Das Leben, wie es wirklich ist — „Grenzgang“ von Stephan Thome
„Die finale Antwort gibt es sowieso nicht, hat er früher seinen Studenten gesagt. Keine Formel, in die sich fassen ließe, was wir tun und warum. Es gibt nur die Suche und manchmal das Finden.“
Sensation Seeking ist ein Begriff aus der Persönlichkeitspsychologie. Er beschreibt die Verhaltensdisposition von Menschen, deren Wohlgefühl von stimulierenden Reizen abhängt. Dies können riskante Sportarten sein, Reisen ins Unbekannte, unkonventionelle Sex- oder Drogenerfahrungen oder auch sozial enthemmte Saufgelage. Solche Sensation Seekers sind die Hauptfiguren in Stephan Thomes Roman „Grenzgang“ nicht. Sie sind scheu zurückhaltend und suchen doch Kicks aus ihrem als langweilig empfundenen Leben. Sie begehen Kleindelikte, kaufen sich die Schränke voll, treffen Verabredungen auf Singleseiten oder erkunden einen Swinger-Club. Wer diese Art von Spannungssteigerung nicht benötigt, und das wird der Großteil der Bergenstädter sein, findet seinen Ausgleich im Grenzgang. Bei diesem Volksfest wird drei Tage lang viel gewandert und getrunken. Es bildet den Handlungsrahmen und prägt die Struktur des Romans. In seinem Sieben-Jahres-Rhythmus werden die Entwicklungen der Ereignisse und der Personen beleuchtet. Allerdings begnügt sich Thome nicht mit einer chronologischen Erzählfolge. Der Grenzgang gibt lediglich die Zeitsprünge vor, mit denen die Erinnerungen durch das Geschehen navigieren.
Bergenstadt, der Handlungsort des Romans, ist die Fiktion von Biedenkopf, einem Ort im hessischen Hinterland nahe Marburg. Stephan Thome ist dort geboren und aufgewachsen. Er kennt sich aus mit den Gepflogenheiten des Grenzgangs, aber auch mit dem Gefühl, in diesem Hinterland zu leben. Zwar liegt die Universitätsstadt Marburg nicht weit entfernt, bleibt allerdings beschaulich hinter Frankfurt und Köln zurück. Wer etwas erleben will, muss dort hin oder am besten gleich nach Berlin. Wie es ist von dort kommend in Bergenstadt zu stranden, erfahren wir wechselweise von der eingeheirateten Kerstin Werner und von Thomas Weidmann, einem Mann, der an Welt und Wissenschaft gescheitert sich auf sein Kindheitsterrain besinnt, um „ein Leben (zu) beginnen, das er nie gewollt hatte“.
Kerstin lernt 1985, beim ersten Grenzgang des Romans, der wie alle folgenden aus erzählerischen Gründen dem realen ein Jahr voraus eilt, ihren künftigen Ehemann Jürgen kennen. Oder besser ihren Ex-Mann, denn nach einem Kind und zwei weiteren Grenzgängen trennt sich das Paar. Kerstin bleibt in Bergenstadt. Sie kümmert sich um ihre demente Mutter und sorgt sich um den pubertierenden Sohn. Just auf dem Grenzgang, der das Ende ihrer Ehe besiegelt, kommt sie Thomas näher. Dieser war nach dem Aus seiner akademischen Karriere Hals über Kopf nach Bergenstadt aufgebrochen. Dort trifft er beim Erklimmen der steilsten Grenzetappe auf Kerstin. Nach dem Fest verlieren sich aus den Augen. Erst beim folgenden Grenzgang nehmen sie den Kontakt wieder auf. Es ist 2006, das Jahr der Fußballweltmeisterschaft, ein Ereignis, das Thome spöttisch streift. „Gesetze scheinen am Werk zu sein in der Art, wie die Leute plötzlich diese Weltmeisterschaft nicht feiern, sondern sich ihr hingeben, als wäre der freie Wille eine Erfindung, die der Welt noch bevorsteht.“ Dieses Jahr ist die Ausgangsbasis der Handlung, von dort folgt der Erzähler den Erfahrungen von Kerstin und Thomas.
Thome schildert das Erleben seiner Figuren sehr eindringlich. Es wird nachvollziehbar, welche Gefühle Thomas dazu treiben die Fensterscheibe des Instituts einzuwerfen, ebenso wie Kerstin den Mut zu einem Besuch beim scheuen Thomas fasst. Die Zeichnung der Figuren geschieht mit großer Empathie. Dies wird jedoch niemals gefühlig, sondern bleibt mit feiner Ironie auf dem Boden des Lebensnahen.
Dies beeindruckt mich sehr. Noch größeren Respekt verlangt die durchdachte Konstruktion des Romans. Die Fäden zwischen den Grenzgängen werden fein hin und her gesponnen, ohne wirre Knoten ergeben sie ein ausgefallenes Muster, dem man gerne folgt.
Die Geschichte endet im Jahr 2013. Den Roman beendet ein Epilog, der die wichtigste Sequenz in diesem langen Suchen und Zueinanderfinden erzählt. Ganz unsentimental aber spektakulär folkloristisch, ein überzeugender Abschluss des kunstvollen Konstrukts.
Stephan Thome befand sich mit diesem Titel 2009 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Auch in diesem Jahr war er dort vertreten mit seinem zweiten Roman „Fliehkräfte“.
Eine weitere Rezension und eine engagierte Teilnehmende Beobachtung des diesjährigen Grenzgangs findet sich bei SchöneSeiten.
Freut mich, dass dir Grenzgang so gut gefallen hat, ein kleines bisschen besser als Fliehkräfte finde auch ich diesen Roman. Interessant dein Einstieg über den Begriff der Sensation Seekers, der mir natürlich völlig unbekannt war. Wenn ich das richtig verstanden habe, würde man die Protagonisten aus Thomes Roman auf den ersten Blick nicht zu den „klassischen” Sensation Seekers zählen; wenn man dann näher hinschaut, sieht man, dass sie ihren monotonen Alltag durch kleine „Sensationen” ein wenig erträglicher machen. Eine spannende Herangehensweise an den Roman!
Hab Dank auch für die Verlinkung.
Die einzige Figur, die nicht zu dieser Gruppe gezählt werden kann,ist Kerstin. Sie hält sich weitgehend aus allem raus, weil sie sich nicht zugehörig fühlt, sei es in Bergenstadt oder im Swingerclub.
Das einzige Mal als sie die Sensation sucht, im Wettlauf auf dem Grenzgang, führt auch diese Sache zu keinem guten Ende.
Das hört sich nach einem komplexen Roman an, dessen gefühlvolle Seite mich trotz allem lockt. Denn auch, wenn mir eine Geschichte mit all ihren Verwicklungen, Rückblicken und Zeitsprüngen aus der Distanz eher verwirrend vorkommen mag, sind es die Charaktere, die mich aus der Nähe betrachtet an sie fesseln und die Stränge entwirren, aus denen eben diese Geschichte sich spinnt. So etwas braucht ein Wissen um die Gegend und das Gefühl, welches sie in einem auslöst, der dort lebt.
LG, Katarina 🙂
Überkomplex oder verwirrend ist der Roman nicht. Das Interesse an seinen Personen hat bei mir einen regelrechten Lesesog ausgelöst. Gut, daß Du noch einmal auf „die Gegend und das Gefühl” zu sprechen kommst, Katarina. Mit diesem Heimatgefühl in der verschärften Provinzvariante leben die Einen sehr gut, weil sie es mit Sicherheit und Vertrauen verbinden, und die Anderen eben nicht, für die es Langeweile und Begrenzung bedeutet.