In „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ erzählt Usama Al Shahmani vom Erinnern und Suchen
„In einem Baum entdeckt er kleine Vögel, die sich stumm zwischen den Ästen bewegen, dann fliegen sie einer nach dem anderen zum nächsten. Sie sind die einzige Bewegung in der kalten Winterlandschaft. Von Baum zu Baum verlassen sie ihren Schatten in den Ästen und verschwinden allmählich in der Ferne. Wie verständigen sie sich? Wohin sind sie unterwegs?“
Vögel spielen eine besondere Rolle in Usama Al Shahmanis neuem Roman. Sei es der Riffreiher, den die Iraker Garnuk, Vogel des Glücks, nennen, oder Tatua, der Vogel des Unglücks, oder seien es die kleinen Vögel auf einem Baum in der Schweiz. Laut dem Titel „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ wissen sie genau, wohin sie ziehen werden, wenn der Wechsel der Jahreszeiten bevorsteht. Ihr genetischer Kompass ist unfehlbar. Er wird ihnen allerdings zum Verhängnis, wenn der Mensch ihre Lebensbedingungen in den Zielgebieten zerstört. Als Beispiel erinnert Al Shahmani an die Trockenlegung der südirakischen Sümpfe. Die Gänse waren ihrer Nahrungsquelle beraubt. Sie gaben trotzdem nicht auf und kehrten jedes Jahr zurück. Ihre Hartnäckigkeit, die schließlich mit der Renaturierung des Gebietes belohnt wurde, führte zu ihrem Beinamen „Die Hoffnungskundigen“.
Anders, aber ähnlich ergeht es dem Protagonisten des Romans. Dafer lebt im Irak bis seine Lebensbedingungen als Mensch und Künstler derart bedroht sind, daß Flucht seine einzige Überlebensmöglichkeit bleibt. Eine Erfahrung, die Dafer mit seinem Erfinder teilt. Al Shahmani verließ 2002 im Alter von 31 Jahren den Irak, als er wegen seiner Kunst ins Visier der Schergen Sadams geriet, seitdem lebt er in der Schweiz. Auch Dafer landet dort, müht sich mit Asylverfahren und Aushilfsjobs, mit wechselnden Unterkünften und wechselnden Freunden. In Erinnerungen taucht er immer wieder hinab in sein früheres Leben, schweift durch seine Heimat, begegnet der Familie und den Freunden, spürt aber stets die Unfreiheit und die Angst, die ihn forttrieben. Die ersten Tage seiner Flucht verbringt er im Verborgenen, sein Versteck verlässt er nur in der Nacht. Dort liest er Prousts Recherche, alle sieben Bände. Die Liebe zur Literatur vermachte ihm seine Großmutter. Eine große, des Lesens und des Schreibens unkundige Erzählerin, die ihre Geschichten aus ihren Erfahrungen und Emotionen ersann.
Diese Figur zwischen Scheherazade und der Großmutter bei Proust spielt eine zentrale Rolle, sie ist der kreative Antrieb des Erzählers. „Was könnte jetzt passieren, was denkst du?“ war stets ihre Frage, aus der Dafer seine poetische Kraft schöpft. Diese zeigt sich im Roman von den Überschriften der Kapitel bis zu den eingestreuten Gedichten, darunter „Traumfeld“, die erste Veröffentlichung des Schülers Dafer. Kurz darauf beginnt er an der Universität in Bagdad sein Literaturstudium.
Inspiration findet Dafer auch in seinen Träumen, die ihn oft zu Orten der Sehnsucht führen. Kurze Notizen vor dem Einschlafen schenken ihm im Traum Geschichten. Tagsüber wecken flüchtige Eindrücke unbeabsichtigt Erinnerungen. So führt ihn das Sitzen am Tisch seiner Schweizer Wohnung zu dem imposanten Olivenholztisch seiner Eltern, dessen Herkunft und Verbleib von den Umbrüchen in Dafers Kindheit erzählen. Der Tisch kam von Aschuah, einer Freundin der Großmutter, die ihre Wohnung auflöste und fortzog. Die emanzipierte, unverheiratete Apothekerin mit hohen Absätzen und lackierten Fingernägel ahnte, daß die „kopftuchfreie Zeit“ bald ein Ende haben werde.
Wenige Jahre später wurden die Zustände durch den Krieg zwischen Irak und Iran unerträglich. Neben der materiellen Not – zu viert teilten sich Dafer mit Kommilitonen einen Raum, zum Frühstück musste der Zucker zum Tee reichen – herrschte unter den Studenten intellektuelle Not. Nicht nur durften sie nichts sagen, sondern sie konnten auch kaum etwas lesen. Das Regime entfernte unzählige Bücher aus den Bibliotheken. Nur illegale Kopien konnten unter Gefahr gekauft und gelesen werden. Wie schnell jeder bei geringsten Vergehen verschwinden konnte, zeigt Al Shahmani auf eindrückliche Weise. Diese „Erinnerungen an seine alte Heimat sind manchmal ein einziges Trümmerfeld voller Horror und Angst. (…) Auch noch so vielen Jahren, so lange nach Saddams Sturz kann er nicht friedlich an Bagdad und den Irak denken.“
Trost findet Dafer in der Natur, lange Wanderungen helfen ihm, die zurückliegenden Verluste und die Schwierigkeiten des Neuanfangs zu bewältigen. Die Wälder mit ihren Bäumen und der Fluss mit seiner steten Bewegung dienen Al Shahmani als Metaphern. Sie verdeutlichen die Entwurzelung des Geflohenen und seine Suche nach Halt in der sicheren, aber fremden Schweiz. Der Fluss, die Aare, deren Ufern Dafer folgt, beschwört er mit Zeilen, die vermuten lassen, daß er nicht nur Proust, sondern auch Hesse gelesen hat. „Nimm meine Weisheit, gib dich dem hin, was du liebst. Erneuere dich wie ein Fluss. Suche nach Anfängen. In jedem Anfang steckt eine Hoffnung. Und in jeder Hoffnung befinden sich viele Türen.“ Wie die hoffnungskundigen Vögel reist Dafer in den Irak, doch er muss erkennen, daß es für ihn keine Rückkehr geben wird. „Im Irak meinte ein Gärtner, der liebe Gott schicke rechtschaffene Leute in die Schweizer Wälder, denn es gibt keinen schöneren Ort. Gott hat recht, dachte er.“
Usama Al Shahmanis sprachlich und emotional beeindruckendem Roman, aus dem der Autor auch beim diesjährigen Bachmann-Wettbewerb las, wünsche ich viele Leser.