In „Toko“ erzählt Erwin Uhrmann von Weltuntergang und Zivilisationsverdruss
„Was, wenn die Welt für uns genau so zerfällt, wie für diesen Riesen. Das Fundament all dessen, was er als sicher empfand, wurde gerade gesprengt. Am liebsten wäre er unter den Saurier gekrochen und hätte sich versteckt.“
Saurier spielen die ihnen naturgemäß große Rolle in Erwin Uhrmanns neuem Roman „Toko“. Seine Liebe für skurrile Tiere bewies der österreichische Schriftsteller bereits in seinen 2014 erschienen Roman „Ich bin die Zukunft“, der mich sehr beeindruckte. Während dort schillernde Neuzeitkäfer die überhitzte Landschaft bevölkern, verlieren im neuen Werk „Toko“ Urzeittiere ihren letzten Glanz. Die Geschichte führt den Leser jedoch nicht, wie man meinen könnte, in eine weit zurückliegende Vergangenheit, sondern in einen maroden Saurierpark im weiteren Umkreis Wiens.
Dort steht das Modell eines Dinosauriers, der als Littlefoot in einem Zeichentrickfilm Furore machte. Nun ziert er das Cover des Romans.
Heißt Littlefoot hier jetzt Toko? Oder bedeutet Toko etwas ganz anderes? Im Griechischen heißt die Schwangerschaft Toko, ein renommiertes Schweizer Ski-Wachs trägt diesen Namen, ebenso wie der dänische Wilhelm Tell, es existiert eine Vogelart dieses Namens, ein Fußballspieler, ein Twitteraccount und tatsächlich hört auch ein Hund auf ihn, wie eine Internetsuche offenbart.
Auch der Hund im Roman heißt Toko. Oder ist es vielleicht gar kein Hund, wie der Klappentext raunt? Später wird sogar von einem weiteren Toko die Rede sein, dem Gründer und Inhaber des Parks. Doch auch diese Information zerstreut nicht die Skepsis der Leserin. Vielleicht ist Toko doch etwas ungleich Größeres, wie es das Cover suggeriert?
Die Suche nach ihm bringt Daniela, die Leiterin des Saurierparks, mit der Hauptfigur Erich zusammen. Erich ist nur für ein paar Tage in Irrlitz, einem kleinen, tief im Wald gelegenen Ort. Bald wird er weiterreisen, eine Dozentur in Bath erwartet ihn. Bis dahin und um dem Silvestertrubel in Wien zu entgehen, wohnt er alleine im Ferienhaus von Freunden. Doch die von ihm geruhsam geplanten Tage zwischen den Jahren verlaufen nicht wie erwartet.
Worum geht es in dieser Geschichte, wo die kalten Tage in Irrlitz für Erich zum Irrwitz werden, da die Heizung durch sein Verschulden und die Kälte krepiert, Erich bei Daniela ein Notquartier findet und ihr schließlich im Saurierpark hilft? Ein wesentliches Motiv ist wie auch im Vorgängerroman die Apokalypse.
Weltuntergangsszenarien sind das „schrullige Forschungsthema“ des Literaturwissenschaftlers Erich, der ‑absurd genug- seinen für Orchideenfächer so seltenen Auslandsaufenthalt den historischen Anfängen des englischen Küstenschwunds verdankt. Sie sind für ihn die übersehenen ersten Anzeichen der Klimakatastrophe, die unseren Lebensraum und unsere Lebensform vernichten wird. Nicht anders erging es vor Urzeiten den Dinosauriern.
