Mangelmann auf Schlingerkurs

In seinem neuen Roman „Bei Regen im Saal“ überwindet Genazino die Zumutungen des Alltags

Genazino_978-3-446-24596-9_MR1.inddVon Be­ruf war ich Re­zep­tio­nist, ge­le­gent­lich Bar­mi­xer, aber in letz­ter Zeit ar­bei­te­te ich über­wie­gend als Über­win­der. Ich half Men­schen, ih­re zu­wei­len auf­dring­li­chen oder dümm­li­chen Er­leb­nis­se schnel­ler als ge­wohnt zu ver­ges­sen. Ich ging mit den Leu­ten spa­zie­ren, wir be­such­ten Floh­märk­te, wir schau­ten uns Kunst­aus­stel­lun­gen an und re­de­ten über sie. Ich gab den Men­schen Tipps für Er­leb­nis­se, die ih­nen al­lein ge­hör­ten. (…) Das meis­te, was Men­schen heu­te zu­stieß, er­leb­ten sie als Teil ei­ner rie­si­gen Mas­se; des­we­gen konn­te man al­len­falls von Kon­fek­ti­ons­er­leb­nis­sen sprechen.“

Der Ich-Er­zäh­ler, des­sen Vor­na­men Rein­hard der Le­ser erst ge­gen En­de er­fährt, ist nicht der ein­zi­ge Mann im neu­en Ro­man Bei Re­gen im Saal von Wil­helm Gen­a­zi­no. Zwei wei­te­re männ­li­che Ne­ben­fi­gu­ren, oder bes­ser Ne­ben­buh­ler, be­ein­flus­sen das Schick­sal des Mit­te Vier­zig­jäh­ri­gen, der oft­mals schon viel äl­ter wirkt.

Rein­hard lebt in ei­ner Zwei­er-Be­zie­hung mit Son­ja ei­ner Fi­nanz­be­am­tin im ge­ho­be­nen Dienst. Trotz ge­trenn­ter Woh­nun­gen be­fin­det sich ihr Ver­hält­nis in ei­nem fest­ge­fah­re­nen Zu­stand. Selbst­kri­tisch er­kennt er die Ge­fahr, die ihn eben­so be­un­ru­higt wie die Angst von Son­ja ver­las­sen zu wer­den. „Wenn ich mich nicht täusch­te (ich täusch­te mich nicht), dann lieb­te sie mich, und wenn ich mich im­mer noch nicht täusch­te (ich täusch­te mich im­mer noch nicht), dann lieb­te ich sie eben­falls. Wir hat­ten uns des­sen schon öf­ters ver­si­chert, und je­des Mal freu­ten wir uns, dass wir un­ser Ge­ständ­nis schon kann­ten.“ Wäh­rend Son­ja zur „So­cken­auf­se­he­rin“ mu­tiert und der Öd­nis ih­res Be­rufs durch Wei­ter­bil­dung zu ent­flie­hen ver­sucht, sorgt sich Rein­hard, daß er „die­se Duld­sam­keit viel­leicht nicht für al­le Zeit auf­brin­gen“ könne.

Er be­geg­net Frau­en, die viel­leicht bes­ser zu ihm pas­sen. Die, wie er, ei­ne ge­wis­se Zwie­späl­tig­keit zei­gen und ei­ne Kul­tur­sucht, die „beim Über­win­den der schnell­ver­derb­li­chen Zeit“ hilft. Son­ja ist schließ­lich sei­ne Un­ent­schie­den­heit und zu­neh­men­de Ver­wahr­lo­sung leid. Sie sucht das Ehe­glück mit ei­nem Bü­ro­kol­le­gen. Doch liegt der Grund, wie Rein­hard ver­mu­tet, tat­säch­lich an sei­ner pre­kä­ren Be­rufs­si­tua­ti­on? Nach „über­lan­gem Phi­lo­so­phie­stu­di­um“ ver­dient er im Ho­tel­ge­wer­be sein Brot, wäh­rend sei­ne wah­re Pro­fes­si­on im Über­win­den liegt. Da­bei hel­fen Er­in­ne­run­gen an die Kind­heit, kul­tu­rel­le Zer­streu­ung und Be­ob­ach­tun­gen auf Spa­zier­gän­gen. Die „na­tür­li­che Krank­heit des In­ne­hal­tens“ macht er zur Strategie.

