ti­nent, der ihm so gut ge­fiel, daß er spä­ter in Lon­don, Pa­ris, Bo­lo­gna, Bonn und Genf stu­dier­te, sich dann in Eng­land an­sie­del­te und schließ­lich die Staats­bür­ger­schaft sei­ner Wahl­hei­mat an­nahm. Dies ge­schah kurz vor sei­nem Tod, der sich in die­sem Jahr am 28. Fe­bru­ar zum hun­derts­ten Ma­le jährte.

Ob aus dem klei­nen Ran­dolph auch einst ein Eu­ro­pä­er wer­den wird, bleibt der Phan­ta­sie über­las­sen. Lei­der, dem iro­ni­schen Plau­der­ton Ja­mes” hät­te ich ger­ne noch län­ger ge­lauscht, doch nach gut hun­dert Sei­ten ist Schluss. In die­sen führt Ja­mes den Le­ser zu­nächst an den Gen­fer See. Dort liegt Ve­vey, im Som­mer 1878, dem Er­schei­nungs­jahr der No­vel­le, the place to be nicht nur für rei­che Ame­ri­ka­ner. Im lu­xu­riö­sen „Trois Cou­ron­nes“, ge­nau­er an der da­vor ge­le­ge­nen Ufer­pro­me­na­de, tref­fen der 27-jäh­ri­ge Win­ter­bourne und Dai­sy Mil­ler, die äl­te­re Schwes­ter Ran­dolphs, auf­ein­an­der. Wäh­rend Win­ter­bourne wäh­rend sei­ner Jah­re in Genf die dort herr­schen­de Zu­rück­hal­tung an­ge­nom­men hat, agiert die jun­ge und at­trak­ti­ve Ame­ri­ka­ne­rin nach pu­ri­ta­ni­schen Maß­stä­ben eher am Ran­de der Re­geln. Die Toch­ter ei­nes wohl­ha­ben­den In­dus­tri­el­len aus der ame­ri­ka­ni­schen Pro­vinz ver­blüfft Win­ter­bourne durch ihr selbst­si­che­res Auf­tre­ten. Ihr fa­bel­haf­tes Aus­se­hen hat­te be­reits et­li­che Gen­tle­men auf New Yor­ker Din­ner­par­tys be­ein­druckt. All’ dies er­zählt sie frei­mü­tig Win­ter­bourne, den die nai­ve, gern flir­ten­de Ame­ri­ka­ne­rin zu­neh­mend fas­zi­niert. Sie ha­be kei­ne „Vor­stel­lung von Form“, weil sie aus der Pro­vinz kom­me und kei­ne Bil­dung be­sit­ze, ver­tei­digt Win­ter­bourne sie ge­gen­über sei­ner Tan­te. Die­se hat die Mil­lers be­reits als die „Sor­te Ame­ri­ka­ner“ iden­ti­fi­ziert, „die zu igno­rie­ren ge­ra­de­zu ei­ne Pflicht ist“. Doch da ist Win­ter­bourne be­reits der un­kon­ven­tio­nel­len Dai­sy er­le­gen. Im­mer­hin ist sie nicht ganz so frech wie ihr klei­ner Bru­der, der Pro­me­na­den­schreck, und nicht ganz so tö­richt wie ih­re Mut­ter, der die bei­den Kin­dern auf dem Kopf her­um tan­zen. Man ahnt, daß Mr Mil­ler die Eu­ro­pa­rei­se sehr frei­wil­lig fi­nan­ziert hat.

Mrs Mil­ler hat ge­gen die neue Be­kannt­schaft ih­rer Toch­ter mit dem Gen­tle­man kaum Ein­wän­de, des­sen Tan­te, Mrs Mel­ro­se, sehr wohl. Sie rät ih­rem Nef­fen drin­gend da­von ab und fin­det den ge­plan­ten Aus­flug un­ge­bühr­lich. Doch die bei­den jun­gen Leu­te un­ter­neh­men die Fahrt zum Châ­teau de Chil­lon ge­mein­sam und al­lei­ne. Wer weiß, was noch ge­sche­hen wä­re, wä­re Win­ter­bourne nicht kurz dar­auf wie­der nach Genf ge­reist. Zum Ab­schied ver­ein­ba­ren sie ein Tref­fen in Rom, wo die Mil­lers die Win­ter­mo­na­te ver­brin­gen und Win­ter­bourne im Ja­nu­ar sei­ne Tan­te be­su­chen wird.

