Streben nach Selbstgeißelung

In „Der gewöhnliche Mensch“ erzählt Lena Andersson Gesellschaftsgeschichte als Individualgeschichte

Er ging hin­aus in den Werk­raum, um sau­ber zu ma­chen, und fühl­te sich ein­sam, wäh­rend er dort stand und das Werk­zeug zu­rück an die rich­ti­gen Ha­ken häng­te. Er hat­te die Stim­mung ver­dor­ben, und es war an ihm, al­les wie­der­gut­zu­ma­chen. Er hat­te nicht dar­um ge­be­ten, so viel Macht zu ha­ben. Die Fa­mi­lie be­griff nicht, wie macht­los er sich fühl­te, wie tief ihn sei­ne Angst vor der Welt durch­drang, in der sie al­le vier leb­ten und er nichts an­de­res woll­te, als dass sei­ne Kin­der nicht vom Weg ab­ka­men. Er ver­such­te die Fall­gru­ben auf­zu­zei­gen, ih­nen recht­zei­tig klar­zu­ma­chen, dass es für nor­ma­le Men­schen kei­nen Spiel­raum zum Trö­deln und für Neu­an­fän­ge gab.“

Wer kennt nicht so eine*n? Ge­rech­tig­keit und Kor­rekt­heit ste­hen bei ihm an ers­ter Stel­le. Al­les wird re­gu­liert und re­gle­men­tiert. Er trinkt nicht, isst ge­sund, fährt nie weg und gibt kaum Geld aus. Sein Hang zur As­ke­se zeigt sich je­doch nicht nur im Kon­sum, son­dern auch im Den­ken, das durch in­ne­re Selbst­kon­trol­le auf engs­ten Bah­nen ver­läuft. Ein sol­ches Le­ben ver­kör­pert das pie­tis­ti­sche Ide­al des Schma­len Wegs. Steil und stei­nig führt er auf den An­dachts­bil­dern ganz nach oben, wo die Folg­sa­men im Him­mel das er­hof­fen, was sie sich auf Er­den ver­sa­gen. An­de­re fin­den auf be­que­me­ren Pfa­den Lust, Ge­nuss und Freu­de. Es mag sein, daß sie das pie­tis­ti­sche Pa­ra­dies nie er­rei­chen, doch wie heißt es so schön, der Weg ist das Ziel.

Rag­nar Jo­hans­son, der Held in Le­na An­ders­sons neu­em Ro­man „Der ge­wöhn­li­che Mensch“ lebt, ob­schon als schwe­di­scher So­zi­al­de­mo­krat athe­is­tisch, die kar­ge Va­ri­an­te. Am Bei­spiel die­ses Zeit­ge­nos­sen liest die zwi­schen Mit­leid und Ab­nei­gung schwan­ken­de Le­se­rin ei­ne Chro­nik der „schwe­di­schen Men­ta­li­täts­ge­schich­te der Mo­der­ne“. Rag­nars Toch­ter El­sa hat­te die Idee, den Va­ter für ei­ne Eth­no­lo­gi­sche Stu­die zu mel­den, wie wir im Pro­log er­fah­ren. Als dar­aus nichts wird, scheint Le­na An­ders­son in die selbst ge­schla­ge­ne Bre­sche zu sprin­gen und er­zählt im Haupt­teil an­hand von Rag­nars Le­ben die Ge­schich­te des Schwe­di­schen Volks­heim.

Den Wohl­fahrts­staat rich­te­te die Schwe­di­sche So­zi­al­de­mo­kra­tie im Jahr 1932 nach ih­rem Wahl­sieg ein. Ihn prä­gen bis heu­te Gleich­heit, Für­sor­ge und Hilfs­be­reit­schaft, aber auch ei­ne nicht zu un­ter­schät­zen­de Päd­ago­gik. Man den­ke nur an das staat­li­che Al­ko­hol­ver­kaufs­mo­no­pol als Re­vo­lu­ti­ons-Prä­ven­ti­on. „Dort, wo Angst vor den Aus­wir­kun­gen star­ker al­ko­ho­li­scher Ge­trän­ke auf die Ar­beits­leis­tung herrscht, müs­sen Ent­span­nung und Glück aus an­de­ren Quel­len kom­men.“ Al­so be­treibt Rag­nar schwe­di­sche Kaf­fee­kul­tur al­ler­dings we­ni­ger opu­lent als sei­ne Sah­ne­tor­ten auf­tür­men­de Mut­ter Svea. Der Sohn trinkt drei­mal am Tag zur im­mer­glei­chen Stun­de ei­ne Tas­se des am Mor­gen ge­brüh­ten Ge­tränks. Dar­über wie über das stets glei­che Früh­stück aus zwei Schei­ben Toast könn­te man la­chen, wenn es nicht so de­pri­mie­ren wür­de. Noch trau­ri­ger macht mich Rag­nar, der al­le sich bie­ten­den Chan­cen zu­rück­weist, um sei­nem Le­bens­plan zu fol­gen, wenn er die­se Selbst­be­schnei­dung durch groß­fah­ren­de Plä­ne für sei­ne Kin­der zu kom­pen­sie­ren sucht. Sport­ler­kar­rie­ren schwe­ben ihm vor und er stellt sich als Trai­ner ganz in de­ren Dienst, das ent­spricht sei­nem Leis­tungs­den­ken. Er muss im­mer et­was tun, das Le­ben zu ge­nie­ßen, kä­me ihm nicht in den Sinn.

