„In einer dunkelblauen Stunde“ errichtet Peter Stamm „ein verwinkeltes Gedankengebäude“, in dem die Leserin „auf Entdeckungstour geht“
„Nicht der Autor erzählt, alle Menschen und Ereignisse erzählen.“
„Es geht beim Schreiben nicht darum, etwas zu machen, sondern etwas zu finden.“
„Die Wirklichkeit schreibt keine Geschichten. In der Fiktion kann man nicht leben, aber auch nicht sterben.“
Welche Erwartungen weckt Literatur? Wie wirkt sie? Wie kann man darüber reden? Fragen, die sich mir beim Lesen und Schreiben stellen und die während unserer Diskussionen im Literaturkreis oft große Verblüffung auslösen. Wer sich mit historischen Texten beschäftigt, neigt zur Analyse. Wer hat wann was wem und vor allen Dingen warum gesagt? Erst wenn dies geklärt ist, kann man Rückschlüsse ziehen und interpretieren. Bei einem literarischen Text allerdings kann die Analyse bereits die Interpretation sein, falls er so gebaut ist wie Peter Stamms Romane allemal. Die elende Gretchenfrage „was will uns der Autor damit sagen“ führt bei Stamm ins Labyrinth, Ariadnefaden nicht in Sicht.
Pünktlich zu seinem sechzigsten Geburtstag legt der Schweizer Peter Stamm seinen neuen Roman vor. Das Geschenk an sich selbst wie an seine Leser raunt geheimnisvoll „In einer dunkelblauen Stunde“ und ist in einem besonderen Papier verpackt, welches das Porträt „Peter Stamm“ der Malerin Anke Doberauer zeigt. Als Schriftsteller bekannt wurde Stamm durch sein Spiel mit der Metaebene in seinem ersten Roman „Agnes“. Auch seine nachfolgenden Texte zeigen dieses ihm eigene künstlerische Prinzip. In seinem Neuesten feiert er dies zu gegebenem Anlass besonders intensiv. Verlockt durch die vielen Verweise auf sein bisheriges Werk, die sich im neuen Roman finden, könnte man sagen, er bringt es zur Vollendung. Eine Deutung, die nicht nur in den ersten Zeilen des Romans anklingt, wo sie zugleich der Auftakt zu dem vom Autor beabsichtigten Verwirrspiel wird.
In diesem begegnen wir zunächst nur einen Augenblick lang dem Schweizer Schriftsteller Richard Wechsler, nomen est omen, um gleich darauf in den Kopf der Ich-Erzählerin Andrea einzutauchen, die ein Porträt des Autors dreht. Szenen dieses Films sehen wir durch ihre Augen, vor allem im ersten der insgesamt drei Teile des Romans. Sie spielen zunächst in Paris, dem Wohnort Wechslers, dann in dem Schweizer Dorf, wo er aufwuchs. Zwischen den Filmsequenzen erleben wir die Interaktionen des Filmteams, zu dem auch Andreas Lebensgefährte Tom zählt. Wir begleiten sie beim Leerlauf im Hotelzimmer. Dort schauen sie Videos, zum Beispiel jenes, das Menschen beim ersten Sprung vom Zehnmeterbrett zeigt. Andrea googelt nach Verflossenen und gleitet immer tiefer in Vergangenes und Fantastisches, „hinter jeder Geschichte stecken 100 andere“.
In einem Interview will Tom von Wechsler wissen, ob er der Erzähler in seinen Büchern sei. Andrea ist erstaunt über dieses naive wie ungehörige Vorgehen, doch vielleicht erinnert sich Tom nur an die erste Begegnung mit Wechsler. Dieser sagte damals über den Maler Félix Valloton, er gebe kaum Persönliches in seinen Werken preis. So scheint es auch Wechsler zu halten, seine Antwort auf Toms Frage lautet, „Das bin nicht ich, das sind sie, haben sie das denn gar nicht gemerkt?“
Spätestens hier überlegt die Leserin, wer ist Wechsler und wieviele Anteile hat er von Peter Stamm? Diese in der Literaturkritik verpönte Frage wird umso dringender, wenn der Figur Andrea „etwas Blaues“ an Wechsler auffällt, man das Buch zuklappt und Peter Stamms Porträt betrachtet. Die Gesichtszüge wirken in Doberauers Darstellung verschwommen, wie verborgen hinter einer Maske aus Folie mit blau gefleckten Rändern. Derartige Uneindeutigkeiten öffnen Interpretationsspielräume. Genau dies ist auch das Reizvolle an Stamms Literatur, seinen Figuren und an seiner Rolle als Autor.
Uneindeutiges erlebt seine Ich-Erzählerin, deren Interesse an Wechsler als Künstler und als Mann wächst, umso mehr er sich ihrem Filmprojekt entzieht. Im Heimatdorf des Schriftstellers warten Andrea und Thomas vergeblich auf ihn, der Film bleibt unvollendet. Dort erfahren sie aber von der Jugendliebe Wechslers. „Es ist eine vertrackte Geschichte, kein Autor würde sich trauen, so etwas zu erfinden.“ Und doch entdeckt Andrea Hinweise in Wechslers Werk. Ist sie versteckten Offenbarungen auf der Spur?
Anders als das Paar auf dem Zehnmeterturm, welches der Entschluss zu springen in ein gemeinsames Leben führt, bleiben Wechsler und seine Geliebte unentschieden. „Entscheide dich und bleib dabei“, gilt für sie ebenso wenig wie für Andrea oder den Verfasser des Romans. Stamm erlaubt sich und seinen Figuren viel Fantasie. Vor allem Andrea erfindet Geschichten, imaginiert Vergangenes, gestaltet alternative Handlungsverläufe. Sie oder vielleicht doch Stamm treiben dieses Spiel so weit bis sich der Autor und die Ich-Erzählerin in direkter Ansprache gegenüberstehen. Beim Lesen zieht einen diese kunstvolle Inszenierung in den Roman hinein, die Spekulationen der Ich-Erzählerin entfachen die eigene Fantasie.
Peter Stamm konstruiert seinen Roman mit vielen unterschiedlichen Textformen. Neben szenischen Beschreibungen, Dialogen und Innenschau der Erzählerin stehen Gedichte, Songtexte und zahlreiche Zitate. Mehrere Binnenerzählungen, darunter erotische Begegnungen aber auch eine Bürosatire, die alle Beziehungen zu diesem Roman oder anderen Texten des Autors haben, fügen sich ein. Stamm lässt sich beim Erfinden seiner Stoffe über die Schulter blicken, zeigt manchen Trick und Zettelkasten.
Wie funktioniert Literatur? Was passiert beim Schreiben und was beim Lesen? Welche Wirkung hinterlässt das Gelesene auf unterschiedliche Leser? Eine Antwort des Romans lautet, „Wenn wir über sie sprachen, hatte ich den Eindruck, wir hätten völlig verschiedene Geschichten gelesen.“
Einen weiteren Twist beschert der aktuelle Film „Wechselspiel“ über Peter Stamm und sein Schreiben von Georg Isenmann und Arne Kohlweyer.
Peter Stamm, In einer dunkelblauen Stunde, S. Fischer Verlag 2023