Dunkelblumer Heimatsagen

In ihrem Roman „Dunkelblum“ erzählt Eva Menasse eine alte Geschichte auf neue Weise

In Dun­kel­blum ha­ben die Mau­ern Oh­ren, die Blü­ten in den Gär­ten ha­ben Au­gen, sie dre­hen ih­re Köpf­chen hier­hin und dort­hin, da­mit ih­nen nichts ent­geht, und das Gras re­gis­triert mit sei­nen Schnurr­haa­ren je­den Schritt. Die Men­schen ha­ben im­mer­zu ein Ge­spür. Die Vor­hän­ge im Ort be­we­gen sich wie von lei­sem Atem ge­trie­ben, ein und aus, le­bens­not­wen­dig. Je­des Mal, wenn Gott von oben in die­se Häu­ser schaut, als hät­ten sie gar kei­ne Dä­cher, wenn er hin­ein­blickt in die Pup­pen­häu­ser sei­nes Mo­dell­städt­chens, das er zu­sam­men mit dem Teu­fel ge­baut hat zur Mah­nung an al­le, dann sieht er in fast je­dem Haus wel­che, die an den Fens­tern hin­ter ih­ren Vor­hän­gen ste­hen und hinausspähen.“

In den ers­ten Sät­zen ih­res neu­en Ro­mans cha­rak­te­ri­siert Eva Men­as­se tref­fend die At­mo­sphä­re von „Dun­kel­blum“. Im ös­ter­rei­chi­schen Bur­gen­land liegt das fik­ti­ve „Mo­dell­städt­chen“, wel­ches die Au­torin mit sa­ta­ni­scher Schreiblust und gött­li­chem Dich­ter­geist ge­schaf­fen hat, qua­si in Personalunion.

His­to­risch grün­det ih­re Ge­schich­te auf dem Mas­sa­ker von Rech­nitz. In dem Ort wur­den in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 an die 200 Men­schen er­schos­sen, wäh­rend der Graf im Schloss mit der Na­zi­pro­mi­nenz fei­er­te. Die Über­res­te der Op­fer wur­den nie ge­fun­den. Die Tä­ter ent­gin­gen ih­rer Stra­fe dank ef­fi­zi­en­ter Lokalamnesie.

Das Ver­ges­sen oder bes­ser das Nicht­er­in­nern­wol­len herrscht auch in Dun­kel­blum. Der Ort, so Men­as­se in ei­nem In­ter­view, ste­he nicht al­lein für das ös­ter­rei­chi­sche Bur­gen­land, wo hun­der­te Zwangs­ar­bei­ter im na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­zweif­lungs­pro­jekt „Süd­ost­wall“ zu To­de ge­schun­den wur­den, son­dern für al­le Or­te, wo die Un­ta­ten der Na­zi­herr­schaft ver­gra­ben und ver­ges­sen sind.

Der Ro­man spielt im Au­gust des Jah­res 1989 und doch scheint die Zeit seit Jahr­zehn­ten „im Grun­de ste­hen ge­blie­ben“, denn die al­ten Ge­sell­schafts- und Ge­sin­nungs­struk­tu­ren le­ben fort. Zwar sind die Ewig­gest­ri­gen „Dun­kel­blu­mer Hei­mat­sa­gen“ weiterlesen

Mangelmann auf Schlingerkurs

In seinem neuen Roman „Bei Regen im Saal“ überwindet Genazino die Zumutungen des Alltags

Genazino_978-3-446-24596-9_MR1.inddVon Be­ruf war ich Re­zep­tio­nist, ge­le­gent­lich Bar­mi­xer, aber in letz­ter Zeit ar­bei­te­te ich über­wie­gend als Über­win­der. Ich half Men­schen, ih­re zu­wei­len auf­dring­li­chen oder dümm­li­chen Er­leb­nis­se schnel­ler als ge­wohnt zu ver­ges­sen. Ich ging mit den Leu­ten spa­zie­ren, wir be­such­ten Floh­märk­te, wir schau­ten uns Kunst­aus­stel­lun­gen an und re­de­ten über sie. Ich gab den Men­schen Tipps für Er­leb­nis­se, die ih­nen al­lein ge­hör­ten. (…) Das meis­te, was Men­schen heu­te zu­stieß, er­leb­ten sie als Teil ei­ner rie­si­gen Mas­se; des­we­gen konn­te man al­len­falls von Kon­fek­ti­ons­er­leb­nis­sen sprechen.“

Der Ich-Er­zäh­ler, des­sen Vor­na­men Rein­hard der Le­ser erst ge­gen En­de er­fährt, ist nicht der ein­zi­ge Mann im neu­en Ro­man Bei Re­gen im Saal von Wil­helm Gen­a­zi­no. Zwei wei­te­re männ­li­che Ne­ben­fi­gu­ren, oder bes­ser Ne­ben­buh­ler, be­ein­flus­sen das Schick­sal des Mit­te Vier­zig­jäh­ri­gen, der oft­mals schon viel äl­ter wirkt.