Ihre steinernen Abbilder im Saurierpark in Irrlitz hatte Erich in seiner Kindheit ehrfürchtig bewundert. Sie waren für ihn der Anstoß zu seinen Studien. „Der Triceratops war sein Symbol für die Weltuntergangsforschung. Einmal hatte er einer Kollegin erzählt, für dieses Tier sei die Welt untergegangen und man müsse sich also den Weltuntergang immer als persönliche Tragödie vorstellen.“ Der anschließende Disput mündete in der Frage, ob der Mensch imstande sei, sich als Teil einer Spezies zu begreifen und sein Verhalten am Primat ihres Überlebens auszurichten? Oder führe gerade die Kultur, durch die sich Mensch und Tier unterscheidet, dazu eine Spur zu hinterlassen? So sieht es die Philosophin und zitiert Horaz‘ Ode an Melpomene, die den Apokalyptiker Erich einst zum Schreiben, zur persönlichen Hinterlassenschaft, inspirierte.
Spätestens hier fragt sich die Leserin, wieviel die Figur Erich mit dem Schriftsteller Erwin verbindet, abgesehen von den ersten beiden Buchstaben des Vornamens. Nicht nur der Spott über neunmalkluge Museumsbesucher, auch die eindrucksvollen Reiseszenen aus Isfahan, scheinen auf persönlichen Erfahrungen zu deuten.
Was bleibt also, wenn der Einzelne nicht mehr ist? Monumente, Artefakte, Schriftliches und jenseits des Materiellen die Erinnerung. Eingeordnet und gewürdigt wird dies alles jedoch nur, solange noch jemand existiert, ein Mitglied der eigenen Spezies oder eine andere Intelligenz. Anderenfalls wird diese Welt endgültig untergegangen sein.
„Was, wenn die Welt für uns genauso zerfällt, wie für diesen Riesen“, sinniert Erich, während er mit Daniela den Triceratops inspiziert. Der weitere Rundgang führt sie zum Archäopterix, den zum Klettergerüst verkommenen Lystrosauriern, zum Säbelzahntiger, der seinem Namen nicht mehr gerecht wird, und zum Brachiosaurus, womit das Geheimnis der Saurierart auf dem Cover geklärt wäre.
Das Geheimnis um Toko jedoch bleibt, auch wenn schließlich ein Hund auftaucht, den Daniela so nennt. Uhrmann spielt mit der Uneindeutigkeit, auf seinen Protagonisten Erich kann man sich nicht verlassen. „Es war schon vorgekommen, dass er an Dingen festhielt, die er glaubte, getan zu haben, die er aber nur in seiner Fantasie getan hatte.“ Präzise fallen hingegen seine Wahrnehmungen und Beobachtungen aus, wie die detaillierten Schilderungen eines zögerlichen Händedrucks oder des Geruchs von geschnittenem Holz.
Gerne verfolgt man das Geschehen in Irrlitz, diesem aus der Welt gefallenen und von Johanna Uhrmann illustriertem Reservat für seltsame Gestalten. Den Roman durchzieht eine Spannung, die der Autor durch mysteriöse Figuren und Ereignisse sowie durch gelegentliche Gruselmomente aufrecht zu erhalten weiß. Auch fehlt es ihm nicht an Sarkasmus, sobald er die Gesellschaft charakterisiert. „Österreich, dieses Land, in dem man immer nur nach dem Fehler im Bild suchte, und all jene, die das nicht taten, meinten, in einem perfekten Bild zu leben, in einem Barockgemälde mit drallen Engeln und Heiligen.“ Ein Paradebeispiel ist die wachsame Nachbarin Gruber.
Der Roman „Toko“ ist trotz der Geheimnisse und trotz des verwunschenen Handlungsorts ganz aktuell. Nicht nur Verweise auf Brexit, Snapchat und „Tweets wahnsinniger Politiker“ machen dies deutlich. Im Vordergrund steht Uhrmanns Kritik an einer immer gleichgültiger werdenden hedonistischen Gesellschaft. Die Folgen, Klimakatastrophe und Untergang, sind unverkennbar seine Anliegen. Erwin Uhrmann scheint, nicht zuletzt durch einen Rückblick auf den Pariser Frühling 1968 mit der Parole „Il est interdit d’interdire“, dazu aufzurufen, sich die Freiheit zu nehmen, dagegen zu kämpfen.