Von die­sem Wie­der­se­hen er­zählt die zwei­te Hälf­te der No­vel­le. Den zwei Ka­pi­teln in Ve­vey, wo ein in Genf ge­zähm­ter Gen­tle­man sei­ne Chan­ce nicht er­greift, fol­gen zwei Ka­pi­tel in Rom, die ihm zei­gen, daß dies nicht oh­ne Fol­gen bleibt. Denn dort wird Dai­sy schon längst von Mr Gio­va­nel­li be­glei­tet, der ihr an At­trak­ti­vi­tät und Flirt­lust in nichts nach­steht. Sie ge­nießt die groß­ar­ti­ge Ge­sell­schaft Roms, die sie je­doch jen­seits der Gäs­te fin­det, die Mrs Wal­ker in der Via Gre­go­ria­na zum Tee emp­fängt. Dai­sy be­vor­zugt die ita­lie­ni­schen Gen­tle­men. Be­son­ders Mr Gio­va­nel­li sei in­zwi­schen „ein rich­tig gu­ter Freund“ und „der schöns­te Mann der Welt, na­tür­lich ab­ge­se­hen von Mr Win­ter­bourne“, neckt sie die­sen und setzt die Qual fort, in­dem sie ver­langt von ihm zum Pin­cio be­glei­tet zu wer­den. Dort will sie den schö­nen Si­gno­re tref­fen. Ihr Ver­hal­ten pro­vo­ziert den ver­lieb­ten jun­gen Mann und noch mehr sei­ne Lands­leu­te in Rom. Trotz al­ler Rat­schlä­ge ren­nen die bei­de jun­gen Ame­ri­ka­ner ins Ver­der­ben. Dai­sy wird so­gar dop­pelt be­straft, wie man in Genf glau­ben würde.

Hen­ry Ja­mes ist ein Meis­ter des Dia­logs. Sei­ne Fi­gu­ren bril­lie­ren im iro­ni­schen Schlag­ab­tausch, der die Hand­lung vor­an­treibt. Eben­so meis­ter­haft führt er in die No­vel­le ein. Er be­ginnt kon­ven­tio­nell mit ei­ner Be­schrei­bung des Hand­lungs­orts Ve­vey und dem Auf­tritt sei­ner Haupt­per­so­nen. Doch lie­gen dar­in be­reits sei­ne Haupt­mo­ti­ve. Nicht nur die am Ufer des Gen­fer-Sees ge­le­ge­nen Ho­tels sind ge­die­gen, be­schei­den oder auf­fal­lend wie Em­por­kömm­lin­ge. Ähn­li­che Ab­stu­fun­gen zei­gen auch Rang und Ruf ih­rer Be­woh­ner. Die fei­nen Un­ter­schie­de der Ge­sell­schaft, ob man da­zu zählt und wie man sich in ihr be­wegt, führt Ja­mes in sei­ner Lie­bes­ge­schich­te vor. Sein Win­ter­bourne ist in den 20 Jah­ren im cal­vi­nis­ti­schen Genf fast schon zum Eu­ro­pä­er ge­wor­den, wäh­rend Dai­sy Mil­ler als un­be­fan­ge­ne Neu­rei­che aus der ame­ri­ka­ni­schen Pro­vinz auf­tritt. Sie setzt die Be­nimm­re­geln au­ßer Kraft, die für die wohl­an­stän­di­gen ame­ri­ka­ni­schen Krei­se gel­ten, für die Mrs Mel­ro­se, Win­ter­bour­nes Tan­te, spre­chen und spä­ter in Rom auch Mrs Walker.

Es ist ein prä­zi­ser Blick, mit dem Hen­ry Ja­mes sei­ne Fi­gu­ren be­schreibt und ih­re Schwä­chen ent­larvt, sie aber nie bloß­stellt. Nicht nur die Un­ter­schie­de zwi­schen der ame­ri­ka­ni­schen Ge­sell­schaft und der in good old Eu­ro­pe be­feu­ern sei­ne Iro­nie, auch die Kon­ven­tio­nen, de­nen Män­ner und Frau­en in un­ter­schied­li­chem Maß un­ter­wor­fen sind, „ein Mann darf ken­nen, wen er will“. Sein Er­zäh­ler kom­men­tiert, mit­un­ter auch in di­rek­ter Le­ser­an­spra­che, das Be­fin­den sei­ner Fi­gu­ren, wäh­rend die­se die Schein­hei­lig­keit der Sitt­sa­men entlarven.

(…) hö­ren Sie doch we­nigs­tens auf, mit Ih­rem Freund am Kla­vier zu flir­ten. Die Leu­te hier“, ver­si­cher­te er ihr, als ob er ganz auf­sei­ten der „Leu­te hier“ stün­de, „ver­ste­hen so et­was nicht.“
„Und ich dach­te, die Leu­te hier ver­ste­hen nichts an­de­res als das!“, rief Dai­sy mit er­staun­li­cher Welterfahrung.
„Nicht bei jun­gen, un­ver­hei­ra­te­ten Frauen.“
„Mir kommt es bei jun­gen, un­ver­hei­ra­te­ten Frau­en sehr viel an­stän­di­ger vor als bei den al­ten ver­hei­ra­te­ten“, er­wi­der­te sie.“

Ob nun das For­sche oder das Zö­ger­li­che dem Glück im We­ge stand oder ein­fach nur der in der gu­ten Schwei­zer Luft Ak­kli­ma­ti­sier­te nicht ge­gen den „von heim­tü­cki­schen Düns­ten“ er­füll­ten „Hauch ver­gan­ge­ner Zei­ten“ Roms an­stin­ken konn­te, das ent­schei­de nach der Lek­tü­re ein je­der selbst. Hen­ry Ja­mes” kurz­wei­li­ge Skiz­ze der Ge­sell­schaft ge­gen En­de des 19. Jahr­hun­derts liegt bei dtv in der kom­men­tier­ten Neu­über­set­zung von Brit­ta Mümm­ler vor.

Henry James, Daisy Miller, übers. v. Britta Mümmler, 1. Aufl. 2015, dtv

 

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