Warum Anna Kims „Geschichte eines Kindes“ auch als Roman über das Recht auf Abtreibung gelesen werden kann
„Entweder belüge ich mich selbst und verleugne meine Herkunft, erklärte sie, oder – sie wollte sich nicht davon überzeugen lassen, dass ich in mir hauptsächlich mich selbst sah, weder eine Asiatin noch eine asiatische Österreicherin, sondern Fran, simply Fran (…)“
„Ich habe nie verstanden, warum die Herkunft meiner Mutter schwerer wiegen soll als die meines Vaters.“
Der nüchtern klingende Titel, „Geschichte eines Kindes“, entspricht der Form des neuen Romans von Anna Kim. Sie verknüpft darin die Erlebnisse der Ich-Erzählerin Franziska, einer österreichischen Autorin, die 2013 ein Jahr als Writer in Residence am St. Julian College in Green Bay verbringt, mit Akteneinträgen aus den 1950er Jahren. Diese schildern das Schicksal Dannys, eines zur Adoption freigegebenen Jungen unklarer Herkunft. Beide, Franziska und Danny, verbindet, daß sie jeweils Eltern mit starken äußerlichen Unterschieden haben. Dannys weiße, junge Mutter verschweigt die Identität des vermeintlich „nicht weißen“ Vaters. Franziska, Kind einer austro-asiatischen Verbindung, hat eine südkoreanische Mutter und einen Vater aus Österreich, das sie als Heimat- und Herkunftsland ansieht. Eine Geschichte, die sie zum Teil inklusive der damit verbundenen Identitätsfragen mit Anna Kim verbindet. Diese wurde 1977 in Südkorea geboren und lebt seit 1979 in Deutschland, später in Wien. Im Prolog ihres Romans betont sie die Authentizität ihres Stoffes, auf den sie, wie sie in einem Interview berichtet, in Green Bay, dem Geburtsort ihres Mannes gestoßen sei. Es lägen originale Akten vor, von denen sie jedoch vorwiegend den Sprachduktus übernommen habe, der Inhalt sei größtenteils fiktional.
Der Roman beginnt mit der Ankunft der Ich-Erzählerin in Wisconsin. Fran, wie sie sich selbst nennt, findet ein Zimmer im Haus von Joan, die sich später als Dannys Ehefrau vorstellen und Fran die Herkunftsgeschichte ihres Mannes erzählen wird. Danny selbst kann keine Auskunft mehr geben, er lebt an Alzheimer leidend in einem Pflegeheim. Umso intensiver berichten Akten, die schließlich in die Hände Frans gelangen, von diesen ungeklärten Umständen. Im Roman sind sie an drei Stellen in die Handlung eingefügt. Es sind Berichte des katholischen Sozialdienstes, angefertigt von der Sozialarbeiterin Marlene Winckler, die den zur Adoption freigegebenen Säugling vermitteln soll. Sie reichen von den Jahren 1953 bis 1959, beginnen mit dem Krankenhausaufenthalt des Säuglings nach der Geburt, ersten Verdachtsmomenten der Krankenschwestern und ärztlichen Untersuchungen, um die „Rasse“ des von Dannys Mutter geheim gehaltenen Erzeugers herauszufinden. Als Danny schließlich im Waisenhaus landet, bleibt diese Frage das größte Hindernis im Adoptionsverfahren. Ein disparates Äußeres zwischen Eltern und Kind würde die gewünschte „Harmonie in der Adoptionsfamilie“ unmöglich machen. Marlene Winckler versucht verbissen dem Eindringling in das „Wirtsvolk“ auf die Spur zu kommen. Wie sehr sie in ihren anthropologischen Wahn verstrickt ist, zeigt sich, wenn sie jedes Gegenüber ihren rassistischen Kriterien unterzieht, sogar den Pfarrer. Der zweite Akten-Block des Romans widmet sich nur am Rande der Vermittlung des Säuglings. Im Vordergrund steht immer noch die Aufdeckung der Vater-Identität, der sich die Sozialarbeiterin mit Stasi-Methoden widmet.
Kim erzählt eine interessante Geschichte, die gerade durch die eingeschobenen Berichte, Spannungsmomente bietet. Im zweiten Teil des Romans erzeugt allerdings ein essayartiger Einschub, der sich unter dem Titel „Wie vermisst man einen Menschen“ fassen ließe, einige Längen. Er behandelt die anthropologischen Forschungen seit dem 19. Jahrhunderts, berichtet von Josef Weininger, Gustav Le Bon und der Pionierin der Sozialen Arbeit Ilse Arlt.