Rein­hard lebt in ei­ner Zwei­er-Be­zie­hung mit Son­ja ei­ner Fi­nanz­be­am­tin im ge­ho­be­nen Dienst. Trotz ge­trenn­ter Woh­nun­gen be­fin­det sich ihr Ver­hält­nis in ei­nem „Man­gel­mann auf Schlin­ger­kurs“ weiterlesen

Sensation Seeking im Hinterland

Das Leben, wie es wirklich ist — „Grenzgang“ von Stephan Thome

Die fi­na­le Ant­wort gibt es so­wie­so nicht, hat er frü­her sei­nen Stu­den­ten ge­sagt. Kei­ne For­mel, in die sich fas­sen lie­ße, was wir tun und war­um. Es gibt nur die Su­che und manch­mal das Finden.“

Sen­sa­ti­on See­king ist ein Be­griff aus der Per­sön­lich­keits­psy­cho­lo­gie. Er be­schreibt die Ver­hal­tens­dis­po­si­ti­on von Men­schen, de­ren Wohl­ge­fühl von sti­mu­lie­ren­den Rei­zen ab­hängt. Dies kön­nen ris­kan­te Sport­ar­ten sein, Rei­sen ins Un­be­kann­te, un­kon­ven­tio­nel­le Sex- oder Dro­gen­er­fah­run­gen oder auch so­zi­al ent­hemm­te Sauf­ge­la­ge. Sol­che Sen­sa­ti­on See­kers sind die Haupt­fi­gu­ren in Ste­phan Tho­mes Ro­man „Grenz­gang“ nicht. Sie sind scheu zu­rück­hal­tend und su­chen doch Kicks aus ih­rem als lang­wei­lig emp­fun­de­nen Le­ben. Sie be­ge­hen Klein­de­lik­te, kau­fen sich die Schrän­ke voll, tref­fen Ver­ab­re­dun­gen auf Sing­le­sei­ten oder er­kun­den ei­nen Swin­ger-Club. Wer die­se Art von Span­nungs­stei­ge­rung nicht be­nö­tigt, und das wird der Groß­teil der Ber­gen­städ­ter sein, fin­det sei­nen Aus­gleich im Grenz­gang. Bei die­sem Volks­fest wird drei Ta­ge lang viel ge­wan­dert und ge­trun­ken. Es bil­det den Hand­lungs­rah­men und prägt die Struk­tur des Ro­mans. In sei­nem Sie­ben-Jah­res-Rhyth­mus wer­den die Ent­wick­lun­gen der Er­eig­nis­se und der Per­so­nen be­leuch­tet. Al­ler­dings be­gnügt sich Thome nicht mit ei­ner chro­no­lo­gi­schen Er­zähl­fol­ge. Der Grenz­gang gibt le­dig­lich die Zeit­sprün­ge vor, mit de­nen die Er­in­ne­run­gen durch das Ge­sche­hen navigieren.

Ber­gen­stadt, der Hand­lungs­ort des Ro­mans, ist die Fik­ti­on von Bie­den­kopf, ei­nem Ort im hes­si­schen Hin­ter­land na­he Mar­burg. Ste­phan Thome ist dort ge­bo­ren und auf­ge­wach­sen. Er kennt sich aus mit den Ge­pflo­gen­hei­ten des Grenz­gangs, aber auch mit dem Ge­fühl, in die­sem Hin­ter­land zu le­ben. Zwar liegt die Uni­ver­si­täts­stadt Mar­burg nicht weit ent­fernt, bleibt al­ler­dings be­schau­lich hin­ter Frank­furt und Köln zu­rück. Wer et­was er­le­ben will, muss dort hin oder am bes­ten gleich nach Ber­lin. Wie es ist von dort kom­mend in Ber­gen­stadt zu stran­den, er­fah­ren wir wech­sel­wei­se von der ein­ge­hei­ra­te­ten Kers­tin Wer­ner und von Tho­mas Weid­mann, ei­nem Mann, der an Welt und Wis­sen­schaft ge­schei­tert sich auf sein Kind­heits­ter­rain be­sinnt, um „ein Le­ben (zu) be­gin­nen, das er nie ge­wollt hatte“.

