Vom Warten zur Schnecke gemacht

Antonio Muñoz Molina erzählt in „Tage ohne Cecilia“ vom Abdriften eines unzuverlässigen Erzählers

Dank der Ap­ly­sia, ei­nes be­hä­bi­gen Tie­res, das nur über fünf­hun­dert Neu­ro­nen und höchs­tens sie­ben­tau­send Syn­ap­sen ver­fügt, konn­te der Gro­ße Chef von Ce­ci­li­as La­bor die mo­le­ku­la­ren Me­cha­nis­men zur Bil­dung von Kurz- und Lang­zeit­ge­dächt­nis ent­de­cken. Ce­ci­lia hat mich ge­lehrt, mei­ne ge­ne­ti­schen Fa­mi­li­en­ban­de mit Rie­sen­schne­cken, wei­ßen Rat­ten und Frucht­flie­gen zu ak­zep­tie­ren. In ih­rer pri­mi­ti­ven Träg­heit re­agiert die Ap­ly­sia auf Schmerz und lernt aus den Strom­schlä­gen. Ich fra­ge Ce­ci­lia, was die Schne­cke in die­sem Au­gen­blick fühlt, wie sie die Welt wahr­nimmt, was sie sieht, hört und fühlt und ob sie sich an Din­ge er­in­nern kann, ob sie schläft oder wacht, ob sie träumt.“

Sei­ne Ner­ven und Syn­ap­sen, sein Kurz- und Lang­zeit­ge­dächt­nis, kurz die kom­ple­xen Vor­gän­ge sei­nes Hirns ma­chen der Haupt­fi­gur in An­to­nio Mu­ñoz Mo­li­nas Ro­man „Ta­ge oh­ne Ce­ci­lia“ zu schaf­fen. Die in­ne­re Stim­me des Prot­ago­nis­ten, erst am En­de er­fah­ren wir sei­nen Na­men, Bru­no, re­flek­tiert sein Er­le­ben und Er­in­nern, sei­ne Sehn­süch­te und Träu­me. Es han­delt sich um ei­nen äu­ßerst un­zu­ver­läs­si­gen Er­zäh­ler, was im Lau­fe des Ro­mans, der auf knapp 300 Sei­ten ho­he Kom­ple­xi­tät ent­fal­tet, im­mer deut­li­cher wird. Ne­ben der Fra­ge, wo zum Teu­fel Ce­ci­lia bleibt, ent­steht ein wei­te­res Span­nungs­mo­ment, denn bald fragt sich die Le­se­rin, was zum Teu­fel mit die­sem Bru­no los ist.

Zu­nächst klingt die Ge­schich­te ganz harm­los. Ein Paar zieht um, von New York nicht nur in ei­ne an­de­re Stadt, son­dern auf ei­nen an­de­ren Kon­ti­nent, nach Lis­sa­bon. Wäh­rend die Neu­ro­wis­sen­schaft­le­rin Ce­ci­lia erst ein Pro­jekt in New York zu En­de brin­gen will, reist ihr Part­ner mit dem Hund vor­aus. Früh ver­ren­tet hat er Zeit für den Um­zug und das Ein­rich­ten der neu­en Woh­nung. Er küm­mert sich um Hand­wer­ker und Or­ga­ni­sa­ti­on, was ihm bald der „ar­gen­ti­ni­sche Al­les­kön­ner“ Al­exis ab­nimmt, der auch die Putz­frau Can­di­da be­sorgt. So hat Bru­no wäh­rend des War­tens auf Ce­ci­lia Zeit über vie­les nachzusinnen.

Der pre­kä­re po­li­ti­sche und kli­ma­ti­sche Zu­stand der Welt be­geg­net dem Le­ser be­reits auf der ers­ten Sei­te des Ro­mans. Dass der Er­zäh­ler dies zu­neh­mend als apo­ka­lyp­ti­sche Be­dro­hung er­lebt, er­schließt sich im Ver­lauf. Es mag sein, daß der An­schlag auf die Twin Towers, den er und Ce­ci­lia mit­er­leb­ten, die­se End­zeit­angst aus­lös­te, eben­so wie die­ses Er­eig­nis, die Ab­kehr von New York ver­ur­sacht ha­ben könnte.