Auffällig an Anna Kims Stil ist der Einsatz von Motiven, die verschiedene Handlungsebenen und Figurenpaare miteinander verknüpfen. So benutzt sie das Motiv der Farbe nicht nur in seiner offensichtlichen Funktion als Farbe der Haut. Sie zeigt mit Farben Stimmungen und Einstellungen ebenso, wie die Macht, die von ihnen ausgeht. Joans Haus, das ursprünglich im Besitz von Dannys Mutter war, zeigt helle Beigetöne, genau wie Joans Kleidung. Fran hört Dannys Geschichte zum ersten Mal im weiß verschneiten Garten, wo gelbgrüne Blätter so fremdartig erscheinen, daß sie sie berühren will. Und dann gibt es noch das Bild mit den Kois, die knallorange von weißem Hintergrund herausstechen. Farbe kann integrieren, aber auch separieren.
Noch stärker setzt Kim das Muttermotiv ein. In Varianten erzeugt sie Parallelführungen bei insgesamt fünf Mutter-Kind-Paaren, in denen die Mütter eine vermeintlich fatale Rolle einnehmen. Frans südkoreanische Mutter Ha lässt ihre Tochter in Österreich zurück, weil sie nur in der Heimat sie selbst sein kann. Dannys zu junge Mutter Carol gibt ihren unehelichen Sohn im bigotten Wisconsin der 50er Jahre zur Adoption frei. Joans Mutter verlässt ihren Mann und die neunmonatige Tochter wegen Überforderung. Marlenes Mutter stirbt. Marlene beschäftigt sich lieber mit ihren Studien als mit ihrer Tochter Silvia. Diese Mütter, „die lieber keine gewesen wären“, scheitern an den gesellschaftlichen Umständen ihrer Zeit. Manches dieser Kinder hätte nicht geborenen werden müssen, wäre der medizinische und gesellschaftliche Fortschritt auf der Seite der Frauen gewesen.
Die beiden wichtigsten Paare des Romans sind jedoch kein reines Mutter-Kind-Duo. Es handelt sich um Danny und Joan, denen Fran und Ha gegenübergestellt werden. Danny und Ha erfahren die Ausgrenzung. Fran und Joan teilen die Erfahrungen von Scham und Schuld. Beide ertragen die Fremdheit nicht, Fran nicht die ihrer Mutter, Joan nicht die ihres Ehemanns, und leiden darunter. Um das Gemisch von Scham und Schuld zu bewältigen, nutzen sie die gleiche Verdrängungsstrategie, sie verstauen ihre Erinnerungen in Schachteln, die sie unter Bett und Kommoden schieben. Kim zeichnet ihre Figuren stets ambivalent, so fühlt sich Fran als Opfer der Fremdeinschätzung, aber zugleich verantwortlich für die Flucht ihrer Mutter.
Dennoch gibt es einige Details, die den Roman überfrachten, und Fäden, die nicht weiterverfolgt werden. Warum erwähnt Joan eine wahnsinnige Cousine und eine schizophrene Tante? Welche Rolle spielt Silvias Affäre? Warum nennt sich Frans Großmutter Barbara anstatt Hilde?
Bisweilen hatte ich während der Lektüre das Gefühl, einem steten moralischen Hämmerchen ausgesetzt zu sein. Schon der Prolog ist stark mit Pathos aufgeladen. Muss das Haus von Danny und Joan ausgerechnet Cuckoo’s Nest heißen? Und muss uns Lesern aus dem Mund von Dannys Adoptivmutter die richtige Einstellung vermittelt werden? Es ist schade, daß Anna Kim ihren Leserinnen zu wenig zutraut.
Nichtsdestotrotz sind dem Roman viele Leser zu wünschen. Die Frage der Identität und welche Rolle der Blick der Anderen dabei spielt, gehen jeden etwas an. Die Einordnung als „scheinbar Ausheimischer“ beschränkt die Freiheit, der zu sein, der man sein will. Joans Behauptung, „Den Wurzeln entkommt man nicht“, steht Dannys Bitte entgegen, ihn so zu akzeptieren, wie er ist. Frans Überlegung, ob sie als „einfarbige Famile“ intakt geblieben wären, konterkariert das Schicksal von Silvia und Marlene.
Anna Kims Roman „Geschichte eines Kindes“ ist ein Plädoyer gegen Zuordnungszwang und Schubladendenken, das die Geschlechterrollen mit einbezieht. Er tritt auch ein für das Recht der Frau auf ihren Körper und die Entscheidung, was damit geschieht, schwanger zu sein oder es nicht zu bleiben, und kann damit als Kritik an der neuesten US-amerikanischen Rechtslage gelesen werden.