Azzurro — Eric Pfeils vielstimmiger Lobgesang auf die Canzone
Ausgerechnet ein CDU-Politiker war Eric Pfeils Initiationsmeister. Wolfgang Bosbach führte den damals noch sehr jungen Pfeil und dessen Eltern vom beschaulichen Bergisch Gladbach per Bus in die Metropole Rom, wo Pfeil von „zuviel Sonne, zu viel Hektik, zu viel Essen, zu viel Schönheit, zu viel alles“ geflasht wurde. „Italien ist ein Zuviel-Land“, erkennt er und legt in Azzurro entsprechend viel Musik auf.
Kein Wunder, daß er 100 italienische Songs, ungerechnet der nebenbei erwähnten, für seinen musikalischen Cicerone auswählt. Zu viel, könnte ausrufen, wer es wie ich mit Meister Busch hält, doch manchmal unterliegt die Sehnsucht nach Stille der nach Italien. Ich war schon lange nicht mehr dort, erst kam die Pandemie, dann mussten dänische Verwandte in Schweden besucht werden. Was bleibt nun im bleigrauen, feuchtkalten Januar, in dem noch nicht einmal in der Wohnung wohlige Wärme wartet?
Diese stellt sich per fortuna mit Pfeils kleinem Führer durch die Kulturgeschichte der Canzone sofort ein. In lockerem Ton lässt der Musikjournalist darin Belcanto, Rock und Pop vorbei flanieren und garniert diese mit Kultur, Politik, Klatsch und Tratsch. Kenntnisreich beginnt er mit Aida, 1976 besang Rino Gaetano darin le donne italiane, und endet bei Voce der 19-jährigen Rapperin Madame. Dieser Schlussakkord in Pfeils alphabetisch geordneter Liste ist das 2021 entstandene, chronologisch jüngste Beispiel. Die ältesten Fundstücke neben dem seit 1919 angestimmten O sole mio, stammen aus dem Jahr 1955, Buongiorno Tristezza von Claudio Villa, Fred Buscagliones Che Bambola! und Vecchio Frack von Domenico Modugno. Letzterer ist bekannter für Nel blu dipinto in blu, das italienische Lied schlechthin. Die Geschichte des Welterfolgs weiß Pfeil mit Esprit zu erzählen und erhebt Modugno zum „Vater aller cantautori und Erfinder des modernen italienischen Liedes“.
Der Musiker Pfeil analysiert in seinen Cento Canzone nicht nur kenntnisreich Stil, Inhalt und Geschichte des jeweiligen Songs, auf historischen Pfaden nähert er sich auch dem Zeitgeist. Den machen die Cantautori mit psychologischem Gespür zum Thema und erfassen in ihren Texten die Ambivalenz der Italiener zwischen „Sinnlichkeit und Prüderie, Leichtlebigkeit und starrer Konvention, Erhabenheit und Vulgarität“. Mit dem ersten Festival in Sanremo im Jahr 1951 wird die Canzone italiana zum „nationalen Kulturgut“.
Für dieses lässt sich sogar eine taube Tedesca begeistern, wenn sie auf amüsante Weise angeleitet wird. Das gelingt umso besser, wenn Pfeil biographische Kuriosa der einzelnen Künstler und Künstlerinnen auskramt. Essere curiosa, sagt der Italiener, wenn er von Neugier spricht, die darf und sollte man auch haben, um mit diesem Buch musikalisch und emotional ins Bel Paese abzutauchen. Längst gibt es eine entsprechende Liste bei Spotify, die dabei hilft.