In „Der Pole“ erschafft J. M. Coetzee einen Epigonen von Homer, Dante und Goethe
„Sie kennt Margarita, seit sie als Kinder zusammen auf der Nonnenschule waren; sie hat schon immer den Elan ihrer Freundin bewundert, ihren Unternehmungsgeist, ihr selbstsicheres Auftreten. Jetzt muss sie ihren Platz einnehmen. Was genau wird es bedeuten, einen Mann bei einem flüchtigen Besuch in einer fremden Stadt auszuführen? In seinem Alter wird er gewiss keinen Sex erwarten. Doch er wird sicher erwarten, dass man ihm schmeichelt, sogar mit ihm flirtet. Flirten ist keine Kunst, die zu beherrschen sie sich je bemüht hat. Margarita ist anders. Margarita hat einen leichten Zugang zu Männern. Mehr als einmal hat sie, Beatriz, amüsiert beobachtet, wie die Freundin ihre Eroberungen betreibt. Aber sie hat nicht den Wunsch es ihr gleichzutun. Wenn ihr Gast hohe Erwartungen in Sachen Schmeichelei hat, wird er enttäuscht werden.“
Die Freundin einer Freundin erhielt unlängst von einem Mann das Angebot, eine seiner Wohnung mietfrei zu beziehen. Sie war dem Anbieter, den sie höchstens als Bekannten bezeichnen würde, erst vor kurzem begegnet. Angenommen hat sie die Offerte nicht, da sie seine eventuellen Erwartungen scheute.
Von Angeboten und Erwartungen handelt auch John Maxwell Coetzees neuer Roman „Der Pole“. Im Mittelpunkt der nur von wenig weiteren Figuren bevölkerten Geschichte stehen eine Frau und ein Mann, deren Begegnung von Beginn an eine komplizierte Konstellation ist. Von der Liebe, besonders der unerwiderten, wurde bereits unzählige Male erzählt und selbst das klingt untertrieben. Dennoch oder gerade deswegen ist Coetzees Variante äußerst spannend zu lesen. Das liegt vor allem an ihrer Form. Die 143 Seiten verteilt Coetzee auf sechs Kapitel, die Titel wie „Die Begegnung“, „Die Erklärung“, „Die Erleuchtung“, „Die Nachricht“, „Das Erbe“, „Die Ernüchterung“ tragen könnten. Sie tragen jedoch nur eine Nummer und sind in zahlreiche, ebenfalls nummerierte Absätze unterteilt, die mal zwei Zeilen und selten mehr als drei Seiten umfassen.
In diesen erfahren wir von einem Pianisten, der auf einem Konzert eine Frau kennenlernt und versucht, sich ihr anzunähern. Er stößt auf Widerstand. Weniger, weil die 49-jährige Beatriz der Altersunterschied stört. Weniger, weil sie verheiratet ist. Vielleicht stellt er es einfach ungeschickt an? Oder sie fühlt sich zu alt für die Leidenschaft? „Wenn sie jung wäre, wenn er jung wäre, könnte sie sich geschmeichelt fühlen. Aber von einem Mann, Jahrgang 1943, einem Mann, der ihr Vater sein könnte, ist seine Werbung um sie weder amüsant noch schmeichelhaft. Sie ist allenfalls geschmacklos.“
Trotzdem begeben sich ihre Gedanken noch vor dem ersten Treffen auf erotisches Terrain, was wahlweise der Ambivalenz der Figur oder dem Alter des Autors zugeschrieben werden kann. Der Autor, John Maxwell Coetzee, blickt mit seinen 83 Jahren auf ein umfangreiches durch den Nobelpreis ausgezeichnetes Werk zurück. Er lebt in Australien, als gebürtiger Südafrikaner hat er jedoch nicht nur niederländische Wurzeln, sondern auch deutsche und polnische. Seinem Polen im Roman wird eine große Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Max von Sydow zugeschrieben, der wiederum dem Autor gleicht. Ob Coetzee Klavier spielt und jemals eine Angebetete mit Chopin beglückte? Man schmunzelt bei diesen Überlegungen. Ebenso amüsant sind Beatriz” Überlegungen zu den Strapazen einer Künstlerreise. „Was ist das für ein Leben, das Leben eines reisenden Künstlers. Die Flughäfen, die Hotels, alle anders, doch alle gleich; die Gastgeber, mit denen er auskommen muss, alle anders, doch alle gleich; exaltierte mittelaltrige Frauen und gelangweilte, begleitende Ehemänner. Genug, um jeden Funken in der Seele auszulöschen.“
Es ist Beatriz, aus deren Sicht uns das Geschehen geschildert wird. Neben dieser, nicht immer zuverlässigen, personalen Erzählerin, taucht ganz zu Beginn (I. 1–5, 7) eine auktoriale Stimme auf, es ist die des Autors, der sich mit seinen Figuren plagt. E‑Mails, Briefe und Gedichte ergänzen die Handlung.
Durch Beatriz erfahren wir, daß ihr die Aufgabe, sich um den Pianisten zu kümmern, widerstrebt. Nur widerwillig springt sie ein und übernimmt die Rolle der Gastgeberin, die ihre extrovertierte Freundin Margarita doch so viel besser hätte ausfüllen können. Der Gast erwärmt sich dennoch für seine Begleiterin, die seine Annäherungen abweist. Doch nach und nach wird sie empfänglich für das Werben des alten Knaben. Die Leserin taucht in die Gedanken und Gefühle der Protagonistin ein und versteht dennoch nicht ganz, warum Beatriz‘ Blockade bricht. Die unglaublichen Vorschläge des Polen stürzen Beatriz in Unsicherheit. „Was würde es über sie aussagen, wenn sie darauf eingehen würde? Wichtiger, was sagt das über sie aus, dass der Mann erwartet, dass sie darauf eingeht?“
„Was sagt es über den Mann aus, über dessen Selbst- und Frauenbild?“, fragt hingegen die Leserin. Der Pianisten Witold, der zum Dichter wird und damit noch näher an seinen Erfinder rückt, kann kaum über Minderwertigkeit klagen. Er fühlt sich als Epigone von Homer und Dante, nicht nur, weil er endlich seine Beatrice gefunden hat. Diese leitet ihn, wenn man so will, schließlich auch ins Paradies, wo er das Röslein pflückt, deren hölzernes Pendant später als „Reliquie des geheiligten Chopins“ auftaucht. Der Pole findet seine Erleuchtung im Sex, den die Spanierin ihm als gelangweilte Caritas gewährt. Spätestens, wenn der Ort des Geschehens als eine Art Prokrustesbett beschrieben wird, stellt sich die Frage, wo dieses Liebesspiel wohl hinführt?
Vielleicht lässt Coetzee uns teilhaben an seinem erfahrenen Blick auf die Kunst und die Liebe, das Leben und den Tod? Es gelingt ihm mit Augenzwinkern, das sich nicht zuletzt bei den poetischen Ergüssen des Polen einstellt.
J. M. Coetzee, Der Pole, übers. v. Reinhild Böhnke, S. Fischer 2023