In seinem neuen Roman „Bei Regen im Saal“ überwindet Genazino die Zumutungen des Alltags
„Von Beruf war ich Rezeptionist, gelegentlich Barmixer, aber in letzter Zeit arbeitete ich überwiegend als Überwinder. Ich half Menschen, ihre zuweilen aufdringlichen oder dümmlichen Erlebnisse schneller als gewohnt zu vergessen. Ich ging mit den Leuten spazieren, wir besuchten Flohmärkte, wir schauten uns Kunstausstellungen an und redeten über sie. Ich gab den Menschen Tipps für Erlebnisse, die ihnen allein gehörten. (…) Das meiste, was Menschen heute zustieß, erlebten sie als Teil einer riesigen Masse; deswegen konnte man allenfalls von Konfektionserlebnissen sprechen.“
Der Ich-Erzähler, dessen Vornamen Reinhard der Leser erst gegen Ende erfährt, ist nicht der einzige Mann im neuen Roman Bei Regen im Saal von Wilhelm Genazino. Zwei weitere männliche Nebenfiguren, oder besser Nebenbuhler, beeinflussen das Schicksal des Mitte Vierzigjährigen, der oftmals schon viel älter wirkt.
Reinhard lebt in einer Zweier-Beziehung mit Sonja einer Finanzbeamtin im gehobenen Dienst. Trotz getrennter Wohnungen befindet sich ihr Verhältnis in einem festgefahrenen Zustand. Selbstkritisch erkennt er die Gefahr, die ihn ebenso beunruhigt wie die Angst von Sonja verlassen zu werden. „Wenn ich mich nicht täuschte (ich täuschte mich nicht), dann liebte sie mich, und wenn ich mich immer noch nicht täuschte (ich täuschte mich immer noch nicht), dann liebte ich sie ebenfalls. Wir hatten uns dessen schon öfters versichert, und jedes Mal freuten wir uns, dass wir unser Geständnis schon kannten.“ Während Sonja zur „Sockenaufseherin“ mutiert und der Ödnis ihres Berufs durch Weiterbildung zu entfliehen versucht, sorgt sich Reinhard, daß er „diese Duldsamkeit vielleicht nicht für alle Zeit aufbringen“ könne.
Er begegnet Frauen, die vielleicht besser zu ihm passen. Die, wie er, eine gewisse Zwiespältigkeit zeigen und eine Kultursucht, die „beim Überwinden der schnellverderblichen Zeit“ hilft. Sonja ist schließlich seine Unentschiedenheit und zunehmende Verwahrlosung leid. Sie sucht das Eheglück mit einem Bürokollegen. Doch liegt der Grund, wie Reinhard vermutet, tatsächlich an seiner prekären Berufssituation? Nach „überlangem Philosophiestudium“ verdient er im Hotelgewerbe sein Brot, während seine wahre Profession im Überwinden liegt. Dabei helfen Erinnerungen an die Kindheit, kulturelle Zerstreuung und Beobachtungen auf Spaziergängen. Die „natürliche Krankheit des Innehaltens“ macht er zur Strategie.
Ein derartiger Held, der mal als Überwinder mal als Apokalyptiker auftritt, ist erfahrenen Genazino Lesern bekannt. Ebenso wie Frauen und deren Busen, trostspendendes Essen und vielerlei Getier die Romanwelten des Autors bevölkern, über deren Zustandekommen sich in Idyllen in der Halbnatur lesen lässt, einer Sammlung von Essays, Reden und Vorlesungen. Unentschieden schlingern seine Protagonisten zwischen Sehnsucht und Erinnerung und suchen ganz im Freud’schen Gestus Halt am mütterlichen Busen. Während die Mutter als Idol verehrt wird, bleibt der Vater in negativer Unschärfe, was mich sehr an Treichels „Frühe Störung“ erinnert. Auch mit dessen Figur hatte ich Mitleid bei gleichzeitig größtem Amüsement.
Während Treichel das Individuelle beschreibt, beobachtet Genazino die Gesellschaft und entlarvt ihre Einsamkeit und Hilflosigkeit in der Normalität. Als Vergleich führt sein Held die Bilder Edward Hoppers an, die Distanz und Verlorenheit darstellen. Genazino fügt Kritik an der Spießigkeit der Normalität, am Angestelltendasein wie am Universitätsbetrieb und Provinzjournalismus hinzu.
Sein Ich-Erzähler, der zur raren Spezies des „unter Naturschutz stehenden Mangelmannes“ zählt, versucht mit Kunst und Phantasie der Gegenwart zu entfliehen, durch deren Dickicht er sich bisweilen mit „Hosentaschenkrümeln“ den Weg markiert. Doch es hilft nichts. Es scheint nur Tieren gelingt es, dem Hamsterrad des Lebens zu entfliehen, denn „kein Mensch bekommt das, was er braucht oder nur gelegentlich. (…) Kein Kind hat die passenden Eltern, keine Frau findet den Mann, mit dem sie dann wirklich leben will, überhaupt will kein Mensch dorthin, wo er hinmuss, …“
Schließlich trifft Reinhard einen einstigen Uni-Bekannten und erhält wie dieser eine Redakteurstelle bei einem Provinzblatt. Er hofft durch dieses Abweichen vom „Schlingerkurs seiner Existenz“ wieder bei Sonja zu landen, was auch gelingt. Aus dem hochsensiblen Mangelmann, dessen größte Angst es ist nicht dazu zu gehören, wird der Liebhaber einer verheirateten Frau.
In diesem neuesten Werk Wilhelm Genazinos haben mir besonders die in treffenden Sätzen geschilderten Alltagsansichten gefallen. Dennoch befielen mich bei aller Begeisterung einige Irritationen. Schon bei den Beischlafbeschreibungen, bekannt aus seinen Büchern, wusste ich manchmal nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Vielleicht ist ja genau dies die Absicht? Was ich jedoch mit dem „heimlichen“ Wunsch manchmal „KZ-Insasse“ gewesen zu sein anfangen soll, bleibt mir ebenso rätselhaft wie die durch ein „Negerkind“ ausgelöste Fleckfurcht. Vielleicht eine Stellungnahme zur unseligen Causa Preußler oder zur penetranten Politischen Korrektheit?
Es bleiben für mich offene Fragen eines lesenswerten Romans.
Wilhelm Genazino, Bei Regen im Saal, Hanser Verlag, 1. Aufl. 2014