Kers­tin lernt 1985, beim ers­ten Grenz­gang des Ro­mans, der wie al­le fol­gen­den aus er­zäh­le­ri­schen Grün­den dem rea­len ein Jahr vor­aus eilt, ih­ren künf­ti­gen Ehe­mann Jür­gen ken­nen. Oder bes­ser ih­ren Ex-Mann, denn nach ei­nem Kind und zwei wei­te­ren Grenz­gän­gen trennt sich das Paar. Kers­tin bleibt in Ber­gen­stadt. Sie küm­mert sich um ih­re de­men­te Mut­ter und sorgt sich um den pu­ber­tie­ren­den Sohn. Just auf dem Grenz­gang, der das En­de ih­rer Ehe be­sie­gelt, kommt sie Tho­mas nä­her. Die­ser war nach dem Aus sei­ner aka­de­mi­schen Kar­rie­re Hals über Kopf nach Ber­gen­stadt auf­ge­bro­chen. Dort trifft er beim Er­klim­men der steils­ten Grenz­etap­pe auf Kers­tin. Nach dem Fest ver­lie­ren sich aus den Au­gen. Erst beim fol­gen­den Grenz­gang neh­men sie den Kon­takt wie­der auf. Es ist 2006, das Jahr der Fuß­ball­welt­meis­ter­schaft, ein Er­eig­nis, das Thome spöt­tisch streift. „Ge­set­ze schei­nen am Werk zu sein in der Art, wie die Leu­te plötz­lich die­se Welt­meis­ter­schaft nicht fei­ern, son­dern sich ihr hin­ge­ben, als wä­re der freie Wil­le ei­ne Er­fin­dung, die der Welt noch be­vor­steht.“ Die­ses Jahr ist die Aus­gangs­ba­sis der Hand­lung, von dort folgt der Er­zäh­ler den Er­fah­run­gen von Kers­tin und Thomas.

Thome schil­dert das Er­le­ben sei­ner Fi­gu­ren sehr ein­dring­lich. Es wird nach­voll­zieh­bar, wel­che Ge­füh­le Tho­mas da­zu trei­ben die Fens­ter­schei­be des In­sti­tuts ein­zu­wer­fen, eben­so wie Kers­tin den Mut zu ei­nem Be­such beim scheu­en Tho­mas fasst. Die Zeich­nung der Fi­gu­ren ge­schieht mit gro­ßer Em­pa­thie. Dies wird je­doch nie­mals ge­füh­lig, son­dern bleibt mit fei­ner Iro­nie auf dem Bo­den des Lebensnahen.

Dies be­ein­druckt mich sehr. Noch grö­ße­ren Re­spekt ver­langt die durch­dach­te Kon­struk­ti­on des Ro­mans. Die Fä­den zwi­schen den Grenz­gän­gen wer­den fein hin und her ge­spon­nen, oh­ne wir­re Kno­ten er­ge­ben sie ein aus­ge­fal­le­nes Mus­ter, dem man ger­ne folgt.

Die Ge­schich­te en­det im Jahr 2013. Den Ro­man be­en­det ein Epi­log, der die wich­tigs­te Se­quenz in die­sem lan­gen Su­chen und Zu­ein­an­der­fin­den er­zählt. Ganz un­sen­ti­men­tal aber spek­ta­ku­lär folk­lo­ris­tisch, ein über­zeu­gen­der Ab­schluss des kunst­vol­len Konstrukts.

Ste­phan Thome be­fand sich mit die­sem Ti­tel 2009 auf der Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses. Auch in die­sem Jahr war er dort ver­tre­ten mit sei­nem zwei­ten Ro­man „Flieh­kräf­te“.

Ei­ne wei­te­re Re­zen­si­on und ei­ne en­ga­gier­te Teil­neh­men­de Be­ob­ach­tung des dies­jäh­ri­gen Grenz­gangs fin­det sich bei Schö­ne­Sei­ten.