Lis­sa­bon er­scheint dem Er­zäh­ler als In­be­griff der Ru­he, die al­ler­dings im nächs­ten Au­gen­blick vom Lärm der über die Woh­nung hin­weg­don­nern­den Flug­zeu­ge zer­stört wird. Ist die­se Art der Wahr­neh­mung am­bi­va­lent oder steckt et­was an­de­res da­hin­ter, fragt man sich spä­tes­tens, wenn man die ob­ses­si­ve Su­che des Er­zäh­lers nach Par­al­le­len ver­folgt. Fast wie in ei­ner Be­schwö­rung er­lebt Bru­no, wäh­rend er mit dem Hund Lu­ria durch Lis­sa­bon zieht, die Ähn­lich­kei­ten von Fluss, Brü­cken, selbst von Kir­chen­ge­läut mit ih­ren Pen­dants in New York. Die neue Woh­nung wird zur Re­plik der al­ten. Die­sel­ben Mö­bel und Ge­gen­stän­de wer­den in der­glei­chen Wei­se auf­ge­stellt und an­ge­ord­net. Fast ver­rät nur der Fens­ter­blick die Ver­än­de­rung. Als Hel­fer bei der Ver­dop­pe­lung dient ihm Al­exis, der bei der Rei­ni­gung der Chris­tus­sta­tue von Rio half, de­ren klei­ne Ko­pie in Lis­sa­bon steht. Al­exis scheint an­fangs un­ab­kömm­lich, doch bald nimmt ihn der Er­zäh­ler als Be­dro­hung wahr.

Ne­ben den Be­ob­ach­tun­gen der Um­ge­bung, des Ver­hal­tens von Al­exis und ins­be­son­de­re das des Hun­des, gilt Bru­nos größ­te Auf­merk­sam­keit sich selbst. Die ste­te In­tro­spek­ti­on führt zu Er­in­ne­run­gen an Ce­ci­lia, ihr ge­mein­sa­mes Le­ben in New York, ih­re ers­te Rei­se nach Lis­sa­bon, ei­nen Be­such in Ce­ci­li­as La­bor. Mit den im­mer­glei­chen Vor­be­rei­tun­gen lei­tet er sein ri­tua­li­sier­tes War­ten ein, das ihn im­mer zum glei­chen Platz mit dem glei­chen Blick aus dem Fens­ter führt.

In die­sem sta­ti­schen Zu­stand des War­tens scheint die Zeit kaum zu ver­ge­hen. „Ich weiß nicht, wel­chen Tag wir heu­te ha­ben. Die Ta­ge ver­ge­hen al­le so gleich, dass ich sie nicht un­ter­schei­den kann.“ Mit Lek­tü­ren über Ad­mi­ral Byrds Ant­ark­tis-Ex­pe­di­ti­on, den Er­fah­run­gen ei­nes ein­sa­men Mön­ches, von Jo­seph Con­rad oder Mon­tai­gne will er sich vom Grü­beln ab­len­ken, doch „oh­ne Zeit­be­zug lös­te sich mei­ne Bio­gra­fie auf, in von­ein­an­der los­ge­lös­te Frag­men­te oh­ne Vor­her und Nach­her“.

Dies spie­gelt der Auf­bau des Ro­mans in kur­ze Ka­pi­tel, die dem in­ne­ren Mo­no­log des Er­zäh­lers sprung­haft fol­gen. Zu­wei­len wie­der­ho­len sich die Epi­so­den, sie un­ter­schei­den sich je­doch in De­tails wie ein „Fin­de-den-Feh­ler-Bild“.

An­to­nio Mu­ñoz Mo­li­na lässt sei­nen Hel­den nur sel­ten dem qual­vol­len War­ten ent­kom­men. Er schickt ihn auf ei­ne Par­ty oder ge­währt die Be­geg­nung mit ei­ner an­de­ren Frau, doch die­se Er­eig­nis­se ir­ri­tie­ren in ih­rer Sur­rea­li­tät. Mit dem Fort­schrei­ten der Ge­schich­te neh­men Bru­nos Pro­ble­me mit dem Ge­dächt­nis und dem Ver­lust des Zeit­ge­fühls zu, Ver­fol­gungs­wahn und zwang­haf­tes Ver­hal­ten ver­stär­ken sich. Ori­en­tie­rungs­los irrt er durch die Gas­sen der Stadt wie die Rat­ten durch Ce­ci­li­as La­by­rinth. Der spa­ni­sche Ori­gi­nal-Ti­tel „Tus pa­sos en la es­ca­lera“ gibt viel­leicht ei­nen deut­li­che­ren Hin­weis auf ei­ne In­ter­pre­ta­ti­on des Ro­ma­nen­des als der deut­sche. Mir hat der viel­schich­ti­ge Ro­man ein schö­nes of­fe­nes En­de ge­gönnt, da ich Ce­ci­li­as Er­kennt­nis fol­ge: „Du hast so oft ge­lo­gen, dass du gar nicht mehr un­ter­schei­den kannst, was wahr ist und was du er­fun­den hast.“

 Antonio Muñoz Molina, Tage ohne Cecilia, übers. v. Willi Zurbrüggen, Penguin 2022

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert