In „Die Bagage“ ordnet Monika Helfer ihre Familiengeschichte mit Gefühl und Phantasie
„So viel geschieht, und es geschieht nebeneinander, auch wenn es nacheinander geschieht. Wie auf den Bildern von Pieter Bruegel dem Älteren. Ich habe es probiert. Ein bisschen kann ich malen. Aber ich war nie damit zufrieden. Wäre ich doch eine Musikantin! Die Grundfarben meiner Vorvergangenheit sind fast alle im Bereich von Braun. Ocker, Kuhstallwarm, die Farbe der Kuhställe ist braun. Weich. Oder gefrorene Erde, eisig und eisenhart, überzogen mit einem Eisenhauch von Grau. Mit der Zunge blieb ich an einem eisigen Morgen im Jänner an der Türschnalle hängen, angefroren, und habe mit ein Stück Haut abgerissen. (…)
Die Erinnerung muss als heilloses Durcheinander gesehen werden. Erst wenn man ein Drama daraus macht, herrscht Ordnung.“
Diese Gedanken Monika Helfers finden sich in „Die Bagage“, dem Roman, der ihre eigene Familiengeschichte zum Gegenstand hat. Sie zeigen Helfers Versuch, den Erinnerungen nahe zu kommen, die familiären Konstellationen zu erfassen, und zugleich ihre Vorgehensweise, Erzähltes mit Erdachtem zu verbinden. Eine große Rolle spielen ihre Assoziationen, die sie beim Erzählen und Beobachten befallen. Und auch beim Hören, denn in vielen Details stützt die Autorin sich auf die Erzählungen ihrer Tante Kathe, der älteren Schwester ihrer Mutter.
Deren Eltern, die Moosbruggers, Maria, Josef und zahlreiche Kinder lebten in schwierigen Umständen, die nicht nur durch die Lage im hintersten Zipfel eines Tales in den Vorarlberger Alpen bedingt war — vom Dorf einen einstündigem Fußmarsch entfernt -, sondern auch durch die Armut und die Gefahren der Zeit. Die Bagage, das Pack, wurden sie genannt. Ihre Vorfahren hatten sich einst als Träger verdingt, die Heuballen von Hof zu Hof schleppten.
Josef hingegen ist schlau genug, um mit Geschäftchen einiges zur kargen Landwirtschaft hinzu zu verdienen. Die Bagage wird dennoch kein Bestandteil der Dorfgemeinschaft, dafür umso schärfer von dieser beäugt. Vor allem da Maria und Josef, beide zur Erzählzeit gerade Mitte Zwanzig, folgt man dem Dorfpfarrer, von geradezu sündiger Schönheit sind. Noch dazu bricht der Krieg in die vermeintlich weltfernen Verhältnisse und reißt den Vater von der Familie weg. Bevor Josef ins Feld zieht, bittet er den Bürgermeister auf seine Frau und die vier Kinder aufzupassen. Doch dieser, wie alle Männer des Dorfes scharf auf die Schöne, lädt Maria schon bald zum Markttag in die Stadt ein. Dort trifft sie, nachdem sie sich erfolgreich gegen die Avancen ihres Begleiters erwehrt hat, auf Georg aus Hannover, der sie nicht nur durch sein Anderssein fasziniert, sondern, weil ihn neben ihrer Schönheit auch ihre Persönlichkeit anzieht.
Zugegeben, nach diesen ersten Szenen, hinderte mich zunächst nur das Wissen, daß es sich um eine persönliche Geschichte der Autorin handelte, daran, diese als eine schon oft gehörte Geschichte vom harten Bergbauerndasein einer Frau ohne Rechte abzutun. Vorschnell ordnete ich den Roman zwischen „Heidi“ und Seethalers rührseliger Almöhinovelle ein und legte das Buch beiseite.
Doch Wochen später musste ich es als Literaturkreis-Lektüre erneut hervorholen und habe zu meiner eigenen Überraschung die verbleibenden Seiten an einem Sonntagnachmittag verschlungen. Die Konstruktion Helfers, die Lücken in den Erzählungen der Tante mit ihren Überlegungen, mit Phantasie und Vermutungen zu füllen, weckte mein Interesse. Eine Besonderheit sind dabei die Vorgriffe. Gleich zu Beginn tritt die vierjährige Grete auf, Helfers Mutter, die während des Krieges geboren, als vermeintliches Kuckuckskind zum Movens von Helfers autobiographischem Erzählen wird. Oder der Besuch des Pfarrers, der den Aufstieg zum abgelegenen Haus in Kauf nimmt, um die schwangere Maria des Ehebruchs anzuklagen. Beide Vorgriffe erhöhen die Spannung.
Gleichzeitig handelt es sich um einen psychologischen Roman. Helfer spürt den Lebenswegen der Familienmitglieder nach und den psychologischen Folgen des Umstands in die Bagage hineingeboren zu sein. So werden neben dem Schicksal Marias, die als wortwörtlich zu nehmendes Vorbild noch vor Helfers Mutter Margarete als Hauptfigur des Romans bezeichnet werden kann, Schlaglichter auf das Weiterleben der anderen sechs Moosbrugger-Kinder geworfen. Helfer betritt dabei immer wieder die Metaebene und zeigt unmissverständlich, daß sie einen Roman und keine Biographie ihrer Familie schreibt.
Am Ende meiner Lektüre war ich, ich wage es kaum zu sagen, bewegt. „Die Bagage“ ist ein kluges Buch, auch eines über die große Liebe, die sich in der Familiensaga verbirgt. Monika Helfer zeigt darin viel über ihr Zugeständnis an die Unwägbarkeiten des Lebens und der Liebe.
Das klingt ja mal nett. Vielleicht setze ich das auch meine Weihnachtswunschliste.
Auf, natürlich. Immer toll, wenn man in zwei mageren Sätzen einen Schreibfehler bringt…
Das fällt heute doch kaum noch auf. 😉
Wunschliste? Unbedingt! Weihnachten? Auch schon wieder in sechs Monaten!