An­ders­son glie­dert ih­ren Ro­man in drei Tei­le, die sie ih­ren Haupt­fi­gu­ren El­sa, Rag­nar und Svea wid­met. Wäh­rend Pro- und Epi­log nur we­ni­ge Sei­ten zäh­len, schil­dert der Kern des Ro­mans mit 259 Sei­ten die Ge­schich­te des Schwe­di­schen Volks­heim an­hand ei­nes Män­ner­le­bens, Sei­ten­bli­cke auf wei­te­re Fa­mi­li­en­mit­glie­der in­be­grif­fen. An­ders­son deckt da­durch zwar Ver­gan­gen­heit, Ge­gen­wart und ei­nen Blick auf die Zu­kunft der schwe­di­schen Ge­sell­schaft ab, aber die Er­zähl­kon­struk­ti­on bleibt bie­der. Sie be­ginnt in der Kind­heit von Groß­mutter Svea, die sich el­tern­los als Magd ver­dingt, schließ­lich ei­nen Fuhr­mann hei­ra­tet und Rag­nar zur Welt bringt. Die­sen be­glei­ten wir durch sei­ne Ju­gend und sei­ne ers­ten Aus­lands­rei­sen als Er­wach­se­ner. Wir er­fah­ren, wie aus dem Tisch­ler ein Werk­leh­rer wird und wie er schließ­lich ei­ne Fa­mi­lie grün­det. In die­se Vi­ta bin­det An­ders­son Er­run­gen­schaf­ten des schwe­di­schen Wohl­fahrts­staa­tes, zeigt aber auch des­sen Wi­der­sprü­che. Fa­mi­lie Jo­hans­son er­hält ei­ne der be­gehr­ten Neu­bau-Woh­nun­gen in der „zweck­dien­li­chen Vor­stadt Pa­ra­dies“. Mit den Jah­ren wird aus der Ide­al­sied­lung ein über­füll­ter Au­ßen­be­zirk, in dem die Frem­den­feind­lich­keit wächst. Ein Pro­blem, das An­ders­son nur an­deu­tet, streng aus der Per­spek­ti­ve des Leh­rers Rag­nar, der mit Kol­le­gen ge­gen die Über­frem­dung der Schu­le pro­tes­tiert. Mehr als die Fremd­heit sei­ner Schü­ler stört ihn die Un­kon­trol­lier­bar­keit und Un­plan­bar­keit die­ses Phä­no­mens. Er fühlt sich nicht mehr im Volks­heim ge­bor­gen, son­dern vom Staat al­lein­ge­las­sen. Als Mann der Mit­te sieht er sich ge­gen­über der Ober- und der Un­ter­schicht, der die um­fas­sen­de Für­sor­ge des Staa­tes gilt, benachteiligt.

An­ders­son schil­dert dies mit psy­cho­lo­gi­schem Ge­spür. Sie zeigt, wie die in pre­kä­ren Ver­hält­nis­sen wur­zeln­de Ein­stel­lung „sich sein Le­ben ver­die­nen zu müs­sen“ Rag­nar prägt. Dar­aus er­wach­sen Min­der­wer­tig­keit und Scham, die ihm die Freu­de an neu­en Er­fah­run­gen und das In­ter­es­se an an­de­ren Le­bens­ent­wür­fen ver­der­ben. Rag­nar wird streng, vor al­lem ge­gen­über sich selbst, er un­ter­drückt sei­ne Ge­füh­le, die manch­mal ex­plo­si­ons­ar­tig her­vor­schnel­len. Kaum scheint er der Em­pa­thie fä­hig und über­rascht doch, wenn er mit ei­nem Schü­ler, der sei­ne in­ti­men Ge­dan­ken ver­ber­gen möch­te, ei­ne ge­hei­me Schub­la­de baut. Rag­nars stren­ges Stre­ben nach ei­nem ge­re­gel­ten, an­ge­pass­ten Le­ben weicht nur dann auf, wenn der Tod un­kon­trol­lier­bar da­zwi­schen­tritt. Dann be­fürch­tet er, daß „das Le­ben nur ein lee­res Ge­fäß war, in das man ge­sperrt wur­de, bis man starb“. Als Ge­gen­stück zu Rag­nars Ri­gi­di­tät er­weist sich El­sa, die sich mit zu­neh­men­dem Selbst­be­wusst­sein von ih­rem Va­ter eman­zi­piert. Doch lei­der dringt An­ders­son nicht tie­fer in die­se Fi­gur. Auch Rag­nars Ehe­frau Eli­sa­bet und sein Sohn Erik blei­ben blass. Das ist scha­de, denn Le­na An­ders­son hat be­reits ge­zeigt, wie sie Per­so­nen durch de­ren in­ne­re Vor­gän­ge zum Le­ben er­we­cken kann.

Lena Andersson, Der gewöhnliche Mensch, übers. v. Antje Rávik Strubel, Luchterhand Literaturverlag 2022

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