Ein der­ar­ti­ger Held, der mal als Über­win­der mal als Apo­ka­lyp­ti­ker auf­tritt, ist er­fah­re­nen Gen­a­zi­no Le­sern be­kannt. Eben­so wie Frau­en und de­ren Bu­sen, trost­spen­den­des Es­sen und vie­ler­lei Ge­tier die Ro­man­wel­ten des Au­tors be­völ­kern, über de­ren Zu­stan­de­kom­men sich in Idyl­len in der Halb­na­tur le­sen lässt, ei­ner Samm­lung von Es­says, Re­den und Vor­le­sun­gen. Un­ent­schie­den schlin­gern sei­ne Prot­ago­nis­ten zwi­schen Sehn­sucht und Er­in­ne­rung und su­chen ganz im Freud’schen Ges­tus Halt am müt­ter­li­chen Bu­sen. Wäh­rend die Mut­ter als Idol ver­ehrt wird, bleibt der Va­ter in ne­ga­ti­ver Un­schär­fe, was mich sehr an Trei­chels „Frü­he Stö­rung“ er­in­nert. Auch mit des­sen Fi­gur hat­te ich Mit­leid bei gleich­zei­tig größ­tem Amüsement.

Wäh­rend Trei­chel das In­di­vi­du­el­le be­schreibt, be­ob­ach­tet Gen­a­zi­no die Ge­sell­schaft und ent­larvt ih­re Ein­sam­keit und Hilf­lo­sig­keit in der Nor­ma­li­tät. Als Ver­gleich führt sein Held die Bil­der Ed­ward Hop­pers an, die Di­stanz und Ver­lo­ren­heit dar­stel­len. Gen­a­zi­no fügt Kri­tik an der Spie­ßig­keit der Nor­ma­li­tät, am An­ge­stell­ten­da­sein wie am Uni­ver­si­täts­be­trieb und Pro­vinz­jour­na­lis­mus hinzu.

Sein Ich-Er­zäh­ler, der zur ra­ren Spe­zi­es des „un­ter Na­tur­schutz ste­hen­den Man­gel­man­nes“ zählt, ver­sucht mit Kunst und Phan­ta­sie der Ge­gen­wart zu ent­flie­hen, durch de­ren Di­ckicht er sich bis­wei­len mit „Ho­sen­ta­schen­krü­meln“ den Weg mar­kiert. Doch es hilft nichts. Es scheint nur Tie­ren ge­lingt es, dem Hams­ter­rad des Le­bens zu ent­flie­hen, denn „kein Mensch be­kommt das, was er braucht oder nur ge­le­gent­lich. (…) Kein Kind hat die pas­sen­den El­tern, kei­ne Frau fin­det den Mann, mit dem sie dann wirk­lich le­ben will, über­haupt will kein Mensch dort­hin, wo er hinmuss, …“

Schließ­lich trifft Rein­hard ei­nen eins­ti­gen Uni-Be­kann­ten und er­hält wie die­ser ei­ne Re­dak­teur­stel­le bei ei­nem Pro­vinz­blatt. Er hofft durch die­ses Ab­wei­chen vom „Schlin­ger­kurs sei­ner Exis­tenz“ wie­der bei Son­ja zu lan­den, was auch ge­lingt. Aus dem hoch­sen­si­blen Man­gel­mann, des­sen größ­te Angst es ist nicht da­zu zu ge­hö­ren, wird der Lieb­ha­ber ei­ner ver­hei­ra­te­ten Frau.

In die­sem neu­es­ten Werk Wil­helm Gen­a­zi­nos ha­ben mir be­son­ders die in tref­fen­den Sät­zen ge­schil­der­ten All­tags­an­sich­ten ge­fal­len. Den­noch be­fie­len mich bei al­ler Be­geis­te­rung ei­ni­ge Ir­ri­ta­tio­nen. Schon bei den Bei­schlaf­be­schrei­bun­gen, be­kannt aus sei­nen Bü­chern, wuss­te ich manch­mal nicht, ob ich la­chen oder wei­nen soll­te. Viel­leicht ist ja ge­nau dies die Ab­sicht? Was ich je­doch mit dem „heim­li­chen“ Wunsch manch­mal „KZ-In­sas­se“ ge­we­sen zu sein an­fan­gen soll, bleibt mir eben­so rät­sel­haft wie die durch ein „Ne­ger­kind“ aus­ge­lös­te Fleck­furcht. Viel­leicht ei­ne Stel­lung­nah­me zur un­se­li­gen Cau­sa Preuß­ler oder zur pe­ne­tran­ten Po­li­ti­schen Korrektheit?

Es blei­ben für mich of­fe­ne Fra­gen ei­nes le­sens­wer­ten Romans.

Wil­helm Gen­a­zi­no, Bei Re­gen im Saal, Han­ser Ver­lag, 1. Aufl. 2014

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